Lamborghini Gallardo Superleggera im Supertest
Der Handlungsdruck kommt nicht von Kundenseite, sondern in Form des demnächst erscheinenden R10 der Konzernmutter Audi. Mit der 530 PS starken Leichtbauvariante Superleggera positioniert Lamborghini den Gallardo vorsorglich im fahrdynamischen High-End-Bereich.
Das physikalische Gesetz, nach dem auf eine Aktion zwangsläufig eine Reaktion folgt, findet im modellpolitischen Ränkespiel zwischen Lamborghini und Audi auch für Nichtphysiker eine leicht nachvollziehbare Bestätigung. Der öffentlich stark beachtete Auftritt des neuen Audi R8, der Teile seiner Substanz mit dem vor mittlerweile vier Jahren auf den Markt gebrachten Konzernbruder Lamborghini Gallardo teilt, und der als Produkt eines erfolgsverwöhnten Großserienherstellers nahe liegender Weise sowohl über den Preis als auch über angepasstere Umgangsformen einer breiteren Käuferschicht zugänglich gemacht wurde, hat im norditalienischen St. Agata notabene die Alarmglocken schrillen lassen.
Die Reaktionsmöglichkeiten auf die deutsche R8-Initiative, die im zehnzylindrigen R10 eine aus Audi-Sicht logische Fortsetzung findet und den Druck auf Lamborghini weiter erhöht, sind quantitativ eher begrenzt. Denn hinsichtlich des pfiffigen technischen Layouts des allradgetriebenen Gallardo ist ein Eingriff weder nötig noch möglich. Und auch auf dem Motorsektor wird der aktuelle Status quo wohl kaum in Frage gestellt werden. Oder etwa doch?
Absetzen von der Konkurrenz aus Ingolstadt
Das vielerorts praktizierte Downsizing, die mögliche Reduzierung der Zylinderzahl auf acht durch den Zugriff auf das umfangreiche Motoren-Baukastensystem von Audi, könnte Balsam für die angefressene Lamborghini-Seele sein – sozusagen als Kompensation für die feindliche Übernahme des Gallardo-Konzepts ins Audi-Portfolio. Aber seien wir ehrlich: Ohne die Hilfe aus Ingolstadt wäre der Gallardo nicht das geworden, was er ist – mehr noch: Es gäbe ihn gar nicht. Denn er kam aus dem Nichts, völlig unbefleckt und unberührt. Ohne Stammbaum und ohne Renn-Vita. Dafür mit weit verzweigten Wurzeln nördlich und südlich der Alpen – nach modernsten Gesichtspunkten konditioniert und imagemäßig losgelöst von geschichtlichen Zwängen und Rechtfertigungsdruck. Nicht umsonst verschaffte er sich mit der Wucht seiner reizenden technischen Argumente und mit der Überzeugungskraft seiner kühnen Linienführung spontan einen viel beachteten Auftritt.
Mit einer achtbaren Punktesammlung im sport auto-Supertest –> 61 von 70 möglichen – ließ er zu aller Überraschung im heißen Herbst 2003 sogar wahre Sportwagen-Ikonen wie den Porsche 911 Turbo (57 Punkte) hinter sich. In Zeiten, in denen Konzernmütter selbst unverhohlen zum Angriff auf die kleinen Töchter blasen und nebenher tradierte Sportwagen-Bastionen angreifen, heißt es folgerichtig, sich technisch intelligent zu wappnen – und nicht den Beleidigten zu spielen. Dass die Verantwortlichen bei Lamborghini dabei nicht gleich den Turbolader oder gar den Kompressor als probates Mittel zur kurzfristigen Abstandswahrung gegenüber der R8- beziehungsweise künftigen R10-Konkurrenz eingesetzt haben, ehrt sie.
Der aufwendigere und vor allem gegenüber dem überwiegenden Teil der Kundschaft schwieriger zu vermittelnde Weg der Gewichtsreduzierung gilt unter Kennern der Szene zwar mittlerweile als Königsweg, dieser hat aber den Nachteil, kostenmäßig schwer ins Kontor zu schlagen. Das vom Hersteller angekündigte Mindergewicht von 100 Kilogramm verteuert den Superleggera gegenüber dem Basis-Gallardo nämlich um mehr als 20 Prozent. Für den Metzgermeister an der Ecke heißt das: zwei Zentner weniger Auto für einen Mehrpreis von rund 30.000 Euro – eine Kröte, die nur schwer zu schlucken ist.
