Diese Bremse muss der Kopf erst mal verarbeiten

Die breite Endrohrblende beherbergt zwei Abgasauslässe mit Klappensteuerung. Unter der mit Kühlluftschlitzen gespickten Heck-Haube sitzt der 900 PS starke V6-Biturbo.
Hybrid? Kennen wir doch schon vom LaFerrari. Stimmt. Aber der neue Hyper-Hybrid aus Maranello dreht in Sachen Performance erst so richtig auf. Grenzbereichserfahrung im 1200 PS starken F80, von dem Ferrari sagt, er sei ein zweisitziger Einsitzer.
Vergesst die Bilder. Ihr müsst ihn gesehen haben. Und gehört. Ja, ein Ferrari ist nicht einfach ein Auto, sondern etwas für die Sinne. Sinnvoll? Irrelevant. Auf die Emotionen kommt’s an. Und davon liefert dieser hier ganze Containerschiffsladungen ab. Gestatten: Ferrari F80. Doch bevor wir über Fahrgefühle sprechen, braucht’s ein kleines Intro.
Die 1.138 Millimeter flache Flunder wirkt besonders breit und gestreckt im Vergleich mit ihrem fast schon filigran anmutenden Vorgänger, dem LaFerrari. Zum einen wegen der farblich abgesetzten Spange am Bug, zum anderen wegen der zwischen den Radhäusern kaum taillierten, kantigen, wenig schwungvollen Karosserie, die ein wenig an einen Lego Technic-Bausatz erinnert.
1,8 Meter langer Diffusor, über eine Tonne Abtrieb bei 250 km/h
Vorn leiten kleine Kanäle Luft zu den von Brembo entwickelten Sechskolben-Carbon-Keramik-Scheibenbremsen, große Kanäle verlaufen durch die Karosserie, um Abtrieb zu generieren, die Luft so über und unter die Karosserie zu legen, dass die sieben Kühler (drei vorn, vier hinten) und das Flügelwerk am Heck optimal angeströmt werden. Von unten sieht der F80 aus wie ein Modellauto: geschlossener Boden, Luftleitwerk, 1,8 Meter langer Diffusor. Ganz hinten, noch hinter der Achse, versteckt sich beinahe schüchtern ein breiter Flügel, der sich erst bei über 80 km/h hinaus traut, von vier E-Motoren in Höhe und Anstellwinkel gesteuert wird. Auf der Geraden steht er flach, beugt sich dem Orkan. Beim harten Verzögern stellt er sich ihm mit einem Winkel von bis zu elf Grad entgegen, erzeugt auf diese Art aerodynamischen Grip, sprich Abtrieb. Wie viel: bis zu 1.050 Kilogramm bei 250 km/h – ungefähr doppelt so viel wie beim LaFerrari.
Statt der mächtigen, minimal stromunterstützten V12-Saugmaschine des Vorgängers tobt im F80-Heck ein V6-Biturbo mit dem kryptischen Namen F163CF, Zündfolge 1-6-3-4-2-5, 120 Grad Zylinderbankwinkel, dazwischen die Lader – elektrisch beschleunigt, im ständigen Kampf gegen das Turboloch. Den Dreilitermotor kennen wir aus dem 296 GTB, hier wurde er aber von Ventil bis Kurbelwelle feingetunt, besonders tief und nah an der Fahrgastzelle installiert. Leistung pro Liter? 300 PS. Dreihundert! Kleiner hatten sie es wohl nicht.
Strom von vorne und von hinten – mit 800 Volt Spannung
Und als wäre das alles nicht genug, treiben eine E-Maschine (MGU-K, 8,8 kg schwer) mit 60 kW hinten sowie zwei Permanentmagnet-Motoren an der Vorderachse (je 105 kW und 12,9 kg schwer) das Leistungsspektakel auf die Spitze. Die MGU-K hat gleich mehrere Aufgaben: Sie startet den Verbrenner blitzschnell und vibrationsfrei, unterstützt ihn beim Beschleunigen und rekuperiert als Generator mit bis zu 70 kW elektrische Energie in die 2,28 kWh-Batterie (39,3 kg, 800 Volt-Bordnetzspannung), wenn der V6 davon gerade zu viel übrig hat, oder man aufs Bremspedal tritt.
