Besuch bei Classic Team Lotus

Lotus hat die Formel 1 mit Erfindergeist, Siegen und Tragödien geprägt. Zwei Jahre vor dem Aus des Rennstalls 1994 gründete der Sohn von Colin Chapman, Clive, ein Werksteam für historischen Motorsport. Ein Besuch bei Classic Team Lotus.
Die ruhmreiche Geschichte präsentiert sich nicht in einem Museum, sondern haust in einem etwas heruntergekommenen einstöckigen Gebäude mit grünen Holzportalen und Metalltüren. Risse werten die Außenfassade ab, der weiße Putz bröckelt an einigen Stellen ab. Auch innen zeigen sich Abnutzungserscheinungen vergangener Jahrzehnte. Auf den weißen Klinkern sieht man an verschiedenen Stellen Abdrücke verschmutzter Finger. Wenn nicht gerade Werkzeugbänke und Regale mit Kisten, Auspuffkrümmern, Rennsitzen, Verkleidungsteilen und Zahnrädchen sie verstecken. Oder Bilder und Fotos von alten Rennautos und Fahrern die Schmutzflecken bedecken. Die Fotos erinnern wie die an den Leitungen aufgehängten Lorbeerkränze an die ruhmreichen Zeiten von Lotus.
491 GP-Starts, 79 Siege, 6 Fahrer-, 7 Konstrukteurs-Titel
Im Fußball gibt es legendäre Vereine wie Real Madrid, FC Barcelona, FC Bayern München und Manchester United. In der Formel 1 sind ihre Pendants Ferrari, McLaren, Williams und Lotus. Die drei erstgenannten prägen noch heute die Königsklasse. Der alte Lotus-Rennstall spielt dagegen nicht mehr im schnellsten Wanderzirkus der Welt vor. 1994 musste das Rennteam aus Mangel an Geld dichtmachen. Es fehlten die Sponsoren. Das Ende kam nach 491 GP-Starts und 79 Siegen. Nach sieben Konstrukteurs-Weltmeisterschaften und sechs Fahrertiteln mit Jim Clark (2x), Graham Hill, Jochen Rindt, Emerson Fittipaldi und Mario Andretti am Steuer.
Teamgründer, Firmengenie und Konstrukteur Colin Chapman verlor 1982 nach einer Herzattacke sein Leben. Sein Vermächtnis pflegt Sohn Clive. Anstelle des Schnauzers trägt er bei unserem Besuch einen Fünftagebart. Clive Chapman gründete 1992 das Classic Team Lotus. Man kann es so ausdrücken: Der Engländer führt einen Werksrennstall für historischen Motorsport. Sein Klassikteam beschäftigt 15 Mitarbeiter – eine Mischung aus Büroangestellten, Auszubildenden und altgedienten Mechanikern wie Robert Dance (82) – grüner Arbeitskittel, vom Handwerk beschmutzte Handflächen –, der schon in den 1960er Jahren als Chefmechaniker Clark betreute.
„Damals waren wir zu sechst“, erinnert sich Dance. „Wir waren schwer beschäftigt und mussten drei Fahrer versorgen. An den Grand-Prix-Wochenenden haben wir Mechaniker bis zwei Uhr nachts an den Autos gearbeitet und standen vor dem Frühstück wieder in der Garage.“ Heute zieht es den 82-Jährigen dreimal in der Woche zurück in die Werkstatt nach Hethel, nahe Norwich, wo der Rennstall schon früher seine Basis hatte. Die Mechaniker-Legende, die neben Clark auch mit Graham Hill, Mario Andretti, Ronnie Peterson, Ayrton Senna, Carlos Reutemann und Mika Häkkinen zusammen arbeitete, liebt es, an den alten Autos zu schrauben.
Lotus 12 der erste Monoposto der Teamgeschichte
1956 baute Lotus mit dem Typ 12 seinen ersten offenen Einsitzer-Rennwagen. In der Werkstatt ist sein Gitterrohrahmen frei von Verkleidungsteilen. Ganz vorn platziert ist ein großer Kühler, dahinter schließt ein 1,5-Liter-Vierzylinder an. Den Frontmotor kippte man damals leicht nach hinten, damit die Kardanwelle tiefer läuft. Zwischen Motor und Cockpit bunkert ein Tank den Treibstoff. Noch ist dieser Lotus 12 keinen Kilometer gefahren. Ein Schwarz-Weiß-Foto an der Wand erinnert daran, wie das Rennauto komplett aufgebaut aussah. Darauf strahlt Colin Chapman, der Einstein der Formel 1, am Holzlenkrad.
