Safety-Cars killen die Spannung
Der Eifel Grand Prix war mit nur einem Training eine Reise ins Ungewisse. Trotzdem brachte er kaum Überraschungen. Eine VSC-Phase und ein echtes Safety-Car erleichterten den Strategen die Aufgabe und sorgten für Taktik-Einheitsbrei.
So unvorbereitet ist die Formel 1 schon lange nicht mehr in ein Rennen gegangen. Nachdem der komplette Freitag ins Wasser fiel, blieb den zehn Teams nur noch eine einzige Stunde Freies Training. Nach insgesamt 496 Runden ging es in die Qualifikation. Schon hier gab es entgegen aller Prognosen keine Überraschungen.
Doch Asphalttemperaturen zwischen 15 und 18 Grad und das Fehlen von Longruns ließen wenigstens für das Rennen am Nürburgring eine Reise ins Ungewisse erwarten. Doch auch da blieb die Sensation aus. Das Podium mit Hamilton, Verstappen und Ricciardo hätte es auch bei einem Dreitages-Event geben können.
Die Ingenieure hatten eine Erklärung dafür, warum auch am Sonntag Routine einzog, obwohl es viel weniger Daten gab als sonst, obwohl keiner der Strategen sich vor dem Start auf eine Taktik festlegen konnte und es keine verlässlichen Prognosen gab, wie lange die Reifen halten würden. "Die beiden Safety Cars haben uns die Entscheidung abgenommen, wann wir die Boxenstopps einlegen sollten."
Für die VSC-Phase in Runde 16 reagierten nur Lewis Hamilton, Max Verstappen und Daniel Ricciardo. "Ein Geschenk von elf Sekunden durften wir nicht ausschlagen", hieß es bei Mercedes. Im Vergleich zu einem Reifenwechsel unter Renntempo verlor man nur 10 statt 21 Sekunden.
Für neun Fahrer kam das virtuelle Safety-Car zu spät. Dafür war das Timing des echten Safety-Cars in den Runden 45 bis 49 für viele perfekt. Diesmal nutzten neun Fahrer die Neutralisation zum Reifenwechsel. Nur Charles Leclerc, Romain Grosjean, Antonio Giovinazzi. Kevin Magnussen, Sebastian Vettel und Nicholas Latifi blieben auf der Strecke. Sie hatten schon zwischen Runde 35 und 41 neue Reifen aufgezogen und wollten Positionen auf der Rennstrecke gutmachen.
Trotzdem kam es im Schlussspurt nur noch zu sieben Positionswechseln. Bei Vollgaspassagen von maximal 810 Metern war das Überholen ein Gewaltakt. Trotzdem gab es insgesamt 34 Platzwechsel auf der Piste.
Hamilton mit Verschleiß-Vorteil
Mercedes wollte mit je einem Boxenstopp über die Distanz kommen, wahrte aber wegen der ungewissen Reifensituation eine gewisse Flexibilität. "Wir wussten, dass der erste Stint schwierig werden könnte, weil die Soft-Reifen irgendwann körnen würden", erzählten die Strategen des Weltmeisterteams. Klar war: Wer vor Runde 20 stoppt, muss zwei Mal Reifen wechseln. Die Abnutzung und der Verschleiß im zweiten Stint wären zu groß gewesen. Man hätte überlebt, aber das Rennen wäre langsamer gewesen.
Hamilton legte hier den Grundstein für seinen späteren Erfolg. Er zögerte das Körnen gegenüber Bottas etwas länger hinaus. Entscheidend dafür ist nach Auskunft der Ingenieure, wie aggressiv der Fahrer in den schnellen Kurven die Vorderreifen belastet. Rutschen sie zu viel, schält es den Gummi von der Lauffläche.
Valtteri Bottas brockte sich mit seinem Verbremser ein Zweistopp-Rennen ein. Lewis Hamilton war weiter auf einer Einstopp-Strategie unterwegs, soweit sie ihn nicht gegenüber Bottas benachteiligt hätte. "Für ihn war es nur wichtig, den Abstand zu Max zu halten und so lange wie möglich im ersten Stint zu fahren. Das Ziel waren 25 Runden", erklären die Strategen den Plan.
