Premium made in China?
Der Nio EL6 will mit kraftvollem Antrieb und einem wechselbaren Akku punkten, der XPeng G9 mit mächtigen 300 Kilowatt am Schnelllader. Welcher Chinese gewinnt das Duell?
Wenn es darum geht, Elektroautos möglichst zeiteffizient mit Energie zu versorgen, bietet Nio als einziger Hersteller ein Konzept mit austauschbaren Akkus. In Deutschland stehen 17 Stationen, die jeweils 13 Akkus vorhalten. Im Versuch mit dem EL6 -Testwagen dauerte der Wechsel fünf Minuten und funktionierte von der Buchung per Navi bis zur automatischen Schrauberei problemlos und ohne menschliche Unterstützung. Die Wartezeit? Nicht eine Sekunde, da keine anderen Nio vor Ort waren.
XPeng geht einen anderen Weg –das Ausreizen der 800-Volt-Technologie, die besonders schnelles Laden unterstützt. Nach dem produktgepflegten Porsche Taycan knackt nun auch der XPeng G9 zumindest für kurze Zeit die 300-Kilowatt-Grenze, im Mittel lädt er mit durchschnittlich 213 kW von 10 auf 80 Prozent. Mit diesem ziemlich guten Wert erreicht er dennoch nicht das beeindruckende Niveau des Taycan: Der druckbestromt sein Akkupaket im Schnitt mit 262 Kilowatt. Und der Nio? Mit der neuen Akkugeneration schafft er 140 kW.
Ladekurven und -zeiten stehen im Kasten auf Seite 82, in dem wir die Ergebnisse auch in Kontext zu den Verbräuchen setzen. Der Nio benötigt mit dem großen 100-Kilowattstunden-Akku im Testmittel 27,0 kWh/100 km, die Reichweite beläuft sich auf 366 km. Der XPeng speichert 2 kWh weniger, erreicht jedoch mit einem geringeren Energiebedarf von 25,7 kWh 404 Kilometer.
Mehr Kofferraum im XPeng
Für lange Reisedistanzen bietet der G9 seinen Passagieren mehr, beispielsweise einen mit 660 zu 579 Litern größeren Gepäckraum. Unsere Quadermaßmessungen bescheinigen ihm 16 cm mehr nutzbare Länge als im Nio – um das zu visualisieren, liegt für die Fotos derselbe Koffer in beiden SUV. Das Premium-Paket für 3.960 Euro umfasst bequeme Nappaledersitze und Massagefunktionen auch auf den äußeren Fondplätzen, deren Beinauflagen elektrisch verstellbar sind. Die Polster sind bequemer als im Nio, die Lehnen lassen sich sehr weit neigen, aber nicht richtig aufstellen.
Die Vordersitze im XPeng bieten eine deutlich bessere Abstützung als jene im Nio. Hier vorn gibt es zwei Ladepads für Smartphones, aber der Beifahrer dürfte seinen eigenen Bildschirm besonders spannend finden. Auf ihm laufen viele Multimedia-Apps wie Netflix oder YouTube, von denen der Fahrer wegen eines Privacy-Filters nichts sieht. Je nach Tonspur hört er aber mit Dolby Atmos codierten 3-D-Sound, die vorinstallierte Demo setzt auch die Deckenlautsprecher effektvoll ein. Voraussetzung dafür ist erneut das Premium-Paket, das auch die Dynaudio-Anlage enthält.
Die Fondkopfstützen des G9 sind nicht versenkbar und nehmen deshalb große Teile des Rückspiegelbilds ein. Nach vorne siehst du ordentlich, wobei die A-Säulen nicht gerade schmal sind. Beim Rangieren helfen die vielen Kamera-Ansichten, ein Blick auf die Fahrzeugseiten existiert, einer auf die Vorderräder fehlt.
Weitere Unterstützung verspricht die aktive Spurführung, die solide lenkt, wenngleich sich das Lenkrad ziemlich oft bewegt. Allerdings sind maximal 130 km/h einstellbar, und du wirst permanent aufgefordert, das Lenkrad leicht zu bewegen, weil eine kapazitive Handerkennung fehlt. Im Ergebnis bleibt die Funktion schnell ungenutzt.
