Rolls-Royce Silver Shadow damals und heute

Rolls-Royce Silver Shadow im Spiegel der Zeit: Für Reinhard Seiffert war der seinerzeit abgehobene Silver Shadow mehr als ein Auto. Alf Cremers spürt in dem noblen Briten die Ewigkeit.
Der Butler öffnet das schwere, schmiedeeiserne Tor. Sir Rolls gleitet lautlos hindurch. Der Butler schließt das Tor. Ein Schuss kracht, im Fond sinkt eine Gestalt getroffen zusammen. Aber Sir Rolls gleitet weiter. Aus so nichtigem Anlass hält er nicht an.
Sir Rolls, mit vollem Namen Rolls-Royce Silver Shadow, ist das renommierteste Auto der Welt. Ein Butler, der für Sir Rolls das Tor öffnet, würde es deswegen noch lange nicht für einen Mercedes 600 öffnen. Und kein anständiger englischer Mörder würde ohne triftigen Grund in einen Mercedes hineinschießen. Eher schon in einen Bentley, denn als Bentley reist Sir Rolls inkognito: komplett, aber ohne Rolls-Royce-Kühler. Ohnehin schätzt Sir Rolls es nicht, von jedermann gleich erkannt zu werden. Er verzichtet auf Chrom und ausladende Formen. Er ist teuer genug, um sich das leisten zu können.
Die Society hält zu Sir Rolls
Von Autotestern hält Sir Rolls nicht viel. Die amerikanische Zeitschrift "Car and Driver" stufte den Rolls-Royce Silver Shadow vor einigen Jahren hinter dem Mercedes 600, dem Cadillac und dem Lincoln erst an vierter Stelle ein und meinte, dass bei den nur halb so teuren Konkurrenten doch einiges mehr geboten würde. Sir Rolls kann über solche kleinlichen Vergleiche nur lächeln. Die Society hält zu ihm. Sir Rolls ist ein Verkaufserfolg. Begehrtestes Karosserieteil ist die „Emily“ auf dem Kühler. In kleptophilen Gegenden (kleptophil – mitnehmefreudig) ist es ratsam, eine zusätzliche Sicherung einzubauen. Wenn dann jemand der Emily um ihren neusilbernen Busen fasst, ertönt umgehend die Kompressorfanfare.
Für eine neue Emily müssen 400 Mark angelegt werden, der Kühlergrill des Rolls-Royce Silver Shadow steht im deutschen Ersatzteilkatalog mit 4.000 Mark verzeichnet. Die Buchstaben RR sind bekanntlich seit dem Jahr 1933 nicht mehr rot, sondern schwarz eingelegt. Das ist das Jahr, in dem Frederick Henry Royce das Zeitliche segnete. Am Heck hat Sir Rolls einen gewaltigen Kofferraum, der sich durch eine niedrige Ladekante auszeichnet. Er öffnet sich aber nicht, wie derjenige des Mercedes 600, auf Knopfdruck von selbst.
Auch in anderen Punkten wurde zum heutigen Stand der Karosseriebautechnik strenge Distanz eingehalten: Die Türen des Rolls-Royce Silver Shadow können nur mit Kraft und vernehmlichem Geräusch geschlossen werden, eine Zentralverriegelung - bei Cadillac und Mercedes selbstverständlich - muss der Rolls-Besitzer trotz erheblich höherem Preis entbehren.
Kompliziertes Klima
Die Motorantennedes Rolls-Royce Silver Shadow reagiert nicht mit Einschalten des Radios, man muss einen besonderen Knopf so lange drücken, bis die gewünschte Antennenstellung erreicht ist. Über vielerlei Knöpfe, Hebel und Klappen lässt sich warme, bei eingebauter Klimaanlage auch kalte Luft in großen Mengen in den Wagen leiten.
Vier Wochen Testzeit reichten nicht aus, um die Beherrschung dieses Systems bis zur Virtuosität zu erlernen. Dass geheime Kräfte am Werk sind, hört man nach jedem Drücken, Drehen oder Ziehen an schnaufenden und zischenden Geräuschen. Die in Leder gebundene Betriebsanleitung des Rolls-Royce Silver Shadow hilft nicht weiter: Wenn man sie gelesen hat, man sich erst recht nicht mehr aus. Aber deshalb braucht niemand zu verzagen: Laut Prospekt hat Rolls-Royce Lehrgänge eingerichtet, "um den Fahrzeugeigentümern oder ihren Chauffeuren behilflich zu sein, sich in der Handhabung von Rolls-Royce und Bentley-Fahrzeugen zu üben".
