Lancia Y 1.4 LX

Mit mutigem Design und ungewöhnlicher Farbenvielfalt bekennt
sich der neue Lancia Y zur extravaganten Firmentradition. Besonders
das 75 PS starke Topmodell will eher Kleinod als Kleinwagen
sein.
Seit Outing Mode ist, drängt es die modebewussten Italiener zu mutigen Bekenntnissen. Mit mediterraner Leichtigkeit werfen sie den Rest braver Konvention ab, um lustbetonter Sinnlichkeit und Individualität zu huldigen. Vorreiter spielt wie üblich die junge Generation, doch der Drang zur Extravaganz kennt keine Grenzen. Nach der Konzernmutter Fiat und der sportlichen Tochter Alfa Romeo schickt sich nun auch die feine Verwandtschaft aus dem Haus Lancia an, die Tyrannei der Norm zu stürzen. Weil außergewöhnliche Technik selten gewünscht und noch seltener honoriert wird, sucht der Nachfolger des zehn Jahre alten Y10 die Eigenständigkeit der Form. In der Tat: Ein Kleinwagen- Design von der Art des Y hat es seit dem Renault Twingo nicht mehr gegeben. Zu dessen One-Box-Design mochten sich die Verantwortlichen des Lancia Centro Stile jedoch nicht entschließen. Auf der modifizierten Plattform des Fiat Punto entstand eine zweitürige Steilheck-Karosserie, die zum Gros unauffälliger Konkurrenten stilsichere Distanz hält. Bögen und Ellipsen sind auf wundersame Weise jener gespannten Linie zugeordnet, die – von einer schwarzen Stoßleiste betont – oberhalb der Radhäuser rund um das Auto läuft und die Vielfalt formaler Elemente optisch vereint. Vom Vorgänger – das wird schon beim ersten Augenschein deutlich – unterscheidet ihn aber nicht nur das ungewöhnliche Design. Aus dem Einkaufswagen Y10, der die Herzen der Frauen außer mit modischem Chic auch mit Kürze und Handlichkeit gewann, ist ein vollwertiges Allroundauto geworden, ohne seine bewährten Tugenden preiszugeben. Mit einer Länge von 3,72 Metern hat der Y exakt 30 Zentimeter zugelegt und zum Maß des Opel Corsa aufgeschlossen, den er in der Breite sogar um acht Zentimeter überragt.
Das macht ihn zum echten Viersitzer, in dem sich Erwachsene selbst auf der Rückbank gut aufgehoben fühlen. Große Glasflächen und die üppige Innenbreite lassen fast den Eindruck entstehen, in einem Mittelklasse- Wagen zu sitzen. Immerhin sichern der lange Radstand (2,38 Meter) und das weit nach hinten gezogene Dach eine Bewegungsfreiheit, die es auch mit dem anerkannt geräumigen Konzernbruder Fiat Punto aufnehmen kann. Die ihm gegenüber fehlenden Zentimeter gehen zu Lasten des Kofferraums, der nur 215 (Punto: 275) Liter fasst, aber bequem zu beladen ist. In allen Versionen besteht die Möglichkeit, das Volumen bei Bedarf mittels umklappbarer Rücksitzlehnen auf 910 Liter zu erweitern. Dass die maximale Zuladung beim Testwagen mit 362 Kilogramm etwas knapp ausfiel, liegt hingegen an seiner reichhaltigen Ausstattung, zu der auch eine Klimaanlage gehörte. Schon das Grundmodell LE, das es nur in Verbindung mit dem 1,2 Liter-Basismotor (60 PS) gibt, wird dem Anspruch des kleinen Feinen mit elektrischen Fensterhebern, vier Kopfstützen und Zentralverriegelung gerecht. In der mittleren LS-Version sind darüber hinaus Servolenkung und Drehzahlmesser an Bord, im LX zusätzlich ABS, Alcantara- Bezüge und eine Mittelkonsole mit Holzimitat. Blickfang im Innenraum sind aber zweifellos die Armaturen, die – wie beim Twingo – in der Mitte vor der Frontscheibe ruhen. Das schafft einerseits Platz für eine tiefe, über die ganze Innenbreite reichende Ablage, andererseits Verdruß, weil man auch nach längerer Eingewöhnung immer wieder ins graue Nichts hinter dem Lenkrad starrt. Im Gegenzug hätte man sich zumindest größere, auf den ersten Blick ablesbare Instrumente gewünscht.