Allein auf die gesteigerte Dynamik durch das auf nunmehr 1.528 Kilogramm reduzierte Gewicht (bisher: 1.613 Kilogramm) zu setzen, war den zu Rate gezogenen Marketingexperten aber dann doch wohl zu gewagt. Infolgedessen wurde der mechanisch völlig unveränderte Zehnzylinder im Superleggera-Umfeld spontan einer zusätzlichen, vermutlich aber auf Plazebo-Effekten basierenden Dopingkur unterzogen. Die Leistung wurde kurzerhand von bisher 520 auf 530 PS bei um 200 Touren erhöhter Drehzahl (8.000/min) angehoben. Ein optimiertes Steuergerät ebenso wie eine leichtere Abgasanlage, die wegen des geringeren Gegendrucks zumindest eindrucksvollere Töne produziert, verantworten die knapp zweiprozentige Leistungssteigerung am obersten Ende der von Haus aus extrem breiten Drehzahlspanne. Der Drehmomentwert ist mit maximal 510 Newtonmeter bei 4.250/min exakt derselbe wie bei den bisherigen 500 und 520 PS starken Ausbaustufen des Fünfliter-V10-Triebwerks.
Marginal mehr Leistung
So schön sich nominelle PS-Steigerungen auf dem Prospektpapier machen, so verhalten reagieren Kenner der Materie auf Versprechen dieser Art – wohl wissend, dass eine zweiprozentige nominelle Steigerung faktisch im Bereich der serienmäßigen Leistungsstreuung völlig untergehen kann. Tatsächlich bleibt eine messtechnisch belegbare Wirkung aus: Mit der Zeit von 4,0 Sekunden sprintet der Superleggera nicht eine Zehntel Sekunde schneller aus dem Stand auf Tempo 100 als noch die gewichtsmäßig deutlich stärker belastete Basisvariante aus dem Supertest in Heft 12/2003. Bis 200 km/h realisierte der damals bei kühlen sieben Grad Lufttemperatur supergetestete Gallardo der ersten Stunde sogar einen um sechs Zehntel Sekunden besseren Beschleunigungswert als die aktuelle, bei warmen 20 Grad Celsius Außentemperatur gemessene Leichtbauvariante – und das mit nominell 30 PS weniger.
Eine Erklärung für die gleichfalls schlechteren Durchzugswerte liefern neben dem Hinweis auf die Temperatureinflüsse und die üblichen Leistungsstreuungen die im Zuge der Modellpflege veränderten Übersetzungsverhältnisse. Wie dem auch sei: 13,6 Sekunden können eine verwöhnte Klientel durchaus vom Hocker reißen, noch dazu, wenn der Sprint so locker-flockig aus dem Handgelenk heraus funktioniert wie im Superleggera.
Mit dem serienmäßig installierten E-gear, dem automatisierten, per Schaltwippen bedienten Sechsganggetriebe unter den Fingern, stellt die Übung im Zusammenspiel mit dem permanent wirksamen Allradantrieb keine allzu große Herausforderung dar: Vollgas geben, zweimal spätestens bei 8.500/min schalten und Augen geradeaus – mehr wird eigentlich nicht verlangt. Der Pfeil aus St. Agata zoomt sich dann unter Hinterlassung schwarzer Spuren und einer grandiosen Klangschleppe ähnlich eindrucksvoll in Richtung Horizont wie ein tieffliegender Tornado.
Tempo 200 erledigt der Lambo souverän im dritten Gang, der im Ernstfall bis 221 km/h reicht. Im ellenlangen sechsten Gang sind theoretisch sogar 411 km/h drin – knapp 100 km/h mehr als die Fahrwiderstände letztlich erlauben. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt 315 km/h. Die starke optische Präsenz sogar in der vermeintlich unauffälligen Lackierung in Militärjet-grau lässt es allerdings wenig sinnvoll erscheinen, in der Öffentlichkeit durch Darbietungen dieser Art noch weiter auffällig zu werden. Der fast unvermeidliche Katapultstart an der Ampel durch die sehr abrupt einrückende, automatisierte Kupplung und das im manuellen Modus von laut bellenden Zwischengasstößen begleitete Herunterschalten wird im Alltag gemeinhin schon als genug der Show empfunden.