Auf der anderen Seite hängt ein weiteres Foto. Es stammt aus dem Jahr 1965 und zeigt Clark im Lotus 38 mit der Startnummer 82. Neben dem Rennwagen mit Ford-V8 in Mittelmotoranordnung knien Chapman und ein Mechaniker. Dahinter versammeln sich sechs weitere Personen. Es war das Jahr als Lotus das Indy 500 gewann. „Jimmy ist dieses eine Rennen gefahren, stellte den Motor ab und das Auto wanderte direkt ins Ford-Museum“, berichtet Clive Chapman. Der Lotus 72 daneben ist dagegen Familieneigentum. Das Auto ist aufgebockt, es fehlen Räder, Frontflügel und Seitenkästen. Das Chassis hat vorne links eine kleine Schweißnaht. Eine Folge eines Unfalls von Fittipaldi in Zandvoort 1973. „Die Marshalls mussten ihn aus dem Auto schneiden“, erzählt Chapman.
Drei Lotus 72 in der Werkstatt
Die Cockpitumrandung ist nicht verschraubt. Sie gehört eigentlich zum Lotus 72, der direkt davor steht. Um einen weiteren 72er kümmert sich gerade Mechaniker Kevin Smith. Er streichelt zuerst mit den Fingern über den Heckflügel, später poliert er ihn. Auf der Fahrzeugfront liegen die Aufkleber für Startnummer und den damaligen Sponsor John Player Special. Die Zigarettenmarke gab dem 72 seine schwarz-goldene Lackierung.
Zwischen 1970 und 1975 brachte der Rennwagen als Nachfolger des Lotus 49 sowohl Erfolg als auch Leid über das Team. Jochen Rindt gewann darin 1970 als einziger Fahrer der Geschichte postum den WM-Titel. Eine gerissene vordere rechte Bremswelle kostete ihn in Monza das Leben. Sieben weitere Rennfahrer starben wie Rindt in einem Lotus-Rennwagen: Herbert MacKay-Fraser (1957), Alan Stacey (1960), Peter Ryan, Ricardo Rodriguez (beide 1962), Jim Clark, Mike Spence (beide 1968) und Ronnie Peterson (1978).
Die Bremsscheiben versteckte Chapman im Lotus 72 innen unter der Verkleidung, was an den gestrippten Exemplaren in der Werkstatt gut sichtbar ist. Dadurch sollten die ungefederten Massen verringert werden. Eine Keilform und seitlich angeordnete Kühler prägten das Design wie die wechselnden Airbox-Aufbauten. Fittipaldi sicherte sich in dem Rennwagen 1972 seinen ersten Fahrertitel.
Viele Sammlerstücke in privater Hand
Viele der Rennautos im Atelier sind Sammlerstücke reicher Privatmänner. Chapman und seine Mannschaft kümmern sich um die Rennautos, warten die Technik, reparieren und restaurieren. „Viele Ersatzteile stammen noch vom alten Rennteam. Wenn es keine gibt, nehmen wir die alten Konstruktionspläne her und bauen sie nach. Oder wir ziehen die Originalteile als Vorlage her“, erklärt Chapman. Die Konstruktionspläne verstaut man in riesigen Holzschubladen in einem Nebenzimmer. Auf der Ablage liegen die Originalskizzen von Chapman zum Lotus 27. Auf zwei Kisten positionieren sich zwei kleine Windkanalmodelle. Die Schweißarbeiten an den Autos werden halbstündlich abgerechnet. Andere Einnahmequellen sind der Verkauf der Rennwagen, die Vergabe von Lizenzen und das Merchandising.
