Fahrbericht Ferrari 550 Maranello

23 Jahre nach dem Produktionsende des berühmten 365 GTB/4 Daytona beginnt Ferrari mit dem neuen 550 Maranello wieder von vorn. Der neue 320 km/h schnelle Zweisitzer hat seinen 485 PS starken V12 in klassischer Manier vor den Passagieren installiert.
Auf jenem dünnen Drahtseil, das Fortschritt und Tradition miteinander verbindet, hält der 550 Maranello so traumwandlerisch seine Ideallinie wie Michael Schumacher in Monza. Der neue zweisitzige Sportwagen löst in der Ferrari-Modellpalette zwar die letzte Testarossa- Version F 512 M ab, ist aber in Konzept und Design die moderne Fortsetzung der Frontmotor- Berlinettas 250 GT, 275 GT/B und 365 GTB/4 aus den sechziger und siebziger Jahren, ohne jedoch den Fortschritt aus dem Lichtkegel der Ellipsoid- Scheinwerfer zu verlieren. Auf demhauseigenen Handlingkurs der Wahrheit in Fiorano nimmt der 485 PS starke und 1690 Kilogramm schwere 550 Maranello dem 440 PS starken und 1455 Kilogramm schweren F 512 M pro Runde drei Sekunden ab.
Der Positionstausch zwischen Motor und Passagieren erlaubte Pininfarina, so schwelgerisch im Formalismus zu wühlen wie der südamerikanische Bildhauer Fernando Botero. Von den Scheinwerfer-Kuppeln vorn bis zur Spoiler-Abrißkante am Kofferraumdeckel hinten ist der 550 Maranello ein sehr italienisches Potpourri von Wellen, Schwüngen und Rundungen, wobei im Geist des Hauses natürlich die langgezogenen, also schnellen Kurven überwiegen. Die männliche Motorhaube mit der exaltierten Ansaugöffnung, das filigrane Dach, die flache Heckscheibe und das üppige Heck wirken als Aphrodisiakum für die Augen. Diese Appetithappen an Eleganz, Aggressivität, Dynamik und Tempo spannen die Erwartung wie den Zahnriemen, der die zwei mal zwei obenliegenden Nokkenwellen des 5,5 Liter-V12 antreibt.
Das Cockpit, diese Kathedrale aus Leder und Chrom, erklärt mit sieben Rundinstrumenten, sieben Kippschaltern, fünf Drehschaltern und der offenen Schaltkulisse für sechs Vorwärtsgänge und einen Rückwärtsgang unmißverständlich, warum der Kindheitstraum vom Ferrari-Piloten Pubertät und erste Ehe überlebt und man sich dessen Erfüllung im Fall des 550 Maranello gern 324 700 Mark kosten läßt. Diese Investition scheint nicht ungünstig, wenn man die Kosten-Nutzen-Relation bei 1014,69 Mark pro km/h ansetzt: Der 550 Maranello erreicht laut Werksangabe 320 km/h Spitze. Weil die Zeiten zwar hart sind, für die Vermögenden aber nicht unbequem sein sollen, ist darin auch gleich ein Ausstattungspaket enthalten, das Ferrari-Stammkunden wie der Sultan von Brunei als puren Luxus empfinden.
Dank einer in Neigungswinkel und Länge verstellbaren Lenksäule und den fünffach elektrisch sowie dreifach manuell verstellbaren Sitzen paßt sich der 550 Maranello millimetergenau seinem Fahrer an und nicht mehr umgekehrt. Am Ritual des Losfahrens hat sich außer dem geringeren Bedienungsaufwand nichts geändert. Der Schalthebel schabt heiser die Kulisse entlang, der 485 PS starke V12 läuft ab Leerlaufdrehzahl in Samt und Seide, und beim Beschleunigen (laut Werk in 4,4 Sekunden von null auf 100 km/h) kippt die Welt aus ihren Angeln nach hinten. Elegant, leise und sauschnell huscht der 550 in den Drehzahlbegrenzer, der bei 7600/min rüde eingreift. Ferrari hat ein ganzes Jahr lang an der Klangwolke des neuen V12-Orchesters gearbeitet und zwischen „gutem Klang“ und „ schlechtem Klang“ zu unterscheiden gelernt.