Ohne Katapultstart geht es an der Ampel nicht
Aber die Gewissheit, alles andere als ein Showcar, sondern eine italienische Spezialanfertigung für die intime Erforschung des Grenzbereichs unter dem Hintern zu haben, trägt die Besatzung ohne Demutshaltung sicher bis zur nächsten Sonderprüfung – sofern das Körpermaß von sagen wir 1,85 Meter nicht überschritten wird. Die geringe Kopffreiheit unter dem schönen grauen Alcantara-Himmel stellt für größer gewachsene Piloten mit Sicherheit ein Kaufhindernis dar, besonders dann, wenn hier und da auch mal Kopfschmuck in Form eines Helms angelegt werden soll. Von der geringen lichten Höhe des Cockpits abgesehen, sind weitere Einschränkungen ergonomischer Art nicht zu beklagen. An griffigen Schlaufen werden die innen mit edlem CFK verkleideten Türen zugezogen. Die professionellen Schalensitze schmiegen sich nach dem mehr oder weniger eleganten Entern des extrem tief gelegenen Cockpits perfekt um jede gängige Körperstatur. Wenn das fehlende Kupplungspedal als Normalität akzeptiert ist und das ebenso mit Alcantara bezogene Lenkrad fest in den Händen liegt, dann schnellt die Herzschlagfrequenz automatisch in die Höhe.
Für Hypertoniker könnte also schon ein unbewegter Superleggera zur Gefahr werden. Ganz im Ernst: Dass der Blutdruck anfangs steigt, hat nicht etwa mit dem gewaltigen Klangrepertoire oder mit den bei Schleichfahrt sehr dominanten mechanischen Geräuschen zu tun, sondern mit einer Eigenart, die sonst nur bei reinrassigen Rennfahrzeugen zu beobachten ist. Im kalten Aggregatzustand erschließen sich die Möglichkeiten fahrdynamischer Art nämlich nur bedingt, weil die Reifen – Sportversionen der Marke Pirelli P Zero Corsa – dann in einem für sie unpassenden Temperaturfenster arbeiten müssen. So schiebt der Gallardo Superleggera in der Kaltlaufphase mit einer Beharrlichkeit über die Vorderräder, die fast an Arbeitsverweigerung grenzt.
Die Fahrwerk-Abstimmer haben es tatsächlich etwas zu ernst mit ihrer Verantwortung gegenüber der Kundschaft genommen, und die Fahrwerkscharakteristik entsprechend dominant in Richtung sicherheitsbetonter Untersteuerneigung getrimmt. Vor der Annäherung an die Limits heißt es daher nicht nur (bildlich) in die Hände spucken, sondern vor allem auch die Reifen warm fahren. Schon bei dieser Gelegenheit fällt auf, dass die optionale, für happige 14.280 Euro in der Preisliste stehende Karbon-Keramik-Bremse noch etwas pflegebedürftig ist. Das deutliche Nicken der Kopilotin auf dem Weg zum Hotel ist nicht etwa Zeichen begeisterter Zustimmung, sondern schlicht eine Folge des schon bei sanfter Betätigung abrupten Ansprechverhaltens der Bremse. Auf der anderen Seite des Leistungsspektrums, also bei energischer Betätigung des Bremspedals, ist es dagegen ein weicher, fast teigiger Druckpunkt, der in Extremsituationen sogar ein leichtes Unsicherheitsgefühl verursachen kann, weil die Verzögerung subjektiv etwas verzögert einsetzt. Eine weitere Auffälligkeit lässt sich aber auch an den Verzögerungsleistungen selbst ablesen.
Die Bremse packt zu schnell zu
Der im stark erhitzen Aggregatzustand unternommene Bremsversuch aus 200 km/h zeigt nämlich ein deutlich schlechteres Ergebnis (10,3 m/s²) als die vorangegangenen Messungen (11,4 m/s²), was faktisch nicht etwa durch Fading verursacht wurde, sondern durch das Blockieren einzelner Räder im Tempobereich von 50 km/h abwärts. Ein ähnlich gelagertes Bremsverhalten wurde bereits anlässlich des Wintertests in Finnland notiert, als der Gallardo den Fahrer beim Bremse. zudem mit seitlichen Ausbruchversuchen des Hecks konfrontierte, und zwar auch auf den letzten Metern. Weil das Grundtempo des Gallardo Superleggera erheblich näher an seiner Vmax liegt als im Schritttempobereich, sehen wir generös von weiterer Anklageführung in diesem Punkt ab und huldigen den fahrdynamischen Talenten, die die Leichtbauversion in mehreren Punkten noch stärker auf die Spitze treibt als die Basisversion. Mit der Höchstpunktzahl 10 in Hockenheim, im 36-Meter-Slalom und im Ausweichtest sowie weiteren Spitzenresultaten dehnt der "kleine" Lamborghini das Leistungsspektrum ganz in erhofftem Maße aus – und tritt damit den wichtigen Beweis an, dass weniger (Gewicht) wirklich mehr ist.