Großbritanniens ewige Zerreißprobe
Obwohl es mit Winston Churchill ein Brite war, der nach dem Zweiten Weltkrieg eine Art „Vereinigte Staaten von Europa“ vorgeschlagen hatte, wurden die Engländer mit europäischen Zusammenschlüssen nie wirklich warm. Bereits 1974 wollten sie der Europäischen Gemeinschaft, der sie sich erst ein Jahr zuvor angeschlossen hatten, den Rücken zukehren. 1975 stimmten jedoch über zwei Drittel der Inselbewohner für den Verbleib. Geklärt war die Europafrage damit allerdings noch lange nicht.
 

Die Stimmung kippt
Im Jahr 2013 brodelt es in Großbritannien. Immer mehr Bürger befürworten das Programm der Anti-EU-Partei Ukip und stellen sich gegen die Pro-Europa-Politik des Premierministers David Cameron. Der sieht sich gezwungen zu handeln und verspricht im Falle einer Wiederwahl 2015, die Beziehungen zur EU neu auszuhandeln und die Briten über den Verbleib des Landes in der EU abstimmen zu lassen.

Überraschender Wahlsieg der britischen Konservativen
Entgegen aller Umfragen erhält die Conservative Party um Cameron bei den Parlamentswahlen in Großbritannien die Mehrheit. Das Brexit-Referendum über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union wird für den 23. Juni 2016 angesetzt. Cameron, der für den Verbleib stimmen will, gibt seinen Ministern freie Hand, für oder gegen den Austritt Werbung machen. Entgegen seiner Erwartung nehmen fünf Minister das Angebot an und werden zu den größten Verfechtern des Brexits. 
 

Cameron gegen Johnson
Sechs Wochen vor der Abstimmung verhärten sich die Fronten zwischen den Lagern. Das Konfuse: Konservative, Wirtschaftsliberale und Linke lassen sich keinem Lager zuordnen. Die Parteien sind bunt durchmischt. Als großer Europa-Befürworter gilt weiterhin David Cameron, dem sich Boris Johnson (Bild) entschieden entgegenstellt.

Pro Brexit
Beide Lager pochen auf ihre Argumente. Die Brexit-Befürworter sehen die Kontrolle über die Landesgrenzen und die damit verbunden Immigrations-Politik als entscheidendes Kriterium für den Austritt aus der Europäischen Union. Sie plädieren außerdem für hausgemachte Gesetze und weniger Ausgaben durch den EU-Austritt.
 

Contra-Brexit
Dem gegenüber steht ein breit aufgestelltes Lager von Europa-Verfechtern. Sie sehen durch einen Austritt aus der EU den Schutz vor Terror und Austausch mit Sicherheitsdiensten und Polizeibehörden gefährdet. Brexit bedeutet für seine Gegner: weniger Arbeitsplätze und weniger Mitsprache auf internationalem Bankett.

Ja zum Brexit
Am 23. Juni 2016 stimmen die Briten mit 52% für einen Austritt aus der EU. Premierminister David Cameron zieht die Konsequenzen und kündigt am Morgen nach der Wahl seinen Rücktritt an.

Die große Gewinnerin
Zur großen Gewinnerin des Brexit-Referendums wird Theresa May. Am 13. Juni 2016 löst sie Premierminister Cameron ab. Bestrebungen um ein neues EU-Referendum weist sie zurück. Auch Brexit-Wortführer Boris Johnson kommt zum Zug: Er wird neuer Außenminister. Mit dem Austrittsantrag will sich die neue Regierung dennoch bis 2017 Zeit lassen.

„Harter Brexit“
Das Land ist weiterhin gespalten. Viele Briten wollen ein neues Referendum. Anfang 2017 stellt Theresa May klar, dass der Brexit nicht mehr zur Diskussion steht. Ein „harter Brexit“ wird angekündigt. Das bedeutet, Großbritannien wird auch den europäischen Binnenmarkt verlassen. Am 8. Februar stimmt das Unterhaus des Parlaments dem Brexit-Gesetz zu. Die offizielle Austrittserklärung erreicht Brüssel schließlich am 29. März. Die Verhandlungen sind eröffnet.

Neuwahlen
Im April ruft Theresa May völlig überraschend Neuwahlen aus. Sie will sich für die anstehenden Verhandlungen mehr Rückendeckung verschaffen. Die Wahl spiegelt jedoch einmal mehr die Zerrissenheit Großbritanniens wider. May verliert die absolute Mehrheit. Trotzdem schafft sie es, eine neue Regierung zu bilden.
 

