Orthopäde erklärt: Warum der Schneidersitz ein Comeback verdient

Sitzen ist das neue Rauchen - klingt drastisch, aber trifft den Kern. Die meisten Menschen verbringen unzählige Stunden am Schreibtisch, im Auto oder auf dem Sofa, während unser Körper eigentlich für Bewegung gemacht ist. Den Schneidersitz kennen viele noch aus Kindertagen - auf dem Boden sitzen, die Beine verschränkt, ganz ohne Rückenschmerzen. Könnte die altbekannte Sitzhaltung tatsächlich gesünder sein als unser Dauersitzen auf Stühlen?
Dr. Martin Rinio, Facharzt für Orthopädie, Chirurgie und Unfallchirurgie, kennt die Folgen des Bewegungsmangels aus seiner täglichen Praxis und erklärt im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news, warum Abwechslung beim Sitzen entscheidend ist, welche Vorteile der Schneidersitz tatsächlich bietet - und worauf man lieber verzichten sollte.
Die meisten Menschen sitzen durch Schreibtischarbeit, Fernsehen etc. sehr viel. Wie wirkt sich langes Sitzen generell auf den Körper aus?
Dr. Martin Rinio: Rund 80.000 Stunden verbringen wir von der Schulbank bis zur Rente durchschnittlich sitzend am Schreibtisch, haben Experten errechnet. Verspannte Nacken und Schultern, aber auch Arthrose, Hexenschuss und Bandscheibenvorfälle sind vielfach Folgen des Dauersitzens, der Zwangshaltung und permanenten Bewegungslosigkeit.
Dass permanente Bequemlichkeit Rücken und Gelenken auf Dauer schwer zu schaffen macht, zeigen die Statistiken: Mindestens jede zweite Krankschreibung geht höchstwahrscheinlich auf das Konto der Wirbelsäule. Denn: Was den Fettpolstern zugutekommt, lässt die Rücken- und Bauchmuskeln regelrecht verkümmern. Andauernde Rückenschmerzen sind neben Herzerkrankungen der häufigste Grund für Erwerbsunfähigkeit und Frühverrentung.
Dabei führt langes Sitzen keineswegs unweigerlich zu Kreuzschmerzen. Wenn dem so wäre, hätten alle Menschen, die im Büro arbeiten, ernsthafte Rückenprobleme. Richtig ist vielmehr, dass stundenlanges Sitzen vor allem dann zu Rückenschmerzen führen kann, wenn Ausgleich und Bewegung fehlen.
Welche Sitzpositionen sind aus orthopädischer Sicht besonders belastend für Rücken und Gelenke?
Dr. Rinio: Vermeiden sollte man am Schreibtisch auf jeden Fall den Rundbuckel mit vorgebeugtem Kopf. Denn durch die unnatürliche Krümmung der Wirbelsäule werden Bandscheiben und Gelenke strapaziert. Alles andere als kreuzschonend ist zudem das Sitzen mit übereinandergeschlagenen Beinen. Diese Position behindert die Blutzirkulation der Beine und führt dazu, dass Bänder und Nerven gequetscht werden.
Eine orthopädische "Todsünde" ist auch stundenlanges Verharren in derselben Sitzposition. Dadurch wird die Wirbelsäule auf Dauer mehr belastet als wenn wir uns bequem räkeln.
Rücken und Gelenke benötigen Abwechslung: Ob im Bürostuhl oder auf dem Sofa: Gut ist es, möglichst häufig zwischen aufrechter, vorgeneigter und zurückgelehnter Haltung zu wechseln. Dabei das Gewicht des Öfteren von der einen auf die andere Gesäßhälfte verlagern.
Viele kennen den klassischen Schneidersitz aus Kindertagen - lohnt sich diese Position auch für Erwachsene?
Dr. Rinio: Anatomisch bietet der Schneidersitz bei nicht zu häufiger Anwendung durchaus einige Vorteile. Diese ergeben sich vor allem durch die Dehnung und Stärkung der Bauch-, Hüft- sowie der Oberschenkelmuskeln.
Wer nicht nur einige Minuten auf der Wiese im Schneidersitz pausieren, sondern stattdessen vielmehr regelrecht Yoga als Meditationshaltung praktizieren möchte, der sollte dafür einige Voraussetzungen mitbringen. Neben Grundkenntnissen des Yogas zählt dazu etwa beim klassischen Lotussitz (eine dem Schneidersitz ähnliche Variante) vor allem eine ausreichende Beweglichkeit der Hüften.
Welche Vorteile hat das Sitzen in der Schneiderposition für die Wirbelsäule und Hüftgelenke?
Dr. Rinio: Diese Sitzposition "entwringt" sozusagen die Hüftgelenkkapsel dank der Außenrotation, also der Drehbewegung des Oberschenkels. Die Bänder werden gedehnt und die Kapsel weitet sich auf. Das unterstützt die Knorpelernährung.
Der Schneidersitz belastet Knie, Sprunggelenk und Hüfte bei moderatem Gebrauch so gut wie nicht, ist dafür aber ungünstig für die Wirbelsäule (aufgrund des Rundrückens).
Gibt es auch Risiken?
Dr. Rinio: Wie gesagt, sollten Menschen mit Rückenbeschwerden (vor allem mit dem Gleitwirbel) diese Sitzposition nicht einnehmen. Aber auch bei Knieproblemen ist sie nicht empfehlenswert, da hierbei der Meniskus unnötig strapaziert wird.
Von einem zu häufigen und zu langen "Verharren" im Schneidersitz ist abzuraten. Treten Schmerzen auf, so sollte umgehend die Sitzposition geändert werden. Außerdem bitte im Schneidersitz immer auf eine aufrechte Haltung achten: Der Rücken sollte gerade, aus der Lendenwirbel aufgerichtet sein.
Kann man im Schneidersitz auch auf dem Bürostuhl sitzen?
Dr. Rinio: Im Prinzip ja, aber bedingt durch die variable Neigungsverstellung, geformte Sitzflächen und die Rückenlehne ist es oft nicht sinnvoll, über einen längeren Zeitraum auf einem Bürostuhl im Schneidersitz zu sitzen. Durch die Rollen und den fehlenden Kontakt mit dem Boden besteht auch eine gewisse Sturzgefahr.
Welche Übungen oder Bewegungen können wir zwischendurch einbauen, um die Gelenke beim Sitzen zu entlasten?
Dr. Rinio: Nicht nur im Schneidersitz empfiehlt es sich, alle 10 bis 15 Minuten in eine andere Sitzposition überzugehen. Gut ist der kontinuierliche Wechsel zwischen aufrechter, vorgeneigter und zurückgelehnter Haltung und die häufige Verlagerung des Gewichts von der einen auf die andere Gesäßhälfte. Das regt den Stoffwechsel an und verhindert einseitige Belastungen.
Und noch ein praktischer Tipp: Lassen Sie möglichst mehrmals täglich auf dem Tisch sitzend, die Beine frei schwingen. Dadurch verteilt sich die Gelenkschmiere über die gesamte Knorpelfläche des Kniegelenks. Die Knorpelernährung wird deutlich verbessert.
Über den Experten: Dr. Martin Rinio ist Facharzt für Orthopädie, Chirurgie und Unfallchirurgie. Behandlungsschwerpunkte des Ärztlichen Direktors der Gelenk-Klinik Gundelfingen sind Hüft- und Knie-, sowie Fuß- und Sprunggelenk-Chirurgie.