Test Ferrari 812 Superfast

Die größte Herausforderung, informiert Ferrari, sei es gewesen, die Brillanz des Vorgängers zu übertreffen. Und dann nennen sie das neue V12-Modell auch noch 812 Superfast – „Superschnell“. Klingt arrogant? Nun, sie haben ja recht.
Das Auge überträgt pro Sekunde zehn Millionen Informationen ans Gehirn. Dieses kann in jeder Sekunde zehn Billionen analoge Rechenoperationen durchführen. So dauert es 0,18 Sekunden, bis eine Gefahr erkannt, verarbeitet und als Reaktion darauf ein Impuls in Lichtgeschwindigkeit über die korrekte der 5,8 Millionen Kilometer langen Nervenbahnen des Gehirn. an die richtigen Muskeln gesendet wird. Die brauchen, etwa um den rechten Fuß vom Gas auf die Bremse umzusetzen, 0,2 Sekunden. Um die kognitive Kapazität des Menschen zu überrumpeln oder auszulasten, bedarf es also eines besonders großen Ereignisses. Zum Beispiel eines Ferrari 812 Superfast.
Er ist mehr als ein neues V12-Topmodell. Er ist das Resultat aus sieben Jahrzehnten Ferrari. V12 und Ferrari – das gehört untrennbar und von Beginn an zusammen. Der erste Ferrari, der 125 von 1947, trägt einen von Gioacchino Colombo entwickelten 1,5-Liter-V12 mit 118 PS unter der Fronthaube. Es dürfte – zumindest diesseits der Thronfolge des japanischen Kaiserhauses – wenige Dynastien geben, deren Fortführung mit größerer Erwartung aufgeladen ist.
Basis für den Superfast war der auf 799 Exemplare limitierte F12 tdf. Dann legten die Techniker los: Der V12 bekam neue Zylinderköpfe, Pleuel, Kolben, variable Ansaugkanäle, eine Direkteinspritzung mit auf 350 bar gesteigertem Druck sowie 2,8 Millimeter mehr Hub, was sein Volumen auf 6,5 Liter, die Leistung auf 800 PS und das Drehmoment auf 718 Newtonmeter steigert. Er ist der stärkste Saugmotor, den es je in einem Serienauto gab.
Über die Kardanwelle erreichen Kraft und Leistung das im Transaxle-Prinzip an der Hinterachse positionierte Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe. Es schaltet nun 30 Prozent schneller, ist kürzer übersetzt. Das bringt auf den letzten gut 2.000 Umdrehungen vor dem Drehzahllimit von 8.900/min rund 50 PS mehr – für bessere Leistungsfähigkeit auf der Rennstrecke, liest du noch. Dann geht es im Aufzug runter in die Tiefgarage, wo der Superfast im fahlen Schein der Neonröhren wartet.
Da läufst du den lieben langen Tag mit diesem ernsten, gleichmütigen, schwäbischen Autotestergesicht herum. Tatsächlich aber kannst du es kaum fassen, dass dir jemand den Schlüssel zu diesem Wagen auf den Schreibtisch gelegt und gefragt hat, ob du nachher in Boxberg noch auf den Handlingkurs willst. Unbedingt! Besser wäre nur ein Umweg zurück über 1993, um den damals 15-jährigen Sebastian zu besuchen, hinter Bergen von Autozeitungen vorzulocken und ihm zu sagen: „Bursche, halt an deinen Träumen fest.“
Die Wucht der Unruhe
Das Testauto haben sie mit Schalensitzen samt Vierpunkt-Hosenträgergurten möbliert. Die gilt es so straff zu ziehen, dass es dir kurz den Atem raubt – es sollte nicht das einzige Mal bleiben an diesem Tag. Alles andere klappt leicht. Fuß auf die Bremse, Startknopf, Anlasser orgelt. Motor startet. Für den ersten Gang am rechten Schaltpaddel zupfen, Fuß von der Bremse, Gas, und der 812 Superfast reckt sich aus der Parklücke die Rampe empor in die gleißende Sonne.
Und dann fährt er durch die Stadt, unzickig wie ein Fiat Panda – nur die moppelige Breite von 1,97 Metern stört. Das Getriebe doppelverkuppelt sich eilig in den siebten Gang, es dröhnt aus dem Auspuff. Auch der Motor läuft aggressiv, nicht geschmeidig wie andere Zwölfzylinder. Das liegt am Bankwinkel von 65 Grad – ein Vermächtnis aus der Formel 1, wo Ferrari bis Ende der Saison 1995 mit 65-Grad-V12 fuhr. Der erreichte in der stärksten Version mit 3,5 Litern Hubraum übrigens, ja genau: 800 PS.
Dass so was geht – ein Straßenauto mit einer Leistung, die vor gut 20 Jahren in der Formel 1 Maßstäbe setzte. Vor allem, weil es keine Helden am Lenkrad braucht wie Jean Alesi und Gerhard Berger. Das gilt nicht nur für die Autobahn. Eh klar, dass der 812 da eine Macht ist mit einem Tempopotenzial, das ihn über die Geschwindigkeitsprotzerei hinaushebt, die ein, zwei Klassen tiefer mitunter ins Offenhosige tendiert. Als AMG GT und 911 Turbo die linke Spur entlangbalzen, kann der 812 rechts fahren, weil sich Macht auch im Wahren fantastischer Reserven ausdrückt. Sie treiben den Zweisitzer in eine Geschwindigkeitsregion, die man am besten für seltene Gelegenheiten und ganz leere Autobahnen bewahrt. Denn sie liegen weit über der Wahrnehmungsfähigkeit anderer Autofahrer, die einen 812 erst bemerken, wenn er schon vorbeischnellt.