Die Uhr tickt
Die Verhandlungen zwischen Großbritannien und den verbleibenden 27 europäischen Regierungen laufen. Können sich die Parteien auf kein Austrittsabkommen einigen, soll das Vereinigte Königreich automatisch am 29. März 2019 aus der EU ausscheiden. Sobald ein Abkommen, das von beiden Seiten bewilligt wurde, steht, ist der Austritt der Briten mit Wirksamwerden des Abkommens rechtskräftig. Alternativ kann im Austrittsabkommen auch ein späterer Zeitpunkt für den endgültigen Austritt des Inselvolks vereinbart werden. Zu guter Letzt können die EU-Mitglieder und Großbritannien eine Fristverlängerung für die Verhandlungen beschließen. Hierfür ist allerdings Einstimmigkeit im Europäischen Rat erforderlich.
 

Wirtschaftlicher Handel nach dem Brexit
Premierministerin May strebt einen „harten Brexit“ an, also eine Trennung von der EU und dem gemeinsamen Binnenmarkt, hofft jedoch auf ein Freihandelsabkommen. In Brüssel häufen sich derweil Stimmen, die harte Regulierungen für den Handel mit Großbritannien fordern. EU- Unterhändler Michel Barnier erklärt gegenüber „Spiegel Online“, dass Drittstaaten niemals die gleichen Rechte und Vorzüge genießen können, weil sie nicht den gleichen Verpflichtungen unterliegen. Das hätte für die britische Wirtschaft enorme Konsequenzen. Viele Unternehmen drohen mit der Verlegung ihrer Standorte; eine Maßnahme, die vielen Briten den Arbeitsplatz kosten könnte.
 

Auswirkungen für die EU
Auch die EU wird die Folgen des Brexits schmerzhaft spüren müssen. Für die deutsche Autoindustrie ist das Vereinigte Königreich der wichtigste europäische Exportmarkt. Der Austritt der Briten aus der Europäischen Union könnte diese und viele weitere Handelsverbindungen in Frage stellen. Der Brexit konfrontiert Brüssel außerdem mit der Gefahr, Austrittsbefürworter in anderen EU-Ländern zu stärken. Die Eurokrise, das Griechenland-Drama, der Flüchtlingsstreit und nun der Brexit – die Zerreißproben für die Europäische Union wollen kein Ende finden…
 

Misstrauensvotum überstanden
Anfang Dezember 2018 stellte sich Premierministerin Theresa May einer weiteren Herausforderung. Sie ließ im Misstrauensvotum um ihre Position als konservative Parteichefin abstimmen. Insgesamt 200 Abgeordnete sprachen ihr das Vertrauen aus. Notwendig waren 159 Stimmen. Doch ein Drittel ihrer Fraktion, 117 Abgeordnete, verweigerten ihr in diesem Votum die Gefolgschaft. May stellte daraufhin in Aussicht, nicht mehr bei der nächsten regulären Parlamentswahl 2022 antreten zu wollen. Spekuliert wird nun, ob May bereits im Mai 2019, nachdem der Brexit vollzogen sein wird, das Amt niederlegen wird. 

Tief zerstrittenes Parlament
Das Votum legt den desaströsen Zustand der britischen Politik offen. Zwar rief May nach dem schockierenden Ergebnis des Votums die Politiker zur Geschlossenheit auf, doch das britische Parlament ist über den Brexit tief zerstritten. May muss nun nach wie vor einen Weg finden, die Brexit-Vereinbarung trotz des heftigen Widerstandes in der eigenen Partei sowie in der Opposition im Unterhaus mit einer Mehrheit in der Abstimmung durchzusetzen. Dass ein Drittel ihrer eigenen Partei bei ihren Plänen nicht mitspielt, ist angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse im Parlament ein großes Problem. 

May beim EU-Gipfel
Folglich fährt May geschwächt zum EU-Gipfel nach Brüssel. Dort versucht sie weiter, Zugeständnisse auszuhandeln. Besonders wichtig ist ihr dabei der Backstop, eine Klausel, die eine offene Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland sicherstellen soll. Inwieweit sie damit erfolgreich sein wird, ist fraglich: Die EU hat zwar ihr Entgegenkommen signalisiert, jedoch in sehr engen Grenzen und ohne Vertragsänderung. 

Ziel: chaotische Trennung vermeiden
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und die anderen Staats- und Regierungschefs reisen in Brüssel an, um die britischen Austrittspläne voranzubringen. Sie möchten dazu beitragen, dass der fertige EU-Austrittsvertrag eine Mehrheit im britischen Parlament findet. Nur so kann das Ziel erreicht werden, eine chaotische Trennung zu vermeiden. Ob das tatsächlich funktioniert, wird sich zeigen. 

Erneute Niederlage für Theresa May - Chaos droht

Am 15. März 2019 stimmt das britische Parlament über Mays mit der EU ausgehandelten Brexit-Deal ab: Eine krachende Niederlage für die Premierministerin. Am Tag darauf folgt ein erneutes Misstrauensvotum, dass May aber übersteht. Ein politischer Umbruch findet somit nicht statt, auch gegen einen ungeregelten EU-Austritt stimmen die britischen Abgeordneten.

