Bentley Bentayga 6.0 W12 4x4 im Test
Nun, Zweifel an Komfort und Fahrdynamik des ersten SUV von Bentley waren ja durchaus angebracht. 2,6 Tonnen, noch dazu auf 22-Zöllern – kann das gut gehen? Es kann. Und wie! Doch lesen Sie selbst.
Bei Bentley haben sie jetzt eine Leiche im Keller. Da schickte man doch achtlos den Praktikanten in die Archive von Crewe, um nach Vorfahren des Bentayga zu fahnden. Irgendwann fand man ihn, mumifiziert über der Firmenchronik. Tja, in der findet sich ja alles Mögliche, aber nichts auch nur halbwegs Geländegängiges.
Pech für den Prakti, Glück für den Bentley Bentayga, der ohne Rücksicht auf Tradition in Richtung Zukunft starten darf. Wenn auch mit freundlicher Unterstützung der Konzernfamilie, wobei man das mit der Verwandtschaft zum Audi Q7 in Britannien natürlich nicht so gerne hört. Selbst entspannten Marken-Fans könnte es schwerfallen, über die Audi-Lenksäulenhebel hinwegzusehen, während sie ihre Lungen nach dem Einsteigen mit diesem typischen schweren Lederduft füllen. Aahhh. Das können sie einfach bei Bentley. So wie die Auslegware, in die man sich am liebsten barfuß kuscheln würde. Oder metallene Knöpfe und Regler vom Feinsten inklusive minimaler Spaltmaße sowie straff mit Leder bezogener, wie aus dem Vollen geschreinerter Möblierung.
Bentley Bentayga und die 150.000 Euro-Uhr
Doch was ist das? In der breiten Mittelkonsole glotzen uns zwei schnöde, offene Cupholder-Höhlen an. Schwarzes Plastik. Nun ja, etwas distinguierter hätte es an dieser Stelle ruhig sein dürfen. Wir empfehlen etwa einen Blick zum Volvo XC90 mit seiner piekfeinen Verschluss-Jalousie. Okay, vergessen wir das, ebenso wie den volkswagigen Plastikgriff des Ladebodens, und finden uns damit ab, dass selbst bei Bentley nicht alles aus Holz, Aluminium und Leder sein kann.
Immerhin sind die Lenksäulenhebel mit Chrom gepimpt, die Bedientasten markenexklusiv, selbst am modernen Infotainment-System. Und erst die Rundinstrumente: mit echten Nadeln, die über Skalen streichen. Toll. Danke, dass man in Crewe gar nicht erst versucht, den Sex-Appeal von flächigen TFT-Bildschirmen herbeizuschwafeln. Was wohl auch erfolglos wäre, angesichts eines fast schockierenden Extras wie der Breitling-Borduhr (leider nicht im Testwagen): Tourbillon aus massivem Gold mit Diamant-Skala, die von einem speziellen Beweger in Schwung gehalten wird. Was das kostet? Mindestens 150.000 Euro. Ohne Bentley Bentayga. Der notiert, so wie wir ihn hier vor uns haben, um 275.000 Euro. Da darf man ruhig mal krittelig sein, für so viele große Scheine muss was gehen.
Majestätischer Zwölfzylinder mit Offroad-Ambitionen
Was außer Lack und Leder vom Feinsten noch so geht, testen wir jetzt. Startknopf drücken und – Stille. Seine Majestät W12 hält die Klappen, offeriert feinen Massenausgleich und geschulte Manieren. Sprechmusiker und andere Freunde vibrierender Hosenbeine sowie brünftiger Auspuffklänge müssen anderweitig nachrüsten, ab Werk ist der Bentayga eher distinguiert, erhebt höchstens unter Volllast volumig die Stimme.