Das alles wurde durch die VSC-Phase zur Makulatur. Um Bottas musste man sich keine Sorgen mehr machen. Ein vermuteter Schaden an der MGU-H legte den Finnen lahm. Mercedes zog das Auto mit der Startnummer 77 zurück. Man wollte nicht den ganzen Motor riskieren. "Wäre Valtteri weitergefahren, wäre er nicht in den Punkterängen gelandet. Du verlierst die komplette elektrische Leistung. Das ist über eine Sekunde pro Runde."
Mercedes plante mit einem Boxenstopp
In der Folge belauerten sich Hamilton und Verstappen gegenseitig. Sie fuhren ein separates Rennen vor dem Feld. Charles Leclerc hatte Daniel Ricciardo acht Runden lang aufgehalten, so dass schon nach einem Sechstel des Rennens eine Lücke von über 20 Sekunden zum Spitzentrio aufriss.
Damit konnten sich Hamilton und Verstappen nach dem Ausfall von Bottas alles erlauben. Draußenbleiben und den Satz Medium bis zum bitteren Ende durchschleppen. Oder doch noch einmal Reifen wechseln. Hier musste natürlich Red Bull den Anfang machen. Mercedes hätte die Führung nie freiwillig aufgegeben.
Das beantwortet die Frage, ob Hamilton ohne das Safety-Car ein zweites Mal gestoppt hätte? Die Ingenieure schütteln den Kopf: "Wir haben nur auf die Lücke zu Max geachtet und auf die Reaktion von Red Bull gewartet. Lewis hätte mit seinen Reifen durchfahren können, auch wenn es eng geworden wäre. Die Temperaturen in den Vorderreifen fielen in den letzten Runden dramatisch, deshalb gab es kein Körnen mehr. Wenn Max gestoppt hätte, hätten wir nachgezogen, sonst nicht."
"Die Situation erinnerte ein bisschen an Spa, wo Red Bull bis zum letzten Augenblick gewartet hat, um uns entweder in einen Sicherheitsstopp treiben oder mit einem ganz späten Stopp noch die schnellste Runde zu fahren ohne dass wir reagieren können. Das Safety-Car hat uns die Entscheidung abgenommen. Wir konnten es beide nicht riskieren, mit ausgelutschten Mediums in den Re-Start zu gehen. Siehe Leclerc."
Mercedes ohne Standard-Crew verwundbar
Mercedes war mit zwei Garnituren Medium in der Hinterhand flexibler als der Verfolger. Für Verstappen war nur noch hart oder Soft im Angebot. Den harten Reifen probierten nur Ferrari und Haas. "Den hätte Red Bull nie angerührt", war man sich bei Mercedes sicher. Es gab ja keinerlei Erfahrung aus den freien Trainingssitzungen.
Verstappen hätte also bei zwei Stopps und einem normalen Rennverlauf auf den Soft-Reifen zurückgreifen müssen. "Deshalb musste er mindestens bis Runde 38 oder 40 kommen, damit die Restdistanz auf den weichen Gummis nicht zu lang würde. Lewis war mit einen Satz Medium als Reserve in der Länge des letzten Stints flexibler."
Bei Mercedes wunderte man sich am Kommandostand, warum der Gegner nicht das Heft in die Hand nahm. Ein zweiter Stopp von Verstappen hätte Hamilton eine Reaktion aufgezwungen, auch wenn der Rückstand in Runde 38 bei 8,3 Sekunden lag.
"In ihrer Situation hätte Red Bull alles tun müssen, um Druck auf uns auszuüben. Sie wussten vom ersten Boxenstopp, dass sich ihre Reifen schneller aufwärmen würden als unsere. Unser Vorsprung ist von fünf auf 2,5 Sekunden geschrumpft. Außerdem hatten wir wegen der Corona-Fälle im Team nicht unsere Standard-Boxencrew dabei. Da kann immer etwas schiefgehen. Wir würden immer die vermeintliche Schwäche des Gegners attackieren."
Ricciardo im Dilemma
Im Mittelfeld bestimmten der Speed und die Defekte die Positionen, nicht der Zeitpunkt der Boxenstopps. Daniel Ricciardo nahm dankend alle Geschenke an, die ihm die beiden Neutralisationen boten. Racing Point wartete mit Sergio Perez stur bis Runde 28. Der neue WM-Dritte richtete seine Boxenstopps nach McLaren und nicht nach Ricciardo aus. Der Renault-Pilot war zu schnell.
Trotzdem hätte man ihn vielleicht knacken können. Wegen des frühen Stopps in der 16. Runde befand sich Ricciardo in einem Dilemma. Durchfahren mit der Gefahr, dass die Reifen einbrechen oder ein zweiter Stopp und die Position auf der Strecke aufgeben.