Chapmans Mannschaft reist wie früher zu Rennen rund um den Globus. Die Kunden bezahlen. 2016 brüllten die Lotus-Rennwagen an 23 Wochenenden auf 25 Veranstaltungen. Auch 2017 waren sie wieder weitläufig bei Klassik-Rennen vertreten. Große Highlights sind die Rennen der FIA-Serie für historischen Motorsport. Ein großer Unterschied zu früher: Die Anzahl der Fahrer hat sich vervierfacht. „Zusammen haben es unsere Kunden 2016 auf 114 Starts gebracht“, referiert Chapman. „In 108 Fällen kamen sie ins Ziel.“ Das spricht für die Zuverlässigkeit. „Wenn man ein Auto seit 50 Jahren im Rennbetrieb einsetzt, kennt man alle Eigenschaften und Problemstellen“, scherzt er.
Im Hauptabteil der Werkstatt arbeiten die Mechaniker noch an weiteren Rennwagen. Ein Lotus 20 hängt mit seinem Überrollbügel am Haken. Die Schutzvorrichtung entspricht nicht dem Original, sondern baut deutlich höher. Die Regeln verlangen es so bei historischen Grand Prix. Das Auto entwickelte Lotus für die Formel Junior. 118 Exemplare wurden gebaut. Hinter das Cockpit steckte man einen 1,1-Liter-Vierzylinder mit rund 86 PS. Rechts vor dem Typ 20 hat sich ein Lotus 16 auf Profilreifen mit gelben Felgen niedergelassen. Damaliges Einsatzgebiet: Formel 1 und Formel 2. Der Gitterrohrrahmen bindet vor dem Cockpit einen 2,5-Liter-Vierzylinder von Coventry-Climax ein. Leistung: etwa 240 PS. „Im Prinzip ein Lotus 12 auf Steroiden“, flappst Chapman.
Es war das letzte Mal, dass sein Vater einen Motor im Fahrzeugbug installieren ließ. „Mein Vater war vom Frontmotor lange überzeugt. Er hatte seine eigenen Ideen, konnte aber auch ganz pragmatisch handeln. Wenn er gesehen hat, dass eine andere Idee besser funktioniert, hat er auf diese umgesattelt und etwas noch Besseres daraus gemacht.“ 1959 hatte Cooper mit dem T51 die Mittelmotor-Revolution eingeleitet. Chapman zog ab 1960 mit dem Lotus 18 nach.
Lotus revolutionierte mit seinen Ideen die Formel 1
Eines der Fahrzeuggestelle (Gitterrohrrahmen ca. 27 Kilo) lagert in einem Nebenraum. Mit der Startnummer 24 wie sie das Auto von Jim Hall beim GP USA 1960 getragen hatte. Stirling Moss beschenkte Lotus im selben Jahr in Monaco mit dem ersten Sieg der Teamgeschichte. Mit dem Typ 18 teilen sich noch ein Lotus 25 und 78 die wenigen Quadratmeter. Ihre Technik macht sie sexy wie Männer die ersten grauen Haare. Bob Dance wählt einen ganz pragmatischen Ansatz: „Rennsiege machen Autos attraktiv.“ Beide Autos stehen sinnbildlich für Colin Chapmans Erfindergeist. Clarks Weltmeister-Auto von 1963 revolutionierte den Motorsport mit seiner Monocoque-Bauweise. Der Lotus 78 war ein Abtriebs-Monster dank Ground Effect. Die Wirkung von umgekehrten Flügelprofilen in den Seitenkästen entdeckte Lotus durch Zufall. Der Aufbau eines Windkanal-Modells war bei zu heißen Temperaturen abgesackt. 1983 setzte die FIA dem Ground Effect ein Ende.
Überall am Teamstandort sind Motoren, Getriebeteile und Flügel verstreut. In einem weiteren Zimmer kümmern sich Mechaniker um einen Lotus 77, 81/2 und 91, der erste Lotus-Rennwagen mit einem Monocoque gemischt aus Carbon und Kevlar. Die Wand schmückt ein Foto der alten Truppe mit Graham Hill im Lotus 56 – ein Auto für das Indy 500 1968, dessen Gasturbine alle vier Räder antrieb. Das Experiment brachte nicht den gewünschten Erfolg. Wie sagte Basketball-Legende Michael Jordan einmal so schön: „Ich kann Scheitern akzeptieren. Aber was ich nicht akzeptieren kann ist, es nicht versucht zu haben.“