Dabei erfand Walter Owen Bentley höchstselbst den Klappenauspuff, na ja, zumindest etwas Ähnliches: Beim Silent Sports Car ließ sich nämlich der erste Schalldämpfer per Hebel umgehen. Der Bentayga legt lieber gediegen ab, schippert dezent los. Wobei „schippern“ unpassend ist. Dank Luftfederung, Adaptivdämpfern und Wankstabilisierung liegt der 2,6-Tonner fast schon beängstigend ruhig auf der Straße. Die elektromechanische Wankstabilisierung läuft über ein separates 48-Volt-Bordnetz, arbeitet ebenso schnell wie geräuschlos. Sie spannt die Stabilisatoren an Vorder- und Hinterachse situationsabhängig quasi in Echtzeit vor, was die Aufbaubewegung kontrolliert und das Eigenlenkverhalten beeinflusst. Im Gelände können die Stabis zudem entkoppelt werden, um die Verschränkung zu erhöhen.
Aufpreisliste: Geht nicht? Gibt's nicht!
Solange einem kein Wadi vor den Wabenkühler kommt, dürfte dieses Talent eher zweitrangig bleiben. Ebenso wie die Kühlung mit drei getrennten Kreisläufen, die speziellen Offroad-Fahrprogramme plus die Fähigkeit, die Ölversorgung bis zu einem Winkel von 35 Grad in jede Richtung sicherzustellen. Dazu müssten wir jetzt schon durch den Straßengraben pflügen.
Danke, kein Interesse, zumal es dann auch den Carbon-Applikationen (Styling Specification) an die Fasern ginge: Frontsplitter, Schweller und Heckflügel sind ebenso Teil der Aufpreisbibel wie elektrisch ausfahrbare Schwellerstufen für leichteren Zustieg, Eventseats im Kofferraum für stilvolles Zuschauen unter der Heckklappe, Staufächer für Taucheranzüge sowie abschließbare Tigerkäfige. Upps, verlesen, es muss natürlich Tierkäfige heißen. Wundern würde es uns nicht – angesichts des dreiteiligen Picknicksets mit Kühlkorb und Kristallgläsern.
Bentley Bentayga schiebt brachial an
Zeit für etwas Habhaftes: den Motor. Hinterm funkelnden Kühlergrill residiert der Fünfzentner-Bursche, ein neu entwickelter Sechsliter-W12, mit 608 PS und 900 Newtonmetern. Zwei Twin-Scroll-Lader sowie kombinierte Saugrohr- (6 bar) und Direkteinspritzung (200 bar) sollen Leistung und Verbrauch unter einen Hut bringen. Okay, es ist ein großer Hut, trotz Zylinderabschaltung unter 3.000/min bis 300 Newtonmeter Drehmoment.
Genug Zahlen, jetzt muss das rechte Pedal in den Teppich. Eben noch sprachen wir von gediegenem Ablegen, jetzt liegen wir auf dem Elfmeterpunkt. Als Ball. Ein Elefant nimmt Anlauf, sein Fuß trifft das Leder, taucht für eine Millisekunde ein und – bamm. Die Front hebt sich, es drischt uns vorwärts. Kenner legen ihren Kopf schon vorher an die Stütze, sonst erledigt das klatschend die Massenträgheit.
Boah, mögen Sie denken, jetzt dreht der Autor endgültig durch. Falsch: die Messwerte drücken nur unvollkommen aus, wie es sich anfühlt, im Hochparterre nach vorn gepresst zu werden, stets perfekt versorgt von der Achtgangautomatik. Erst irgendwo bei 250 lässt der Vollgas-Jähzorn des W12 etwas nach. Walter Owen Bentley hätte seine Freude, schließlich war er mit 16 Jahren Lehrling bei den Doncaster-Lokomotivwerken und danach kurz als Heizer auf einer Express-Lok unterwegs. Später warf man ihm dann noch vor, die schnellsten Lastwagen der Welt zu bauen.
Zulässiges Gesamtgewicht von 3.250 Kilogramm
Nun, hätten alle so viel Druck wie dieser Bentley, dann wäre die Bahn immer pünktlich und Lkw führen den Brenner schneller rauf als runter. Apropos Brenner, trotz 2.584 Kilogramm Leergewicht müssen Bentayga.Fahrer für den Österreich-Transit keine Maut-Go-Box hinter die Scheibe napfen, das zulässige Gesamtgewicht bleibt mit 3.250 Kilogramm unter 3,5 Tonnen, die Zuladung beträgt 666 Kilo, die Anhängelast am elektrisch ausfahrenden Haken 3,5 Tonnen.