Sir Rolls ist schweigsam, über seine Leistung spricht er nicht.
Es war nie eine sensationell hohe Leistung, die in Crewe so vornehm verschwiegen wurde. Die alten Sechszylinder-Rolls-Royce bewegten sich höchst gemächlich vorwärts. Der jetzige 6,2-Liter-Achtzylinder hat es ebenfalls nicht überaus eilig. Aber mit Sir Rolls hat man auch nicht den Ehrgeiz, jemandem davonzufahren. Von 0 auf 100 km/h beschleunigt er in 12 Sekunden, als Maximum erreicht er 186 km/h. Das automatische Getriebe ist, um die Schaltvorgänge unmerklich zu machen, zum Hochschalten bei niedriger Drehzahl erzogen: Schon unterhalb von 100 km/h befindet es sich meist im oberen (3.) Gang, und dann ist das Temperament des Rolls-Royce Silver Shadow nicht gerade feurig.
Auf schnelles Fahren kommt es bei dem Rolls-Royce Silver Shadow nicht an, umso mehr aber auf leises: Sir Rolls spricht nicht, Sir Rolls flüstert. Das ist in der Tat eine Besonderheit, die nur wenige Autos der Welt zu bieten haben. Sir Rolls hat manches nicht nötig, eines aber hat er ganz besonders nötig: Benzin. Zweieinhalb Tonnen sind nicht wenig, die Geräuschdämpfung kostet Leistung und Kraftstoff, die Klimaanlage ebenfalls.
Lenkung heißt hier eine ungefähre Beeinflussung der Fahrtrichtung
Die Freude, dieses große Automobil mit der leichtgängigen Servolenkung ohne Mühe dirigieren zu können, wich bald dem Gefühl, dass mit dieser Lenkung höchstens eine ungefähre Beeinflussung der Fahrtrichtung möglich war. Der Rolls-Royce Silver Shadow entwickelte eine ausgeprägte Neigung, allen Unebenheiten der Straße zu folgen.
Von selbst geradeausfahren das gehört leider zu den Dingen, die Sir Rolls nicht nötig hat. Je besser die Straßenoberfläche wurde, um so mehr war Sir Rolls bereit, die Spur zu halten. Auf der Autobahn vermag der Rolls-Royce Silver Shadow die Erwartung, er sei eines der komfortabelsten Reisefahrzeuge der Welt, einigermaßen zu erfüllen. Besonders das geringe Fahrgeräusch trägt dazu bei, aber auch die Ruhe, mit der das gewichtige Auto dahingleitet.
Hohe Fahrsicherheit
Ein Plus ist die Niveauregelung des Rolls-Royce Silver Shadow, die bei leerem und beladenem Wagen auch den Federungskomfort konstant hält. Während sich Sir Rolls in der Komfortfrage noch gerade aus der Affäre ziehen kann, zeigt er sich in der Fahrsicherheit auch ernsteren Prüfungen gewachsen. Versucht man, eine Kurve schneller als üblich zu nehmen, erweist sich Sir Rolls zunächst als Anhänger der Übersteuerpartei: Er schwenkt mit dem Heck nach außen.
Lässt man den Rolls-Royce Silver Shadow mit spektakulärem Driftwinkel um Hockenheims Kurven rennen, was zu seinem vornehmen Habitus natürlich gar nicht passt, scheint er fast so etwas wie ein geheimes Vergnügen zu empfinden. Sir Rolls hat wirksame Bremsen, die in drei Kreise geteilt sind, er hat dicke Diagonalreifen, die auch bei vollbesetztem Auto und beladenem Kofferraum hohes Dauertempo klaglos mitmachen.
Keine Frage: Es gibt Autos mit perfekterer Karosserie, höherer Leistung und besser abgestimmtem Fahrwerk als den Rolls-Royce Silver Shadow, und die sind durchweg billiger. Aber deswegen bleibt Sir Rolls doch Sir Rolls.