Hamilton Favorit – und vorzeitig Weltmeister?
Sieben Mal gastierte die Formel 1 in Istanbul, zuletzt 2011. Damals hieß der Sieger Sebastian Vettel. Neun Jahre später steht Lewis Hamilton dicht vor seiner siebten Weltmeisterschaft. In unserer Vorschau versorgen wir Sie mit den letzten Infos vor dem Comeback des GP Türkei.
Es ist nur eine Formsache. Lewis Hamilton reist mit drei Siegen in Serie und einem Vorsprung von 85 Punkten zum viertletzten Saisonrennen. Bis jetzt hat der WM-Führende auf allen neuen Rennstrecken, die wegen der Corona-Krise in den Rennkalender rutschten, gewonnen. In Mugello, am Nürburgring, in Portimao und in Imola.
Mit der Türkei steht der nächste Rückkehrer auf dem Programm. Im Intercity Istanbul Park haben drei Fahrer aus dem aktuellen Feld schon einmal gewonnen. Kimi Räikkönen 2005, Hamilton 2010 und Sebastian Vettel 2011. Danach flog die Türkei aus dem GP-Kalender. Beim Comeback gibt es einen großen Favoriten. Der neunmalige Saisonsieger Hamilton ist heiß auf den zehnten Erfolg – und den siebten WM-Titel.
Um die Hamilton-Party aufzuschieben, muss Valtteri Bottas mindestens acht Punkte mehr einsammeln als der Teamkollege. Das würde der Finne machen, wenn er neben dem Rennsieg auch die schnellste Runde einstreicht. Dann könnte Hamilton als Zweiter maximal 18 Punkte holen. Red Bull spielt bei der Vergabe keine Rolle mehr. Trotzdem hat der Rennstall einen Grund zu feiern. Red Bull bestreitet am Wochenende seinen 300. Grand Prix. Der zweite Jubilar ist Sauber. Die Schweizer Mannschaft feiert die 500. GP-Teilnahme.
Die Fans werden das Rennen nur vor den TV-Bildschirmen verfolgen. Eigentlich hätten etwa 100.000 Zuschauer auf den Tribünen sitzen sollen. Doch die Verschärfung der Corona-Krise sorgte für ein Umdenken bei den Behörden.
Die Strecke: Intercity Istanbul Park
Zwischen 2005 und 2011 war Istanbul Stammgast der Formel 1. Die Rennstrecke befindet sich etwa eine Stunde östlich der Stadt – auf der asiatischen Seite der Metropole. Viele sagen, die 5,338 Kilometer lange Rennstrecke sei einer der besseren Entwürfe von Streckenarchitekt Hermann Tilke.
Sie hat 14 Kurven, sechs davon rechts herum und acht nach links. Davon gleich mal die erste, die ein wenig an das Senna-S von Sao Paulo erinnert. In Istanbul wird wie in Imola gegen den Uhrzeigersinn gefahren. Der Kurs hat Charakter. Highlight ist Kurve acht, eine Highspeed-Links mit gleich vier Scheitelpunkten.
Wir nehmen Sie mit auf eine schnelle Runde im Istanbul Park. Auf der Zielgerade dürfen die Fahrer den Heckflügel aufklappen. Es ist eine von zwei DRS-Zonen. Die zweite liegt auf der langen Gegengerade zwischen Kurve zenh und zwölf. Die erste Kurve ist gleich mal eine Herausforderung. Die Fahrer lenken steil bergab in eine blinde Linkskurve, die am Ausgang zuzieht.
Danach geht es rechts herum, bis oben am Hügel plötzlich eine Linkskehre auftaucht. Die anschließende Rechtskurve führt bergab. In der Senke befindet sich eine Doppellinks: langsam rein, schnell raus. Auf dem Weg zu Kurve sieben fällt die Gerade erst ab, um vor dem Bremspunkt wieder leicht anzusteigen. Jetzt wird es schnell. Es geht erst bergauf und dann in Kurve acht.
Die modernen Formel 1.Autos sollten den Linksknick mit Vollgas durchfahren. Simulationen sagen voraus, dass die Fahrer hier über etwa sechs Sekunden Belastungen von mehr als 3g ausgesetzt sein werden. Pirelli bangt um den rechten Vorderreifen. Die Belastung für die Reifen auf der rechten Fahrzeugseite dürfte zwischen 30 und 40 Prozent höher sein als noch vor neun Jahren.
Auf eine kurze Gerade folgt eine Schikane. Danach beschleunigen die Autos über die Gegengerade. Die Kurve dazwischen ist nur eine auf dem Papier. Der letzte Streckenteil ist der langsamste. Drei langsame Kehren, die zwischen 85 und 100 km/h schnell sind, brechen ein wenig mit dem zuvor flüssigen Layout und ebnen den Weg zurück auf die Zielgerade.
Fast Facts Istanbul
- Streckenlänge: 5,338 Kilometer
- Rennrunden: 58
- Renndistanz: 309,396 Kilometer
- Anzahl Kurven: 14 (6 rechts, 8 links)
- Distanz Pole bis erste Bremszone: 210 m
- Länge Boxengasse unter Speed-Limit: 385 m (ca. 17,3 Sek. Durchfahrtszeit)
- Vollgasanteil (Rundenzeit): 66 Prozent
- Pirelli-Reifen: C1, C2, C3
- DRS-Zonen: 2 (Zielgerade, Gegengerade.
