Porsche 911 Turbo (996) im Supertest
Bisher gelang es noch jedem der vier Vorgänger, als Meilenstein im Sportwagenbau zu reüssieren. Ob dies dem neuen 911 Turbo auch gelingt?
Unvermittelt mit dem Höhepunkt zu beginnen, ist dramaturgisch sicher der falsche Weg, um einen interessanten Spannungsbogen aufzubauen. Aber dieses spezielle Pferd zäumt man am besten von hinten auf. Denn in der legendären Sportwagen-Inszenierung mit Namen 911 Turbo steckt eine Programmvielfalt, die wahrhaft bühnenreif ist. So darf die im Vorfeld viel diskutierte Frage, ob der neue, 420 PS starke Turbo die Acht-Minuten-Schallmauer auf der Nordschleife des Nürburgrings durchbricht, mit einem klaren Ja beantwortet werden. 7.56 Minuten lautet das Resultat einer einzigen fliegenden Runde auf der 20,6 Kilometer langen Berg-und-Tal-Bahn, die nach übereinstimmender Expertenmeinung das perfekte Profil dafür bietet, den Ist- vom Sollzustand zu unterscheiden. In Kenntnis dieser atemberaubenden Perspektive erscheint einem dieser, mittlerweile fünfte Spross der Turbo-Dynastie als einer, der es faustdick hinter den Ohren hat. Denn von einem krawallartigen Auftritt ist der 911 Turbo des Jahrgangs 2000 weit entfernt. Die laute Attitüde geht ihm genauso ab wie prolohaftes Halbstarken-Gehabe. Grobschlächtiges Spoilerwerk ist nicht seine Sache. Der Turbo sieht überhaupt nicht so aus, als trachte er danach, Rundenrekorde zu brechen.
Der 911 Turbo ist kein prolohafter Halbstarker
Die elegante, glatt gekämmte Art des gepflegten Grand Tourismo forderte im Vorfeld schon Kritik heraus: Von einer Aura der Langeweile war zunächst die Rede. Und von Mangel an reizvollem Luxus. Sterile Sachlichkeit wurde auch bemängelt. Der schlimmste Vorwurf lautete: Die Emotion finde immer weniger Nahrung. Beträchtliche Nebenwirkung hat in diesem Zusammenhang zweifellos der hohe Preis: Mit einer stolzen Summe von einer knappen Viertelmillion Mark ist man dabei, sofern ein paar Extras aus dem reichhaltigen Fundus des Werksangebots auf der Wunschliste stehen. Ein größerer als der kleine 64-Liter-Tank, oder ein erweitertes Kofferraumangebot (nur 100 Liter Fassungsvermögen) ist im Zubehörprogramm allerdings nicht zu finden. Es ist also zunächst nicht ganz einfach, schlüssige Gründe für die Bereitschaft aufzuführen, einen solchen exorbitanten Preisaufschlag gegenüber dem Basis-Carrera oder dessen sportlichstem Ableger, dem 911 GT3 (179.500 Mark) zu akzeptieren – solange der Turbo steht. Sobald er rollt, bleibt nichts mehr wie es war.
Der 911 Turbo verdreht allen und jedem den Kopf. Die Art und Weise, wie er mit der Trägheit der Masse umspringt, ist beispiellos. Es ist nicht allein die schiere Beschleunigung, die sich als wundersames Bewegungsmuster im Hirn eingräbt und – nur einmal genossen – süchtig macht. Die coole Lässigkeit ist es, die begeistert. Kein Pfeifen der Turbinen, keine Nebengeräusche des Überdruckventils – nur ein dumpfer, sonorer und sehr dezent ins Cockpit übermittelter Wohlklang erreicht die Gehörgänge. Die akustische Harmonie im Cockpit wird weder durch nervendes Heulen des Fahrtwindes noch durch übermäßig laute Abrollgeräusche der breiten Reifen gestört. Hohes Tempo im Turbo: Das sieht aus, als stünden die anderen Autos auf der rechten Spur, und es fühlt sich so unspektakulär an, als befind man sich auf der Ideallinie zwischen Kaffeefahrt und Sonntagsausflug. Der Respekt vor der Geschwindigkeit – das ist die Kehrseite der Medaille – geh in diesem Umfeld sehr leicht verloren, zumal nach jeder Unterbrechung des Geschwindigkeitsrausches das zuvor gefahrene Tempo umgehend wieder erreicht ist – quasi auf Knopfdruck und ohne zu schalten. 250, 280 oder 300 km/h? Kein Problem.