Die vorderen E-Maschinen werden variabel und radspezifisch eingesetzt, erzeugen so einen Torque Vectoring-Effekt, wobei Drehmoment so eingesetzt wird, dass der Vorderwagen noch mehr nach Kurven giert, die Fuhre agilisiert und gleichzeitig stabilisiert. Das Schöne dabei ist, dass man nichts weiter tun muss: Welches Triebwerkteil wann wie viel Power in welche Richtung schickt, organisiert die ausgeklügelte Software im Hintergrund von ganz alleine.
Apropos stabil: Ein maßgeblicher Baustein für die F80-Performance ist auch das aktive Fahrwerk, mit beinahe in der Horizontalen angeordneten Pushrod-Elementen, bestehend aus adaptiven Dämpfern und Titanfedern vom kanadischen Spezialisten Multimatic. Je nach Fahrsituation wird die Karosserie um bis zu 30 Millimeter abgesenkt, was den Schwerpunkt abermals senkt und die Performance steigert, die Seitenneigung auf ein Minimum reduziert.
Auf ein Minimum reduziert wurde auch die Fahrgast-Kanzel, die auf dem Papier 16 Zentimeter schmaler sein soll als beim LaFerrari. Trotzdem bleibt ausreichend Platz nach rechts und links, stößt man sich weder die Ellenbogen an den tief ausgeformten Türinnenverkleidungen noch den Helm am Dachhimmel. Der Fahrersitz ist längs manuell einstellbar – jedoch nur längs, der Beifahrer dagegen hockt direkt auf dem mit dünnen Polstern versehenen Carbon-Monocoque, aus ergonomischen Gründen um 3,5 Zentimeter nach hinten versetzt. Wie in jedem Standard-Golf kann man auch im F80 das Lenkrad vertikal und axial einstellen, mit dem Unterschied, dass das Digitalinstrument fest mit der Lenkkonsole verbunden ist, so immer optimal im Blick bleibt. Das Volant selber ist oben und unten abgeflacht, rechts und links dahinter stecken fest stehende Schaltpaddel, im Kranz selber ist eine LED-Leiste untergebracht, die dir mit sieben roten und zwei blauen LEDs den optimalen Schaltzeitpunkt illustrieren.
Grüne Ampel für ein Festival des Fahrvergnügens
Kurzer Blick gen Ausfahrt Boxengasse: Längst leuchtet die grüne Ampel. Mit einem Touchscreen-Klick am Lenkrad startet der Verbrenner quasi vibrationsfrei, bellt kurz los, um dann bei knapp unter 1.000 Touren erstaunlich kultiviert kurbelnd in Ruhestellung zu verharren. Noch ein Touch-Klick und wir wechseln vom Hybrid in den Performance-Modus, zwei Klicks am Manettino-Drehregler, schon ist das Race-Programm aktiviert. Heißt: volle Antriebspower und längere Leine der Stabilitätssysteme.
Mit Tempo 60 tuckert der Über-Ferrari durch die Boxengasse von Vallelunga, dritte Welle, mittlere Drehzahl. Ein leichter tritt aufs Gaspedal und das E-Lader-Duo – jeweils zwischen Turbine und Verdichter implantiert – packt zu, bringt die Turbos sofort in Fahrt, macht die MGU-K dem Sechszylinder Beine, schiebt die mit allen Flüssigkeiten gut 1.615 kg schwere Fuhre dermaßen an, als seien die physikalischen Gesetze kurz außer Kraft gesetzt. Aber nur ganz kurz. Denn erstens gibt’s Vollstromer, die noch heftiger anschieben, hast du dich zweitens an den Schub schon nach zwei, dreimal Durchladen gewöhnt und wirken kurz danach Kräfte auf dich ein, die noch mehr beeindrucken: Verzögerung und Querbeschleunigung. 1,9 respektive 1,7 g zeigt das Instrument später als Maximalwerte an.