Selbst bei einem Tempo knapp südlich der Maximalgeschwindigkeit fährt der Ferrari dabei fast unerschütterlich sicher und ruhig. Und das, obwohl die Aerodynamik da schon lange auf minimalen Luftwiderstand umgestellt hat. Die 210 Kilo maximalen Abtrieb nutzt er nur im „unteren Geschwindigkeitsbereich“, der – auch das zeigt die Dimensionen dieses Wagens – bis 200 km/h reicht. Darüber flacht der Anstellwinkel der Klappen am Diffusor auf 14 Grad ab und die Leitkanten vor den Vorderrädern werden vom Druck des Fahrwinds platt gedrückt. Das lenkt die Luftströmung am Unterboden sowie an den Karosserieflanken um und senkt den Luftwiderstand.
Den ein oder anderen halben Kontinent an einem Vormittag zu durchmessen, zählt zum Standard-Repertoire eines Gran Turismo. Doch der Superfast brilliert dazu gerade dort, wo man es am wenigsten erwartet – nämlich direkt um die Ecke: Von der Autobahn ab, rechts abbiegen, und gleich duckt sich die Landstraße in tiefen Wald, wird so schmal, dass kein Mittelstreifen sie mehr in zwei Bahnen zu teilen vermag.
Der Asphalt ist noch nass, also das Manettino am Lenkrad auf „ Wet“, womit alles getan wäre, um sich als brillanten Fahrer feiern zu können. Denn die Elektronik regelt so fein und unmerklich, dass du meinst, das seist du allein. Du gibst Gas, und der 812 drängt voran mit der Wucht seiner 800 PS. Deswegen klatscht dir die nächste Kurve vor die Frontscheibe, bevor du auch nur einmal Atem holen kannst. Der V12 hat die Durchschlagskraft eines Vorschlaghammers – aber einem, dem sie vorne ein paar Wattebäuschchen aufgeklebt haben, um den ersten winzigen Moment des Aufschlags abzuschwächen.
Es ist famos, wie der V12 Kraft und Leistung entfaltet. Jeder Millimeter, den du den großen Zeh weiter nach unten drückst, bedeutet eine Prise mehr Beschleunigung. Wobei „Prise“ hier bedeutet, dass der Superfast etwa das an PS draufpackt, womit ein Panda an Gesamtleistung auskäme.
Im Auge des Sturms
Bei 6.000 Touren wechselt das Brüllen in Kreischen, die Leistungskurve spitzt sich nochmals zu, und der Wagen stürmt voran, als risse jemand die Straße unter ihm nach hinten. Dann sind sie auch alle weg, die Wattebäuschchen. Parallel schnalzt das Getriebe die Gänge rein, so schnell, punktgenau und rechtzeitig, wie es mit dem Selbstflippern kaum gelingt. Denn der Motor spult sich die Drehzahltausender hinauf, als gäbe es bei zwölf Zylindern und 6,5 Litern Hubraum gar keine Schwungmassen.
Vor allem aber: diese enorme Traktion. Die Pirelli Corsa grippen sich so fest in den feuchten Asphalt, dass der Superfast sich an die Ideallinie schmiegen kann und sie nie mehr loslässt – und das ohne Allradantrieb.Aber mit Allradlenkung. Die Konstruktion stammt vom F12 tdf: Elektronisch gesteuerte Aktuatoren lassen die Hinterräder je nach Tempo, Lenkwinkel und Querbeschleunigung sowie nach Gegencheck mit der elektronisch geregelten Differenzialsperre und der Traktionskontrolle um maximal 1,5 Grad einlenken. Virtuelle Radstandsverkürzung nennt Ferrari das, wenn die Hinterräder entgegen den vorderen einlenken, weil es die Handlichkeit steigert. Der Fahrer merkt davon nichts, was als Kompliment an die Lenkung – die vordere – zu verstehen ist. Die erste elektromechanische Lenkung bei Ferrari hat eine brillante Präzision und perfekte Rückmeldung, gibt dem Fahrer zudem das passende Handmoment ans Lenkrad, um ihn beim Gegenlenken zu unterstützen.
Nicht dass es auf öffentlicher, trockener Straße dazu kommen könnte, denn der Grenzbereich des 812 liegt weit jenseits von Gut und sehr nah an Böse. Und schon zuvor strömen fast zu viele Informationen auf den Fahrer ein, um rechtzeitig erfasst, verarbeitet und umgesetzt zu werden.
Die Kraft der Kontrolle
Deswegen geht es noch auf den Handlingkurs in Boxberg. Wie kleine Landstraßen ist auch der dem Ferrari eigentlich zu eng. Aber er bietet die Möglichkeit, das Manettino mal auf „Sport“, „Race“, „ TC“ und „ESC off“ zu drehen. Obwohl sich die Überraschung in Grenzen halten dürfte: Nach einer langen neutralen Phase – und weil die Vorderräder einfach den Grip nicht verlieren wollen – schwingt das Heck aus. Wobei sich dieser Zustand durch Gasgeben in Kurven früher einstellen kann. Aber langsam ist man dabei nie, wenn schon der zweite Gang bis weit über 100 km/h reicht.
Wer die Fahrhilfen ausschaltet, ist wirklich auf sich gestellt. Der Grenzbereich ist ein schmaler Grat – ein Hochseil, auf dem nur große, schwindelfreie Artisten balancieren sollten.
Aber das konterkariert die größte Stärke des 812 Superfast, der seine Leistung so subtil kontrolliert, dass sie wirklich genutzt werden kann: nullhundert in drei-zwei, nullzweihundert in acht-sieben, Spitze drei-vier-null. Und noch die 17,4 l/ 100 km. Das galt es noch nachzutragen bei diesem Ferrari, der, wenn du nur einmal aufs Gas trittst, schon weiter ist, als das Auge reicht.