Wir fahren lieber solo und lassen uns vom Handling-Talent überraschen. Zunächst auf dem Handling-Parcours. Die Pylonen dort ziehen schon mal vorsorglich die Köpfe ein, als der Bentayga an den Start rollt. Aber keine Sorge: Ob Slalom oder schnelles Ausweichen, der Brummer trifft die Linie, ist sogar erstaunlich behände. Wenn mal Pylonen fliegen, dann nicht, weil er sie kickt, sondern weil sie unschuldig in seinen Sog geraten.
Bentayga verblüfft mit solidem Handling
Und auf der Straße? Da liegen ihm besonders die lang gezogenen Kurven. Gewünschtes Tempo und Linie anpeilen, fertig. Neutral und schnell frisst der Bentayga den Asphalt. Selbst Spitzkehren bekommt er hin, allerdings drückt hier die Masse spürbar. Zur oben beschriebenen Fahrwerkskompetenz gesellt sich die elektromechanische Lenkung mit variabler Übersetzung. Sicher liegt das alles auch an maßgeblichen Menschen wie Vorstandschef Wolfgang Dürheimer und Entwicklungsvorstand Rolf Frech, die für den nötigen Zug an der Entwicklungskette sorgen.
Definierte Mittellage, akkurate Rückmeldung bei jedem Winkel, passende Servounterstützung vom Rangieren bis zum Carven: Das passt einfach. Unser Tip: der sogenannte „Bentley“-Fahrmodus, der zwischen „Comfort“ und „Sport“ als Mittelweg fungiert. „Comfort“ erscheint etwas distanziert, „Sport“ fast übereifrig, beim Einlenken geraten die Vorderreifen schneller ans Limit, die Elektronik greift ein. Dazwischen lässt sich der Bentayga herrlich in weiten Sätzen über die Landstraße führen. Zügig, kalkulierbar, mit ordentlich Grip.
Guter Komfort trotz 22 Zoll
Um diesen kümmern sich 22-Zöller, die Fahrwerkern beim Thema Komfort wiederum Sorgenfalten tief wie Gletscherspalten in die Stirn zimmern. Ungefederte Massen, Rotationskräfte, Lenkeinflüsse – sie wollen beherrscht werden. Okay, Abrollen geht mit 16-Zoll-Ballonreifen besser, ein paar trockene Knuffe kommen durch, ansonsten beherrscht der SUV sein Luxus-Handwerk, hält jegliche Unbill von den Insassen fern. Wirkt weder wankig noch knochig und bleibt enorm leise.
Die Folge: Motor und Wind werden so akkurat ausgesperrt, dass vor allem bei forcierter Kurvenfahrt gelegentlich ein leises Knarzen von der Inneneinrichtung ans Ohr dringt. Andererseits unterhält man sich selbst bei Tempo 250 plus auf der Autobahn sehr entspannt, in die vier rautengesteppten Einzelsitze gekuschelt. Massage? Klar, auf allen Plätzen. Warum Sie Ihre Kopfstütze dennoch manuell rausziehen müssen? Weil das Sitzgestell vom Audi Q7 stammt, und bei dem ist das halt so. Und wenn sonst mal was vibriert, sind es die Hosenbeine, angetrieben vom Naim-Soundsystem: 1.950 Watt, 19 Kanäle und 18 Lautsprecher. Klassik kommt luftig, Rap wuchtig. Doch es ist ähnlich wie beim Auspuffsound: Das Ding kann richtig was, verzichtet aber auf optische Effekte wie ausfahrbare Hochtöner.
Überhaupt verstärkt sich nach ausgiebigem Testen der Eindruck vom No-Blingbling-Auto, denn statt auf vordergründige Effekte setzt der Bentayga auf solide technische Substanz. Manchmal hilft es eben, ohne Rücksicht auf Tradition fokussiert nach vorn zu entwickeln.