Mercedes E 60 AMG wurde nie richtig gezählt
Er ist stark, selten und voller Widersprüche: Der Mercedes E 60 AMG mit Technikpaket 957 gilt als eines der rätselhaftesten Modelle der AMG-Geschichte. Denn obwohl er auf der E-Klasse basiert, liefert er Fahrleistungen auf Supersportwagen-Niveau – und seine Stückzahl kennt bis heute niemand.
Die Karosserie des E 60 AMG gibt sich bieder. Kein Spoiler, keine Hutze, kein Design-Exzess. Nur Kenner erkennen das Typenschild und die leicht breiteren Felgen. Doch was unter dem Blech steckt, hat es in sich: AMG verpflanzte in den ansonsten zivilen W124 den M117-V8 mit sechs Litern Hubraum – von Hand gefertigt, in kleinen Stückzahlen, für eine exklusive Kundschaft.
Mit 381 PS und 580 Nm Drehmoment war der E 60 AMG 1993 eine absolute Ausnahmeerscheinung. Beschleunigung und Durchzug lagen auf dem Niveau von Porsche oder Ferrari – in einem Fahrzeug, das optisch eher an ein Taxi erinnerte.
Technikpaket 957: Der Schlüssel zur Einzigartigkeit
Das Kürzel "957" tauchte nur auf Wunschbestellungen auf und steht heute für eines der geheimnisvollsten Technikpakete in der AMG-Historie. Es beinhaltete nicht nur die Motormodifikation, sondern auch eine geänderte Fahrwerksabstimmung, verstärkte Bremsen und individuelle Anpassungen an Getriebe und Achsen – stets abhängig vom Einsatz und Kundenwunsch.
Viele dieser Fahrzeuge entstanden nicht direkt bei Mercedes, sondern wurden bei AMG in Affalterbach umgebaut – teils erst nach der Auslieferung des Basismodells. Die Individualisierung erfolgte mit einem Maß an Handarbeit, das heute kaum noch denkbar ist.
Dokumentationslücke bei Mercedes
Gerade diese Produktionsweise ist heute das große Problem: Es existieren keine vollständigen Werksunterlagen. Weder Mercedes noch AMG können exakt sagen, wie viele E 60 AMG mit Technikpaket 957 je gebaut wurden. Selbst Experten sprechen von "unter 200", möglicherweise deutlich weniger.
Die Fahrzeuge wurden auf Basis des E 50 AMG produziert oder umgebaut, teilweise durch Vertriebspartner, teilweise direkt durch AMG. Eine zentrale Dokumentation? Fehlanzeige. Wer heute ein solches Modell findet, steht oft vor der Detektivarbeit seines Lebens.
Formel 1 im Dienstwagen-Look
Ein faszinierender Beleg für die Leistungsfähigkeit des E 60 AMG findet sich in der Königsklasse des Motorsports: 1997 setzte die FIA ein entsprechendes Fahrzeug als offizielles Medical Car in der Formel 1 ein – und zwar als Kombi. Die Wahl fiel auf dieses Modell, weil es Kraft, Platz und Zuverlässigkeit vereinte – ein Beweis, dass die Technik mehr als nur ein Exotenprojekt war.
Der serienmäßig zurückhaltende Look kontrastierte dabei radikal mit der Performance. Für viele Fans ist gerade dieser Bruch zwischen äußerem Understatement und technischer Überlegenheit das faszinierendste Merkmal des E 60 AMG.
Sammlermarkt: Zwischen Mythos und Realität
Heute ist der E 60 AMG mit Technikpaket 957 einer der begehrtesten Youngtimer aus Stuttgart. Preise über 150.000 Euro sind keine Seltenheit – vorausgesetzt, die Echtheit lässt sich nachweisen. Das gestaltet sich oft schwierig, denn viele Umbauten sind schlecht dokumentiert, es fehlen originale Rechnungen oder Bestellformulare. Ein Originalfahrzeug mit AMG-Lenkrad samt Gravur von Hans-Werner Aufrecht? Das ist der Heilige Gral.
Gleichzeitig sorgt die unklare Historie dafür, dass viele Fahrzeuge unter dem Radar bleiben – oder von Enthusiasten jahrelang gehütet werden. Der Markt ist intransparent, aber wachsend.