Die weltweit immer strenger werdenden Geräuschauflagen und verschiedene Filter für verschiedene Tonfrequenzen gestatten einen immer noch charakteristischen, wenn auch verhaltenen Sound. Der 550 Maranello klingt laut Entwicklungschef Felisa „bei konstanten Geschwindigkeiten leise, hört sich sich aber beim Beschleunigen wie ein echter Sportwagen an“ – allerdings nur innen. Aber auch ein gedämpfter Pavarotti klingt immer noch wie Pavarotti. Die elektronische Traktionskontrolle setzt ein, wenn an einem der beiden hinteren Antriebsräder Schlupf entsteht.
Ähnlich der betont leichtgängigen, aber präzisen Servolenkung ist diese Elektronik bestrebt, den Fahrer zu unterstützen, nicht zu entmündigen. Im Normalzustand wird deshalb die Motorleistung sanft zurückgenommen. In der Sportstellung erfolgt die Traktionskontrolle dagegen über die ABSSteuerung der Hinterräder, die beide 310 Millimeter großen Scheibenbremsen individuell abbremst. Und dann läßt sich dieses ASR genannte System auch einfach ausschalten. Ferrari-Fahren besteht im wesentlichen darin, daß der 36 21/1996 Motor seine Arbeitstakte auf den Fahrer überträgt.
Diese Verbrennungsvorgänge, manchmal bis zu 7600 in der Minute, entzünden Nervenenden, von denen man vorher nicht wußte, daß es sie gibt, und lösen unter Umgehung der allgemeinen Vernunft den Flächenbrand einer mystischen Sucht aus. Der 550 Maranello liefert drei weitere Reize nach, die sich eindeutiger definieren lassen: ASR (Antriebsschlupfregelung) in Normalstellung, ASR in Sportstellung und pure Lust. Mit ASR in Normalstellung fährt sich der 550 Maranello, wie er wirkt – handlich und elegant, mit großzügigem GranTurismo- Komfort. In der Sportstellung fühlt er sich an, wie er ist – der schnellste Sportwagen der Welt aus nicht limitierter Produktion. Ohne ASR wischt der 550 Maranello so übersteuernd durch enge Kurven, wie er sein könnte – eine Renn-Berlinetta, die 250 GTO und 250 SWB rasch aus dem Windschatten verlöre.
Die Zitate aus der Geschichte sind so präzise verteilt, daß der 550 Maranello die auf 4,55 Meter Länge, 1,93 Meter Breite und 1,27 Meter Höhe komprimierte 50jährige Historie der Ferrari-Berlinetta-Modelle darstellt: Die Lufthutze auf der Motorhaube erinnert an einen 250 S, der 1952 in Le Mans eingesetzt wurde, die Entlüftungsschlitze hinter den vorderen Kotflügeln an den 275 GTB, der Aufwärtsschwung an der Kofferraumkante an den 250 GT Lusso und die durch zwei Lederriemen gesicherte Gepäckablage hinter den Sitzen im Innenraum daran, daß ein Kofferraum hinter der Hinterachse, dessen Zuladung Gewichtsverteilung und Fahrverhalten ändert, nichts als bürgerlicher Zwang ist.
Der 550 Maranello belehrt seine von Natur aus wohlhabenden Besitzer, daß Übergepäck nur beim Fliegen als Statussymbol taugt. In den kleineren Kofferraum hinten und die großflächige Ablage im Innenraum passen nur die maßgeschneiderten Gepäckstükke des Modeneser Haus-Täschners Schedoni. Zur ausgewogenen Gewichtsverteilung, die beim 550 Maranello mit fast 50:50 besser ist als beim F 512 M, trägt das mit dem Hinterachsdifferential verblockte Transaxlegetriebe entschieden mehr bei als zuviel Gepäck. Durch und durch Ferrari bis hin zu den Brembo-Bremsen, deren Hitze-Isolierung an den Kolben in der Formel 1 entwickelt wurde, stößt der 550 Maranello in Fahrbereiche vor, die in und um Maranello bisher als verpönt galten, Komfort. Als reinrassiger Zweisitzer kann er sich aber trotz Frontmotor nicht damit begnügen, nur etwas bequemer abgestimmt und ausgestattet zu sein. Nein, der 550 öffnet die neue Dimension der noch besseren Kontrolle bei jenen Tempi, für die Berlinettas gebaut werden. Knapp vor der Jahrtausendwende beginnt die Geschichte der traditionsreichsten Ferrari- Modellreihe also noch mal von vorn.