Technik der neuen WRC-Autos
Man muss die neuen World Rally Cars nicht schön finden, beeindruckend sind sie mit ihren Seitenkästen und Flügeln aber allemal. Aerodynamik ist plötzlich ein Faktor, der nicht mehr nur auf der Rundstrecke zählt.
Bis kurz vor der Passhöhe hat Thierry Neuville alles richtig gemacht. Mit weichen Slicks ist er in die letzte Prüfung der Rallye Monte Carlo gegangen, bis auf 1.500 Metern Höhe ist alles trocken. Aber vor einer halben Stunde hat es auf der Südseite angefangen zu schneien. Langsam, aber sicher färbt sich die zweispurige Straße nach Peira-Cava weiß. Im oberen Teil dieser Turini-Abfahrt gibt es keine Kehren, nur mittelschnelle und schnelle Kurven. Die Inboard-Kamera zeigt verwischte Felsen und vorbeifliegende Tannen. Unten zeigt der Bildschirm die Geschwindigkeit. 160 Kilometer pro Stunde stehen da geschrieben, kurz darauf sind es 170, obwohl das TV-Bild weiße Flecken auf der Strecke zeigt. Auf der nächsten Geraden zeigt der Tacho dann Tempo 180 an.
Neue Rallye-Autos dank Aerodynamik beeindruckend schnell
Dass Autos mit einer Leistungsspritze von 320 auf 380 PS bergab prima beschleunigen, ist nicht wirklich eine Überraschung: Die liegt eher darin, dass sie in schnellen Kurven auch auf rutschiger Piste mit jenseits von 160 Sachen einlenken. "Das ist schon beeindruckend, wie schnell diese Autos sind", gesteht auch Weltmeister Sébastien Ogier. Citroën-Sportchef Yves Matton schwärmt: "Ist das nicht toll? Die neuen Autos haben meine Erwartungen sogar noch übertroffen. Wer sie einmal sieht, der ist beeindruckt."
"Schöner sind sie ja nicht unbedingt geworden", sagt der Fotograf und drückt im Service-Park den Auslöser. Gerade beim ersten Auftritt sind die neuen Autos dankbare Motive. Schließlich gibt es so viel zu sehen. Die vorherige Generation lehnte sich in Sachen Luftleitwerke immer noch an das 20 Jahre alte Reglement von 1997 an, bei dem keine noch so kleine Lippe über die Silhouette des Serienautos hinausragen durfte. Das Design der auch damals schon beachtlichen Heckflügel näherte sich bei den Teams weitgehend an, Gleiches galt für die kastenförmigen Kotflügel.
Die neuen Sportgeräte dagegen weisen beachtliche Unterschiede auf. Bei dem Ford Fiesta des M-Sport-Teams laufen die Leitwerke wie ein Ring um den Bug, die Seitenkästen laufen hinten steil aufwärts, um auch sie zum Generieren von Abtrieb zu nutzen. Der Citroën C3 hat hinten eher runde Kotflügel, in die lediglich eine Öffnung zur Bremsentlüftung geschnitten ist.
Toyota Yaris WRC wie ein gestauchter Handstaubsauger
Apropos Bremsen: Die Durchströmung der Radhäuser und die Frischluftzufuhr zu den Bremsen erfreuten sich besonderer Detailliebe. Beim Fiesta laufen gleich drei Gummischläuche auf jedes Rad zu. Während das neue Hyundai-Coupé eher moderat getunt trotz Flaps, Schürzen und Diffusor ein Stück Eleganz bewahrt, sieht der Toyota Yaris aus wie ein gestauchter Handstaubsauger, an den ein verrückter Erfinder den Schwanz eines Dartpfeils montiert hat.
"Wir hatten zwei verschiedene Aero-Pakete", doziert Chefingenieur Tom Fowler, "aber schon mit dem ersten ließen sich eine Menge Variationen ausprobieren." Obwohl die japanischen Rückkehrer mit Sitz in Mittelfinnland erst Ende April die Arbeit am fahrenden Objekt aufnahmen, sind sie schon Testweltmeister. 18.000 Kilometer spulte das Team von Tommi Mäkinen laut Eigenaussage ab. "Wir haben zeitweilig drei Autos zeitgleich ausprobiert", sagt der Teamchef stolz.