Einziger Verlust im 911 Turbo - Der Respekt vor der Geschwindigkeit
Der Sechszylinder-Biturbo drückt von hinten wie ein Ochse. Er tut dies aber so kontinuierlich und geschmeidig, als habe er bei der artfremden Fraktion der Elektromotoren Anleihen genommen. Der Terminus „Turboloch“ existiert in der Umgebung des neuen Porsche-Topmodells einfach nicht mehr. Nur ein Zucken das Gasfußes reicht, und der Turbomotor reagiert so aufmüpfig, als sei er mit Nitro gedopt. Wie schnell der Druckaufbau durch die beiden Turbolader zustande kommt, offenbart in letzter Konsequenz die Beschleunigungsprüfung auf der Messgeraden in Hockenheim. Trotz geringer Drehzahl am Start (knapp 2.500/min) und mit Schwung eingerückter Kupplung springt der Turbo so vehement vom Fleck weg, als sei hinter ihm ein Brandsatz gezündet worden. Der Ladedruck, respektive die Leistung reicht also schon in dem Teillastbereich des erhöhten Leerlaufs aus, um das mit vorzüglicher Traktion gesegnete, immerhin 1.569 Kilogramm schwere Allrad-Coupé so gewaltig in Richtung Horizont schießen zu lassen.
In Zahlen ausgedrückt ergibt sich folgendes Bild: In 4,2 Sekunden – das entspricht exakt der Werksangabe – beschleunigt der 911 Turbo (voll getankt und mit zwei Personen besetzt) auf 100 km/h. Nach 14,6 Sekunden ist Tempo 200 erreicht. Nur 5,2 Sekunden lang dauert es, um aus dieser Geschwindigkeit wieder zum Stillstand zu kommen. In Weg umgerechnet entspricht das einer Distanz von 144,2 Metern. Die kombinierte Beschleunigungsprüfung (0-200-0) erledigt der 911 Turbo somit in einer Gesamtzeit von nur 19,8 Sekunden. Die nochmals verstärkte Bremsanlage – leider noch ohne die ab Herbst lieferbaren, rund 50 Prozent leichteren Keramik-Verbundscheiben – führt wieder mal exemplarisch vor, was Stand der Technik ist: eine unter allen Um- ständen perfekte Dosierbarkeit und die Arbeitsweise eines ABS, das sein Regelwerk selbst bei Renntempo und stark wechselhaften Haftungsbedingungen der Reifen überaus sensibel ausführt. Der Turbo bleibt auch bei den Extremverzögerungen von bis zu 10,9 m/s² so stabil in der Spur, als würde er von Zauberhand geführt. Das beim Messprozedere erforderliche Engagement deckt im Übrigen eine Schwäche des Seilzugmechanismus auf, der anstatt eines starren Gestänges als Verbindung zwischen Schalthebel und Sechsganggetriebe fungiert.