In der 35. Runde fühlte sich Ricciardos Vorsprung von 15,8 Sekunden auf Perez noch ganz komfortabel an. Fünf Runden später betrug das Delta nur noch 12,2 Sekunden. Perez glaubt, dass er den Renault noch einholen hätte können. "Aber Überholen hätte auf einem anderen Blatt gestanden."
Ricciardo bereitete sich bereits auf ein spätes Duell mit dem Mexikaner vor. "Ich habe lieber das ein oder andere Zehntel hergeschenkt und dafür meine Reifen für ein Duell am Ende des Rennens geschont."
Das Safety-Car nahm Renault die Entscheidung ab. Ricciardo wusste zuerst nicht, ob er sich freuen oder ärgern sollte. "Einerseits hat mir das Safety-Car den ganzen Vorsprung auf Perez geklaut, andererseits hat es mich auf die gleichen Reifen wie Sergio gestellt."
Carlos Sainz hatte nie eine Chance in den Kampf um den dritten Podiumsplatz einzugreifen. Er stoppte wie Perez in Runde 28 und in der Safety-Car-Phase. Da er hinter ihm ins Ziel kam, kann das nur heißen, dass der McLaren-Pilot einfach langsamer war.
Der Spanier musste sich in der letzten Runde sogar noch nach hinten orientieren. Pierre Gasly lag mit 0,8 Sekunden Rückstand formatfüllend in seinem Rückspiegel. Der Alpha Tauri-Pilot wurde erst durch die Safety-Car-Phase ein Kandidat für die Top 5. Die half ihm eine Lücke von 15 Sekunden zu schließen.
Haas kann nur mit Risiko punkten
Die Gruppe im Kampf um die Plätze sieben bis zwölf trug ein eigenes Rennen aus, weit hinter Ricciardo, Perez, Sainz und Gasly. Den Ferrari diktierten Reifenprobleme das Timing der Boxenstopps. Charles Leclerc profitierte weder von der VSC-Phase noch vom Safety-Car.
Schlimmer noch: Der Monegasse ging mit 15 Runden alten Medium-Reifen in den Re-Start. Nach sechs weiteren Runden war der Reifensatz platt. Gasly ging mühelos vorbei. Nico Hülkenberg fehlten nur 1,7 Sekunden. Dabei war der Stroll-Ersatz von ganz hinten gestartet und Leclerc von Platz vier.
Racing Point lotste seinen Edelreservisten gut durch den Verkehr. Der erste Boxenstopp in Runde 29 warf Hülkenberg von Platz neun auf Rang 14. Nur acht Runden später lag der Blondschopf wieder in den Punkterängen. Da blieb er dann auch. Das Safety-Car war weder nützlich noch hinderlich. Alle, die vor Hülkenberg lagen und noch einen zweiten Stopp brauchten, waren zu weit weg. Gegen die Verfolger sicherte sich Hülkenberg mit einem frischen Satz Soft ab.
Romain Grosjean und Antonio Giovinazzi waren dabei nicht wirklich eine Gefahr. Sie versuchten auf alten Medium- und noch älteren harten Reifen zu überleben und erfüllten ihre Aufgabe, Sebastian Vettel und Kimi Räikkönen bei ihrer Aufholjagd aufzuhalten.
Grosjeans neunter Platz ist eine Randnotiz wert. Der Haas-Pilot war nach der ersten Runde Letzter, er überholte kein einziges Auto, aber er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Grosjean wechselte kurz vor Halbzeit von Medium-Reifen auf die unbekannten harten Sohlen. Die Ausdauer spülte den Franzosen ab der 43. Runde in die Punkteränge.
Das Safety Car war nicht wirklich eine gute Nachricht für ihn. Haas wollte, dass Grosjean die einmal gewonnene Position auf der Strecke behält und sich mit dem Mut der Verzweiflung beim Re-Start gegen alle anderen auf frischeren Reifen verteidigt.
Was unmöglich schien, klappte. Es war Grosjeans größte Tat, die harten Reifen für den Re-Start auf Temperatur zu bringen. Hinterher lobte er seine Strategen: "Wir haben nicht den Speed für WM-Punkte. Wir müssen Risiken gehen und gegen den Strom schwimmen. Für uns kann gar nichts Besseres passieren, wenn alle mit so vielen Unbekannten in ein Rennen gehen."