Speziell an die Bremse (408-Millimeter-Scheiben vorn, 390 Millimeter hinten) musst du dich erst einmal gewöhnen. Nicht, weil der Druckpunkt im Vergleich zu Brot-und-Butter-Vehikeln recht hart ist und das System ohne direkte Verbindung zwischen Pedal und Kolben auskommt (Brake-by-Wire). Nicht, weil das Bremspedal einen Tick zu breit geraten ist und man beim Gasgeben aus Versehen schon mal gleichzeitig die Bremse antippt. Auch nicht, weil das ABS im absoluten Grenzbereich auf minimal welligen Abschnitten für leichte Zuckungen an der Vorderachse sorgt.
Omnibuslängen zwischen Fahrzeug und Kurveneinlenkpunkt
Nein, an all das hat man sich schnell gewöhnt, steht dem fulminanten Fahrerlebnis kaum im Weg. Vielmehr ist es die Bremsleistung, die du im Oberstübchen erst einmal verarbeiten musst, bevor du auch nur ansatzweise in der Lage bist, sie an der richtigen Stelle voll abrufen zu können. 98 Meter aus 200 km/h bis zum Stillstand Bremsweg gibt Ferrari an. Gut, das glauben wir erst, wenn wir’s selber gemessen haben. Doch auch, wenn’s tatsächlich ein paar Meter mehr sein sollten: In der Kennenlernphase hast du den F80 bereits auf Kurveneingangstempo verzögert, da liegen noch Omnibuslängen zwischen dir und dem Einlenkpunkt. Also von Kurve zu Kurve steigern, immer später bremsen, bis du diesen gewissen Flow erreichst, in dem du sogar tief in die Kurve hineinverzögerst, die unglaubliche Stabilität dieses knapp zehn Quadratmeter einnehmenden Kohlefaser-Konstrukts für gottgegeben hältst, obwohl dafür wahrscheinlich die Rechenleistung einer Mondrakete nötig ist, um das Orchester an Steuerungen und sämtliche Komponenten aufeinander abzustimmen.
Und dann muss natürlich auch das Auge mitmachen, das die Strecke liest, Infos an die Hände weitergibt, die den Ferrari F80 übers Lenkrad optimal für den Kurvenausgang positionieren. Denn trotz aller Stabilität, Fahrbarkeit und Vertrauen: du bist hier auf engem Raum und in nullkommanix mit Geschwindigkeiten unterwegs, die weit jenseits des Gewöhnlichen liegen, reißen die bis zu 9.200/min V6-Maschine und die bis auf 30.000 Touren eskalierenden E-Maschinen dermaßen an, dass du in einen regelrechten Tempo-Tunnel gerätst, das Außenrum verwischt.
Eingangs piano, dann geduldig, Boost am Ausgang
Deshalb heißt es im Hyper-Hybrid: Am Kurveneingang schon an den Ausgang denken, besser noch gleich an die Kurve danach. Denn trotz griffiger Michelin Pilot Sport Cup 2 R-Bereifung schiebt der F80 im Grenzbereich immer ein wenig über die 285er-Vorderräder, kündigt das aber glasklar an. Also entweder piano in die Kurve rein, rund fahren und im Verlauf nicht die Geduld verlieren und erst wieder kräftig aufs Gas treten, wenn die Räder schon fast wieder geradestehen. Oder eben die Kurve eckiger nehmen, in einem V statt einem runden U, was ein bisschen Geschick erfordert, weil das Heck unter normalen Umständen wenig Sperenzchen macht, sich die zur Schulter abnehmend profilierten 345-Hinterreifen meist kräftig in den Asphalt stemmen.
Beim Umsetzen aber brauchst du eine gewisse Losgelöstheit im Heck für das Momentum des Eindrehens. Damit du die Kurve anschließend schnell hinter dir lassen kannst, hilft die sogenannte Boost-Optimierung. Bedeutet: Ist das System aktiviert, beginnt es zu lernen, legt den vom Fahrer abgerufenen Leistungsbedarf mit GPS-Koordinaten übereinander, liest die Strecke quasi und stellt beim nächsten Umlauf die optimale Kraft an der richtigen Stelle eher zur Verfügung. Und in der Übernächsten noch pointierter.