Verschiebung des Termins
In letzter Minute beantragt Theresa May eine Verschiebung des Brexits, dem die EU teilweise statt gibt. Zunächst ist der 12. April das neue Austrittsdatum. Am 27. März 2019 stimmt das Unterhaus gegen ein zweites Referendum, beschließt jedoch am 10. April im Europäischen Parlament eine zweite Verlängerung bis zum 31. Oktober 2019. Demnach steht den Briten bis dahin offen, ob sie früher oder überhaupt austreten.

Theresa Mays Rücktritt
Immer wieder wurde über Theresa Mays Rücktritt spekuliert, der schließlich zum 7. Juni 2019 angekündigt ist. Ihr Rücktritt als Parteichefin zieht den Rücktritt als Premierministerin nach sich, denn in Großbritannien sind beide Ämter miteinander verknüpft. 

Boris Johnson wird neuer Premier
Am 23. Juli 2019 wird Boris Johnson zum Parteiführer der Conservative Party gewählt, am 24. Juli wird er als Theresa Mays Nachfolger von der Queen zum Premierminister ernannt.

Backstop-Klausel und No-Deal-Brexit

Die Backstop- Klausel soll Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland verhindern, sodass dort keine Außengrenze der EU entsteht. Johnson ist gegen diese Klausel, da das britische Nordirland so in der europäischen Zollunion gehalten wird, auch wenn keine Einigkeit bei folgenden Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU erreicht wird. Er möchte Großbritannien notfalls auch ohne Abkommen aus der EU führen, wofür er starken Gegenwind aus der konservativen Regierungsfraktion erhält.

Die Mehrheit im Parlament verliert Johnson am 2. September. Die Abgeordneten des Parlaments bringen am 4. September 2019 ein Gesetz durch, dass den den No-Deal-Brexit verhindert. Wenn die EU und Großbritannien sich bis zum 19. Oktober nicht einigen, wird so automatisch eine weitere Verlängerung der Brexit-Frist beantragt. Da Johnson auf keinen Fall verlängern möchte, strebt er Neuwahlen an, für die er allerdings eine Zweidrittelmehrheit im Unterhaus benötigt.

Beurlaubung des Parlaments

Mitte September bis Mitte Oktober 2019 schickt Boris Johnson das Parlament in eine Zwangspause, um diesem die Möglichkeit zu geben, über das Regierungsprogramm und den Umgang mit dem Brexit zu diskutieren, vor dem EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober. Die Stimmen der Opposition werfen Johnson vor, keinen Deal erreichen zu wollen. Am 10. September schließt das Parlament, allerdings erklärt das schottische Berufungsgericht die Zwangspause für unrechtmäßig. 

Ab dem 25. September setzt das Parlament deshalb bereits seine Arbeit fort. Und das nicht zu früh: Die EU erwartet Vorschläge für einen geregelten Brexit bis Mitte Oktober. Trotz des Gesetzes für die Verlängerung erwägt die Regierung, ohne Abkommen auszutreten. Telefongespräche zwischen Johnson, Merkel und EU-Ratspräsident Tusk geben wenig Hoffnung auf eine Einigung.

Am 17. Oktober 2019 einigen sich Brüssel und London in letzter Minute. Lediglich das britische Parlament müsste nun die Vereinbarungen noch absegnen. Dies kann allerdings schwierig werden, da die nordirisch-protestantische Partei DUP die ausgehandelten Vorschläge ablehnt. Im Parlament ist Johnson allerdings auf deren Unterstützung angewiesen.

Doch das Unterhaus verwehrt dem Premier erneut die Zustimmung und zwingt Johnson dazu, erneut einen Antrag auf Aufschub in Brüssel zu stellen. Am 28 Oktober, drei Tage vor dem geplanten und von Johnson angestrebten Austritts-Datum, gewähren die EU-Staaten nochmal einen Aufschub um drei Monate. Das neue Austrittsdatum ist also der 31. Januar.

Am 29. Oktober 2019 ruft das Parlament Neuwahlen für den 12. Dezember aus. Premierminister Boris Johnsons größter Wiedersacher ist dabei der Oppositionsführer und Vorsitzender der Labour Party Jeremy Corbyn (rechts im Bild). Corbyn verspricht ein zweites Brexit-Referendum.

Die konservative Tory Partei um Boris Johnson gewinnt die Wahl und hat nun eine absolute Mehrheit im Unterhaus. Dem Brexit scheint dreieinhalb Jahre nach dem knappen Votum nichts mehr im Wege zu stehen. Als neuer Brexit-Termin ist der 31. Januar vorgesehen.
In Schottland erzielte die Nationalpartei ein historisch gutes Ergebnis, die Parteivorsitzende der SNP (Scottish National Party) kündigte ein zweites Unabhängigkeits-Referendum an.

Am 31. Januar ist es soweit: Großbritannien verlässt um Mitternacht die Europäische Union, nach jahrelangem Hickhack und politischem Chaos. Bis Ende 2020 gilt vorerst eine Übergangsphase in Sachen Visa und anderen Regelungen, viele Punkte für die zukünftigen Beziehungen sind jedoch noch offen.