Wenn der Segen zum Schaden wird
Das Feld rückt immer näher zusammen. So erfreulich das in der Qualifikation am Samstag ist, so kontraproduktiv kann es im Rennen am Sonntag sein. Am Red-Bull-Ring gab es ungewöhnlich wenig Überholmanöver.
Es ist eine alte Weisheit des Motorsports. Stabile Reglements stauchen das Feld zusammen. Weil die Top-Teams irgendwann an Limits kommen und die Kleinen über die Zeit den Rückstand aufholen, den sich die Großen anfangs durch mehr Geld und mehr Leute kaufen. Das aktuelle Reglement ist seit 2017 einigermaßen stabil. Damals wurden die breiten Autos und breiten Reifen eingeführt. 2019 änderte die FIA die Regeln für Front- und Heckflügel, 2021 für den Unterboden rund um die Hinterräder und den Diffusor.
Im fünften Jahr dieser Fahrzeuggeneration sind die Abstände zwischen der Spitze und dem Ende des Feldes so klein wie schon lange nicht mehr. Auf den Kilometer verliert ein Haas-Pilot rund vier Zehntel auf den besten Red Bull. Bei den beiden Österreich-Rennen betrug der Zeitunterschied im Q1 zwischen Platz 1 und Rang 20 beim ersten Mal 1,703 und beim zweiten Mal 1,702 Sekunden. Im Q2 schrumpfte das auf 0,716 respektive 1,156 Sekunden. Im Q3 trennten nur noch 0,867 und 0,898 Sekunden die Top Ten. Das deckt sich mit den Werten in Paul Ricard, wenn man das in Relation zur größeren Streckenlänge setzt.
Zeitabstände im Q1, Q2 und Q3
Das kompakte Feld beschert uns spannende Qualifikationen. Zwei Zehntel können bis zu sechs Startplätze ausmachen. Eigentlich genau das, was der Fan will. Doch will er das wirklich? Mit der aktuellen Fahrzeuggeneration schlägt der Segen vom Samstag in einen Schaden am Sonntag um. Wenn das Überholen generell schwierig ist, dann sind enge Abstände ein Spannungskiller.
Am Red-Bull-Ring hätte man ein Rundenzeiten-Delta von 0,9 Sekunden gebraucht, um eine 50-prozentige Überholchance zu haben. Nicht nur die Rundenzeiten, auch die Top-Speeds gleichen sich immer mehr an. Die Leistung der Motoren bewegt sich im Zweiprozentbereich, und inzwischen haben alle genug Erfahrung mit diesen Autos, dass sie ähnliche Abtriebsniveaus fahren.
So wurde beim GP Steiermark nur 27 Mal, eine Woche darauf nur 25 Mal überholt. Und das obwohl der Kurs in der Steiermark drei DRS-Zonen bietet und die Schönberggerade mit einer langsamen Kurve beginnt und mit einer langsamen aufhört. Also die ideale Konstellation.
Früher einmal war der Red-Bull-Ring ein Garant dafür, dass viel überholt wird. Das hat sich mit den Jahren geändert. Das zweite Spielberg-Rennen 2020 war mit 47 Überholmanövern fast schon ein Ausreißer. Das lag zum Großteil daran, dass Regen in der Qualifikation für eine durchmischte Startaufstellung gesorgt hatte. Das wurde am Renntag auf trockener Piste wieder richtiggestellt.
Zu gute Reifen für Zweikämpfe
Das zweite Problem der beiden Spielberg-Rennen war, dass die Reifen kaum abgebaut haben. Dummerweise kamen im ersten Rennen bei 52 Grad Asphalttemperatur die härteren Mischungen zum Einsatz. Als Pirelli seine drei weichsten Reifensorten auspackte, fiel die Temperatur auf dem Streckenbelag auf 36 Grad. Anders herum wäre besser gewesen.
Das Beispiel zeigt, dass Rennfahrer oft schlechte Ratgeber sind, wenn es um die Frage geht, wie man die Rennen besser macht. Sie wünschen sich Reifen, mit denen man von der ersten bis zur letzten Runde attackieren kann. Gleichzeitig wünschen sie sich aber auch mehr Zweikämpfe. Das eine schließt das andere praktisch aus.
Das Einstopp-Rennen war an beiden Österreich-Wochenenden eindeutig die beste Option. Wenn alle das gleiche machen, besteht wenig Hoffnung auf Positionswechsel. Dazu kam, dass nur vier Fahrer beim zweiten Rennen die C5-Mischung überhaupt angerührt haben. Der weichste Gummi im Angebot erwies sich prompt als Niete.
Pierre Gasly, Yuki Tsunoda, Sebastian Vettel und Lance Stroll fielen nach den frühen Boxenstopps tief ins Feld zurück, konnten sich aber von dort mit Ausnahme von Gasly nicht so richtig nach vorne arbeiten, weil der Unterschiede zwischen gebrauchten Medium-Reifen und frischen harten Sohlen zu gering waren.
Bei zwei Grands Prix innerhalb einer Woche auf der gleichen Strecke besteht außerdem die Gefahr, dass die Teams beim zweiten die Fehler des ersten vermeiden. Ein weiterer Schritt hin zur Gleichstellung. Da half es in Paul Ricard, dass dort 2019 zuletzt ein Grand Prix stattgefunden hat. Auf der Mistralgerade blies ein strammer Gegenwind, der den DRS-Vorteil verstärkte. Im Feld kam es zu starken Verschiebungen, weil Ferrari am Renntag abstürzte, McLaren und Aston Martin dank gutem Reifenmanagement nach vorne fuhren.
Hoffnung auf die 2022er Autos
Ein kompaktes Feld muss nicht unbedingt eine Prozession auf der Rennstrecke nach sich ziehen. Wenn die Reifensorten große Unterschiede in der Rundenzeit und in der Abnutzung bieten, wenn es keine eindeutig beste Taktik gibt, dann reicht das für viel Bewegung im Feld aus. In dem Sinne wäre es wirklich besser, Pirelli biete für alle Rennen seine fünf Mischungen an und überlässt es den Teams, wie sie ihre 13 Garnituren zusammenstellen.
Der erfolgreichste Treiber für Unterschiede im Rennen ist die Unsicherheit. Je schlechter die Vorbereitung, desto besser für das Rennen. Die Verkürzung der Trainingszeit hat mehr gebracht als es den Anschein hat. Weil ihre Longruns am Freitag weniger Aussagekraft haben. Noch besser wäre es den Teams die Telemetriedaten vorzuenthalten. Und ihnen die Simulatoren zu verbieten.
Das größte Überholproblem soll im nächsten Jahr abgeschwächt werden. Dann soll es leichter werden, anderen Autos zu folgen. Damit würde das Delta sinken, das nötig ist, um eine Überholchance zu haben. Wenn man sich in der Kurve vor einer Gerade ohne störende Turbulenzen anders positionieren kann als der Vordermann, dann reichen schon ein paar Zehntel aus.
Lewis Hamilton hatte auf dem Papier nur eine 20-prozentige Überholchance gegen Lando Norris, und er hat es trotzdem geschafft. Weil er in der Vorbereitung auf das Manöver in Kurve 3 höher anfahren, die Linie des McLaren kreuzen und so früher beschleunigen konnte.