Und tatsächlich hat keine Mannschaft das neue, freiere Regelwerk so extrem genutzt wie Toyota Gazoo Racing. Prompt gab es bei der technischen Abnahme zum Saisonstart in Gap viel Getuschel. Der Heckflügel sei durchgefallen, lautete das erste Gerücht. Dann sollten die Lamellen am hinteren Ende der Seitenkästen angeblich zu zahlreich sein.
Extrawurst für Toyota./strong>
"Alles Quatsch", sagte Fowler. "Die Aerodynamik wird bei der Abnahme vor dem Start gar nicht geprüft." Was der von M-Sport nach Finnland gewechselte Engländer nicht sagt: Es gibt durchaus Diskussionen um die Technik des Yaris.
In Monaco durften die zwei Toyota nur mit Ausnahmegenehmigung starten, weil der Abstand zwischen Unterboden und der oberer Stoßdämpferaufnahme um 1,2 Zentimeter zu groß ist.
Die nach dem ersten Auftauchen von Testfotos im Sommer diskutierten seitlichen Zusatzflügel am Heckspoiler sind dagegen ebenso legalisiert wie die stark gerippten Kotflügelenden, der lange Diffusor und selbst die als Leitwerk geformten Seitenspiegel. Kein Team hat sich den Grenzen des Erlaubten so sehr genähert wie Toyota.
Kris Meeke verzieht das Gesicht. Beim letzten Test vor der Weihnachtspause hat er sich bei einem Highspeed-Dreher die Heckschürze abgerissen, nun lässt sie sich samt Diffusor nicht mehr befestigen. "Ich wünschte, die Dinger wären nur auf ein paar wenige Zentimeter begrenzt. So ist die Differenz mit und ohne Heckschürze riesig groß. Du musst dir jetzt genau überlegen, wie sehr du eine Kurve schneidest. Reißt du dir jetzt irgendein Teil ab, ist möglicherweise der ganze Tag im Eimer."
Im alten Regelwerk war der Frontspoiler der Schwachpunkt
Die Fahrer sagen samt und sonders, dass sie mit den neuen Flügeln erhebliche Unterschiede spüren. "In schnellen Kurven ist die Stabilität deutlich größer", erklärt Toyota.Neuzugang Jari-Matti Latvala. Die Ingenieure, die zwei Jahre abwinkten und betonten, dass die Aerodynamik in so einem unsteten Geschäft wie Rallye-Fahren völlig überbewertet sei, haben sich dann aber doch mit großem Eifer auf das Thema gestürzt.
Mag sein, dass Rallye-Autos wegen der Drifts den ruhigen Luftfluss stören, mag auch sein, dass eine ständig variierende Bodenfreiheit um 15 Zentimeter und sogar mehr effiziente Unterböden unmöglich macht, aber auch der gelernte Ingenieur und Hyundai-Teamchef Michel Nandan gibt zu: "In schnellen Kurven sind die Autos zwölf bis 15 km/h schneller."
Es war nicht so, dass sich Designer vorher nicht mit Strömungslehre befassten. Der Aufwand ist nicht größer geworden, nur die Resultate. Im strikten, alten Regelwerk war der Frontspoiler der Schwachpunkt. Großserienautos erzeugen im Normalfall bei höherem Tempo vorn Auftrieb. Dem kann ein Frontspoiler entgegenwirken, doch im WRC-Reglement durfte der nicht weiter nach vorn ragen als der Stoßfänger. Um aber vorn nennenswert Abtrieb zu erzeugen, hätte es eines größeren Hebels an der Vorderachse bedurft. Mancher Heckflügel wurde freiwillig abgerüstet, um das Auto in der Balance zu halten.
Nun darf der Spoiler drei Zentimeter weiter nach vorn ragen als der Stoßfänger, hinten sind sogar sechs Zentimeter lange Überhänge erlaubt. Dazu darf der Heckflügel das Dach sowohl oben als auch an den Seiten um fünf Zentimeter überragen. Die Folge: Fahndeten die Ingenieure früher vor allem nach Abtrieb, müssen sie sich nun mehr mit dem Thema Luftwiderstand befassen.
Windkanal und CFD-Simulationen
Alle Topteams schwören, die Höchstgeschwindigkeit zwischen 200 und 210 km/h habe sich bei ihren Autos trotz der Mehrleistung nicht geändert, dementsprechend sind die Getriebe nicht länger übersetzt. Jari-Matti Latvala zuckt mit den Schultern: "Es gibt sowieso nicht viele Stellen im WM-Kalender, wo wir 210 fahren." Es ist nicht so, dass die Fahrer eine erhebliche Bremswirkung fühlen, wenn sie vom Gas gehen. Die Wirkung der Leitwerke ist dennoch spürbar. Laut Hyundai-Chef Nandan sind die neuen Autos im Durchschnitt eine Sekunde pro Kilometer schneller. Latvala glaubt, dass zwei Zehntelsekunden davon auf die Aerodynamik zurückzuführen sind, Nandan würde sogar drei Zehntel einräumen.