Das Setup
2011 erzielte Sebastian Vettel im Red Bull die Pole Position mit einer Rundenzeit von 1:25.049 Minuten. Mercedes erwartet, dass die Autos in diesem Jahr rund vier Sekunden schneller sein werden auf eine Runde. Sie haben mehr Abtrieb und die V6-Turbomotoren mehr als 100 PS mehr Leistung als die V8-Sauger damals. Allerdings darf DRS nur zwei Mal an festgeschriebenen Orten aktiviert werden. Anders als 2011, als die Fahrer den Flügel unbegrenzt öffnen durften. Angesichts des deutlich höheren Anpressdrucks prophezeit McLaren-Technikchef James Key. "Manche der langsamen Kurven werden zu mittelschnellen." Mehr Abtrieb gleich höhere Kurvengeschwindigkeiten.
Das spricht zunächst einmal dafür, viel Flügel zu fahren. Damit würde man in der Theorie auch die Reifen besser schonen. Pirelli stuft den Istanbul Park als eine reifenmordende Rennstrecke ein – wegen Kurve acht und wegen der vielen Beschleunigungsphasen, die Traktion erfordern und die Hinterreifen fressen. Allerdings sei Istanbul weniger hart zu den Reifen als etwa Silverstone oder Spa.
Andererseits leidet bei zu viel Flügel die Höchstgeschwindigkeit. Und man könnte zu Freiwild werden auf der langen Gegengerade, die auch noch bergauf führt. Deshalb werden die Teams nach einem Kompromiss suchen. Dafür haben sie am Rennwochenende vier Stunden Zeit. Im Gegensatz zu Imola verfolgt die Formel 1 wieder den gewohnten Ablauf mit zwei Trainings am Freitag und einem am Samstagvormittag.
Pirelli war bei der Reifenwahl konservativ. Man bringt die härtesten Reifensorten C1 bis C3. Ein Grund dafür ist neben den hohen Quer- und Längskräften, die auf die Reifen wirken, auch der Asphalt. Der Untergrund wurde vor der Rückkehr erneuert. Niemand weiß genau, wie sich der neue Asphalt verhalten wird. Es gibt dazu keine präzisen Daten.
Fraglich ist, ob der zuvor recht wellige Boden – speziell in Kurve acht – geglättet ist. Sollte dem so sein, können die Autos tiefer eingestellt werden. Erinnern wir uns an Portugal. Da war der neue Belag sehr glatt, was dazu führte, dass kaum ein Fahrer Vorder- und Hinterreifen gleichzeitig ins Arbeitsfenster bekam. Das könnte auch in der Türkei blühen. Ein Rahmenprogramm wird es nicht geben. Deshalb dürfte es lange dauern, bis die schmutzige Strecke ausreichend Haftung bietet.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie belastend die Rennstrecke für die Reifen ist. Vettel gewann 2011 mit einem Vier-Stopp-Rennen. Insgesamt zählte Reifenlieferant Pirelli 80 Boxenstopps damals.
Upgrades
Zu diesem späten Zeitpunkt der Saison verschwendet kein Team mehr Windkanalzeit für das 2020er Auto. Alle entwickeln bereits für 2021, wenn neue Regeln für Unterboden, hintere Bremsbelüftungen und Diffusor zu Abtriebsverlust führen. Das heißt aber nicht, dass wir keine neuen Teile sehen könnten. Was es jetzt noch an die Rennstrecke schafft, wurde vor Wochen im Windkanal getestet.
McLaren will auch in den letzten Saisonrennen den MCL35 weiter aufrüsten. Da werden die Beobachter ein Auge drauf haben, um mögliche Upgrades ausfindig zu machen. Gleiches gilt für Red Bull.
Die Favoriten
Wir wiederholen uns. Mercedes hat das schnellste Auto – auf eine Runde und über die Distanz. Das flüssige Layout mit vielen mittelschnellen und schnellen Kurven sollte dem W11 besonders schmecken. Der einzige Herausforderer ist Max Verstappen. Red Bull will endlich den zweiten Saisonsieg. Dafür müsste Mercedes wohl aber schwächeln.
Im Mittelfeld wird es spannend. Wie immer eigentlich. Istanbul könnte mit seinen Kurven eine Strecke für McLaren sein. Sofern man im langsamen Schlussteil mit drei engen Kurven nicht zu viel Zeit verliert. Dort sollte Renault glänzen. Über den Franzosen schwebt ein Fragezeichen. In zwei der letzten drei Rennen landete Daniel Ricciardo auf dem Podest. Nur in Portimao nicht. Da schwächelte Renault auf dem neuen Asphalt. Mal sehen, ob der Werksrennstall mit dem frischen Teer in Istanbul besser zurechtkommt.
Racing Point hat im Mittelfeld das Auto mit dem meisten Abtrieb – und den stärksten Motor. Das spricht einerseits für den Rennstall aus Silverstone. Auf der anderen Seite sind mittelschnelle Kurven bislang nicht das bevorzugte Jagdgebiet des RP20. Im Renntrimm war Racing Point in den letzten Wochen eine Bank. Man stolperte über Strategiefehler oder schlechtere Startplätze. Technikchef Andy Green kokettierte deshalb zuletzt mit einem neuen Ansatz: mehr Fokus auf die Qualifikation. Andererseits sollte man in Istanbul deutlich einfacher überholen können als noch in Imola.
Die letzten Wochen haben gezeigt, dass man weder Ferrari noch Alpha Tauri vernachlässigen darf. Beide haben das Potenzial, das Mittelfeld anzuführen – sofern sie das Setup und die passende Aerodynamik-Konfiguration finden. Deshalb: Wir werden erst in der Qualifikation sehen, wer das schnellste Auto im Mittelfeld hat. Und erst im Rennen, wer über die Distanz am besten mit den Reifen umgeht.
Zeitplan GP Türkei
Istanbul ist uns zwei Stunden voraus. Das erste Training startet bereits um neun Uhr deutscher Zeit. Das Qualifying um 13 Uhr. Und das Rennen sogar um 11.10 Uhr.