Eigenartige Lenkung
Beim Selbstlenken wird die Servounterstützung auf der Autobahn derart stark zurückgefahren, dass ein unharmonisches Lenkgefühl entsteht. Innerorts und über Land läuft die indirekte Lenkung weitgehend flüssig, überträgt aber keine verwertbare Rückmeldung.
Immerhin folgt der XPeng Lenkbefehlen etwas präziser als der gemütlich veranlagte Nio. Mit seinem Heckantrieb versucht der G9 sogar für ein wenig Agilität zu sorgen – das ESP hackt jedoch grobschlächtig rein, bevor Fahrspaß entstehen kann. In der Spur wird der XPeng zuverlässig gehalten, beim Anhalten hapert es jedoch: 100 auf 0 km/h in 38,7 Metern mit kalter Anlage sind lange nicht mehr zeitgemäß. Der Nio verzögert in 36,2 Metern, was ganz okay ist.
Auch beim Tempoaufbau unterliegt der XPeng dem Doppelmotor-EL6, der bis zu 490 System-PS generiert. Mit seinem 313-PS-Heckmotor zieht der G9 zwar mehr als schnell genug durch, erreicht im unteren Geschwindigkeitsbereich aber nie den beachtlichen Punch, den der EL6 im Sport-Plus-Modus raushaut. Obenrum sind die Unterschiede subjektiv wie objektiv überschaubarer: 100 auf 180 km/h in 12,5 zu 9,7 Sekunden.
Touchen, touchen, touchen
Gemeinsamkeiten finden sich etwa bei den Rekuperationskonzepten, die hier wie dort a) keinen Einpedalmodus bieten und b) über die Touchscreens eingestellt werden – so wie die allermeisten Funktionen. In beiden Autos genügt je nach Menü ein versehentlicher Touch, und du knipst ohne Rückfrage des Systems die Scheinwerfer aus. Lenkrad und Spiegel einstellen? Touchmenü öffnen, anwählen, per Lenkradtasten justieren. Lenkradheizung und Sitzklima? Touch. Luftausströmer? Menü aufrufen, zurechtwischen. Klimatemperatur? Touch. Wobei: Wenn im G9 der Tempomat inaktiv ist, kannst du Lüfterstärke und Temperatur per Lenkradwalze und Tasten steuern.
Eine derart touchlastige Bedienung nervt schnell und wirkt immer etwas wie eine Sparmaßnahme. Wobei beide Chinesen durchaus schick gemacht sind, mit weitgehend sorgfältiger Verarbeitung und viel Leder. Dort, wo der Nio im unteren Bereich einfaches Plastik zeigt, klebt im XPeng sogar meist noch mehr Leder.
Nio rollt weicher ab
Den höheren Federungskomfort bietet hingegen der adaptivgedämpfte Nio. Zwar nickt er über Bodenwellen auch mal ausgeprägter, dafür nimmt er viele Straßenschäden erheblich weicher. Unbequem ist es im G9 deshalb nicht, außerdem rollt er auch nur auf kleinem Besteck: Vorne hat er zwar Doppelquerlenker, aber nur die Allradversion steht auf Zweikammer-Luftfedern statt auf Stahlfedern.
Weitere Komfortvorteile des EL6? Schiebedach-Fans werden auf die weite Öffnung zeigen. Ansonsten funktioniert die aktive Spurführung mit kapazitiver Erkennung ordentlich, und die ebenfalls kommunikationsscheue Lenkung ist etwas direkter abgestimmt. Zudem stecken in der Front Matrixscheinwerfer, die mit teilweise dunklen Streifen im Lichtkegel zwar deutlich unter dem Machbaren bleiben, aber dennoch Vorteile in der Gesamtausleuchtung bieten. Ein saubere Darstellung erzielt das Head-up-Display, das in der Ausstattungsliste des G9 fehlt.
Der XPeng kontert mit einem größeren Fahrerdisplay, der leiseren Kabine und einem Frunk. Anders als der EL6 soll er außerdem Apple CarPlay und Android Auto unterstützen, was im Testzeitraum jedoch nicht der Fall war. Auch muss der G9 noch zum Sprachkurs, denn Deutsch spricht er bisher nicht.
Damit verschenkt er Potenzial in der Eigenschaftswertung, die der Nio EL6 gewinnt. Im Umweltkapitel und in der Kostenwertung aber holt der Vergleichstest-Debütant G9 noch auf und schnappt sich so auf der Zielgeraden den Gesamtsieg im Made-in-China-Duell.