Stabiles Heck, nachhaltig performanter Cup 2 R-Semislick mit K1-Kennung
Ein kleiner Hemmschuh ist aber nicht bloß das stabile Heck, sondern auch die Reifenmischung des Michelin Cup 2 R mit dem K1-Kürzel auf der Flanke, das auf die spezielle Ferrari-Abstimmung hinweist. Struktur, Karkasse und Compound sind nicht so radikal auf’s letzte Quäntchen Performance und diese zwei, drei superschnellen Rundenzeiten ausgelegt, wie bei den Herrschaften aus Weissach oder Affalterbach, sondern ist der Pneu mit einer etwas härteren Lauffläche ausgestattet. Effekt: Der Reifen nutzt weniger stark ab, sammelt weniger Gummiabrieb auf, erreicht sein Limit in mittelschnellen und langsamen Kurven jedoch eher.
Ein Kompromiss eben, den Ferrari mit Blick auf die kaufkräftige Kundschaft eingeht, denn der F80 soll gleichzeitig ein Gran Turismo sein, cruisen können, mit einer guten Portion Restkomfort und Langstreckentauglichkeit. Auch das kann der F80, orgelt der V6 für Sportwagengeschmäcker fast schon zu sehr entkoppelt im achten Gang über italienische Landstraßen, hält der Tempomat auf Wunsch Geschwindigkeit und Abstand. Geradeauslauf: erstaunlich gut. Federungskomfort: in der soft-Stellung ordentlich. Übersichtlichkeit: naja. Am besten nimmst du einen Beifahrer mit, der beim Abbiegen die rechte Flanke im Blick hat. Alles andere organisierst du über klobige Außen- und einen digitalen Innenspiegel. Denn die Sicht nach hinten versperrt der kleine Kofferraum (35 Liter) auf Kopfstützenhöhe). Kleinkram passt hinter die Mittelkonsole, inklusive Induktiv-Ladefläche und zwei USB-C-Buchsen. Becherhalter gibt’s nicht, dafür ein kleines Netz im Beifahrerfußraum. Auch den unvermeidbaren Spurhalteassistent hat der F80 an Bord (lässt sich aber mit zwei Klicks deaktivieren) und ein Head-up-Display, dessen Kunststoffrahmen bei direkter Sonneneinstrahlung sich in der Windschutzscheibe spiegelt. Bestens im Blick: Das breite Digital, minimal individualisierbare Digitalinstrument, dessen Inhalte man mit kleinen Lenkradtasten (kein Touch!) steuert. Dass ein Onboardnavi fehlt, stört gar nicht, weil Apple CarPlay und Android Auto an Bord sind, sämtliche Smartphone-Inhalte direkt aufs Instrument hinterm Lenkrad projiziert werden können.
Sechste Welle, 270 km/h und gut eine Tonne Abtrieb
Zurück auf die Rennstrecke. Wie stark die G-Kräfte an deinem Genick zerren können, lässt sich am besten Ende Start-Ziel erfahren, wo du mit knapp 270 Sachen in der sechsten von acht DKG-Wellen angeflogen kommst, auf rund 200 km/h verzögerst und gleichzeitig einmal runterschaltest. Alles erledigt? Dann das Einlenken nicht vergessen, und zwar nach rechts, unter zug und leicht beschleunigend durch die Senke schieben. Lenkung aufmachen, ganz fein aber bestimmt Kurs nach Backbord nehmen, Leistung nachlegen, auf die nächste Gerade, mit einem ordentlichen Schalt-Hieb wieder in den Sechsten. Das Tolle dabei: Auch als Zuschauer wird die extreme Aerodynamik erlebbar, und zwar akustisch, wenn der F80 sich wie ein Jet mit hochfrequentem Zischen in die Kurve legt. Wie gesagt, man muss ihn nicht nur gesehen haben, sondern auch gehört.