Der 911 Turbo lässt sich ohne Probleme extrem abbremsen
Bei sehr schnell vorgenommenen Gangwechseln, speziell vom ersten in den zweiten Gang, kommt die Synchronisation nicht mehr mit, worauf die Getrieberäder sehr hässliche Geräusche von sich geben. Sie sind übrigens nun nicht mehr auf die Getriebewellen aufgeschrumpft, sondern wie im Rennsport zwecks schneller Wechsel nur noch aufgesteckt. Im Normalbetrieb überzeugt die Schaltung jedoch durch eine vorzügliche Haptik. Ausgelöst mit wenig Kraft am Schalthebel fallen die Gänge quasi von selbst rein. Auch die Kupplung arbeitet mit außergewöhnlich geringer Bedienkraft. Angesichts des riesigen PS-Angebots und – mehr noch – des bärigen Drehmoments von 560 Newtonmetern überrascht diese Leichtigkeit im direkten Umfeld solch gewaltiger Machtgrößen. Dasselbe gilt zunächst auch für die selbstverständlich servounterstützte Lenkung. Sie arbeitet leichtgängig genug, um die einfachen Anforderungen sozusagen aus dem Handgelenk schütteln zu können. Und sie vermittelt auf der anderen Seite auch das satte, direkte Gefühl, das dem Fahrer die erforderliche Rückmeldung liefert.
Auf welligen Streckenstücken und bei hohem Tempo verlangt der Turbo jedoch recht starke Haltekräfte am Lenkrad – griffig genug ist es dafür. Die allzu lässige Handhabung am Steuer bestraft er unter den beschriebenen Vorzeichen mit taumeligem Fahrverhalten, was dem sauber gezogenen Kurvenstrich bekanntlich etwas abträglich ist. Andere Sportwagen mögen in solchen Momenten weniger Zuwendung und Fingerspitzengefühl verlangen, aber dieses Zugeständnis wird tendenziell immer auch mit eingeschränkter Handlichkeit erkauft. Der 911 Turbo aber stellt in seiner direkten Art eine Verbindung zwischen Fahrer und Fahrbahn her, die an Intensität kaum zu übertreffen ist. Das agile Einlenkverhalten und die begeisternde Kurvengier stehen in einem zauberhaften Missverhältnis zu der großen Masse, die hier bewegt werden muss: immerhin 1.569 Kilogramm. Diese außergewöhnlichen fahrdynamischen Eigenschaften werden aber keineswegs mit der Art von Härte erkauft, die die Fahrt zur Rennbahn und zurück zur Büßertour machen könnte. Das Maß an Straffheit erscheint als ein perfekter Kompromiss zwischen fahrdynamischer Stabilität im Extrembereich und den Anforderungen, die an einen langstreckentauglichen Sportwagen gestellt werden dürfen.
Der Tank begrenzt die Reichweite des 911 Turbo auf rund 300 Kilometer
Nebenbei bemerkt ist die Reichweite wegen der geringen Tankkapazität ohnehin nicht groß – auch ohne spezielle Tankstrategie lässt sich leicht errechnen, wie weit man bei einem Durchschnittsverbrauch von 15,3 Litern über die Runden kommt. Erfahrungsgemäß ist nach rund 300 Kilometern ein Boxenstopp fällig. Der extrem hoch angesiedelte Grenzbereich stellt den Fahrer allenfalls auf der öffentlichen Straße vor ernsthafte Probleme. Mit keinem anderen Auto fällt es so schwer, die gesetzlichen Limits zu akzeptieren. Auf der Rennstrecke zeigt der 911 Turbo mit Querbeschleunigungswerten von bis zu 1,35 g, woran sich die Sportwagenzunft in Zukunft wieder zu orientieren hat. Die fahrdynamische Balance des Heckmotor-Boliden ist ungeachtet seiner ungünstigen Gewichtsverteilung qualitativ kaum zu überbieten. Der 911 Turbo zeigt weder auffällige Lastwechselreaktionen noch versucht er, sich durch Ausbruchsversuche des Hecks oder durch Schiebung über die Vorderräder von der Ideallinie zu stehlen. Dieses Maß an Gutmütigkeit und Neutralität hat bisher keine Parallele. Insofern war die schnellste Rundenzeit auf der Nordschleife für serienmäßige Sportwagen nur eine logische Konsequenz.