Weitere Opfer auf dem Altar der Individualität werden allerdings nicht gefordert. Man findet sich auf Anhieb zurecht, weil Schalter und Hebel insgesamt ergonomisch platziert sind. Wohlige Wärme im Innenraum stellt sich erst nach etwa zehn Minuten ein, doch dafür wirkt die Verarbeitung so gar nicht südländisch: keine schlampigen Details, kaum Verwindung der Karosserie, höchstens mal ein dumpfes Klappern von der Laderaumabdeckung. Die Freude über den guten Qualitätseindruck wird auch von den Sitzen nicht gemindert. Sie sind großzügig bemessen, angenehm straff und vermitteln genügend Seitenhalt. Mitsamt den Gurten lassen sie sich fast jeder Körpergröße anpassen, wobei man insgesamt etwas hoch sitzt. Dies kommt der Übersichtlichkeit und damit dem Wohlbefinden zugute, was ebenso für die Federung gilt. Kurze wie lange Bodenwellen werden von ihr auf eine kultivierte Art absorbiert, die fast an das in dieser Klasse vom VW Polo gesetzte Optimum heranreicht. Nicht ganz so gediegen wirkt der Abrollkomfort, weil die Räder in jedes Schlagloch poltern. Die Seitenneigung der Karosserie aufgrund der langen Federwege fällt da kaum ins Gewicht. Auf das Fahrverhalten hat sie zumindest keinen Einfluss. Der Y verhält sich auch in Kurven völlig neutral, schiebt im Grenzbereich etwas stärker über die Vorderräder und fühlt sich so an, wie das viele kleine Autos schon seit Jahren tun. Probleme gibt es weder mit Lastwechselreaktionen noch beim Geradeauslauf, dafür aber mit den Bremsen: Die ohnehin mäßige Verzögerung lässt bei hoher Beanspruchung drastisch nach. Wer bei Autos dieses Formats eine ausgeprägte Handlichkeit erwartet, wird hingegen vom Lancia nicht enttäuscht. Die spielerische Leichtigkeit im Umgang resultiert vor allem aus der gefühlvollen Servolenkung, die direkt arbeitet, ohne nervös zu wirken. Auch um die Mittellage spricht sie präzise an und gefällt darüber hinaus mit guter Rückmeldung.
Nicht ganz so souverän kann sich der 1,4 Liter-Dreiventilmotor mit 75 PS in Szene setzen, der bereits aus dem Fiat Bravo/Brava bekannt ist und dem 1018 Kilogramm schweren Y zu klassenüblichen Fahrleistungen verhilft. Spritziges Temperament darf man jedenfalls nicht erwarten: Der gleich starke Polo liegt sowohl bei der Beschleunigung als auch im Durchzug aus niedrigen Drehzahlen deutlich vorn. Abhilfe schafft auch fleißiges Schalten mit dem exakten, aber etwas knochigen Getriebe nur begrenzt, was sich angesichts der Laufkultur des Motors leicht verschmerzen lässt. Der Vierzylinder arbeitet bis in höchste Drehzahlen leise und dröhnfrei und trägt damit zum niedrigen Geräuschniveau bei. Sparsam ist er außerdem: Etwas Zurückhaltung mit dem Gaspedal drückt den Testverbrauch auf unter sieben Liter. Selbst der stattliche Einstandspreis erweist sich wegen der reichhaltigen Ausstattung als günstig, denn sogar die 2100 Mark billigere LE-Version übertrifft in dieser Hinsicht den spartanischen Polo. Der entscheidende Vorzug des Y findet sich ohnehin in keiner VW-Preisliste: In ihm wird man zweifelsfrei als Anhänger ausgefallenen Geschmacks geoutet, und mit geplanten 6250 Exemplaren für Deutschland 1996 dürfte das noch lange so bleiben.