Erstmals war man eine ganze Woche im Windkanal. Auch bei Citroën verbrachte man wohl mehr Zeit im Windtunnel, als man zugeben möchte. "Darüber möchten wir nicht sprechen", sagt der neue Rallye-Chefkonstrukteur Laurent Frégosi. Auch bei M-Sport druckst die Konstrukteursriege um das Thema herum, aber aus gegenteiligem Grund: Das Team aus Cumbria hatte zu wenig Zeit und schlicht kein Geld, sich in einem Windkanal einzumieten. Die Flügel des Fiesta sind allein durch CFD-Simulationen (Computational Fluid Dynamics) im Rechner entstanden.
Robustheit geht vor Abtrieb
Bei den ausgestiegenen Recken von VW Motorsport staunte man nicht schlecht über die Entwürfe der maßgeblichen Konkurrenten. "Da hätte unser Polo ja noch am harmlosesten ausgesehen", gesteht Technikdirektor Francois-Xavier Demaison. In Hannover hatte man mehr Augenmerk auf die Haltbarkeit des schmucken Beiwerks gelegt, sowie auf die Service-Freundlichkeit beim Austausch von Komponenten wie dem Diffusor.
Gary Chandler hat in Cambridge Maschinenbau studiert und in der Forschung der Elite-Universität gearbeitet, bevor er Chefdesigner Chris Williams bei M-Sport verstärkte. Der 33-Jährige macht sich keine Sorgen: "Klar ist das immer ein Kompromiss. Aber wenn wir vor der Wahl standen, effizient oder robust, haben wir uns immer für Letzteres entschieden. Das ist ja das Schöne am Rallye-Sport, dass es da auch auf solche Unwägbarkeiten wie die Zuverlässigkeit ankommt." Neuville warnt: "Klar, die neuen Autos machen Spaß. Aber wir sollten ein Auge darauf haben. Sie sind so schnell geworden!"
Redaktionskommentar von Markus Stier - Das Glöckchen im Kopf
Ich will nicht der Bremser sein, nicht der Spielverderber, keiner von denen, die das Bessere immer in der Vergangenheit sehen. Und schließlich bin auch ich zutiefst beeindruckt, wie muskelbepackte und flügelbewehrte Kleinwagen auf schmal geteerten Buckelpisten um die Ecken fegen, wie es kein noch so potenter Supersportwagen je könnte. Und dabei legen sie beim Driften eine Eleganz an den Tag, die es in diesem Sport noch nie gegeben hat. Daran ändern weder die weich gezeichneten Bilder von schwänzelnden Escort noch die vor Kraft kaum gehfähigen Gruppe-B-Autos etwas.
Noch nie gab es eine solch perfekte Kombination von Schnelligkeit und Spektakel. Als ich im Dezember nach dem Studium all der Testvideos Kris Meeke in seinem neuen Citroën C3 bei Sisteron erstmals an mir vorbeitoben sah, dachte ich: Wow!
Aber ganz hinten im Schädel läutete ein kleines Glöckchen. Es ist ein Warnsignal, das einfach nicht verstummen will. Schon als die ersten Eckdaten des neuen WRC-Reglements bekannt wurden, als Teamchefs und Konstrukteure zu schwärmen begannen, lautete meine Frage: Wenn wir mehr Spektakel wollen, reichen dann nicht dickere Backen und mehr Boost? Wozu brauchen wir die Flügel?
Mal abgesehen von ästhetischen Fragen: Wir wollen doch wilde Drifts sehen, nicht beeindruckende Stabilität bei 180 Sachen. Ich will keinem den Spaß verderben, vor allem mir selbst nicht. Vielleicht haben die Befürworter recht. Vielleicht sind die Autos so leicht zu fahren, dass es sogar sicherer geworden ist. Vielleicht lache ich in ein paar Jahren über mich und sage: Stier, du wirst langsam alt. Aber im Moment denke ich bei aller Faszination nur immer wieder: Hoffentlich geht das gut.
In unserer Fotoshow stellen wir Ihnen die neue Rallye-Generation vor.