Im Grandland zu Deutschlands geografischer Mitte

Diese hier bei Niederdorla ist nur eine von Deutschlands Mitten. Es gibt fast ein Dutzend.
Am Stammsitz in Rüsselsheim hat Opel seinen großen SUV, den Grandland, entwickelt und gestaltet. Produziert wird er in Eisenach. Rein elektrisch fährt er nun von Hessen nach Thüringen durch eine Gegend, in der Deutschland eine Mitte findet. Geografisch zumindest.
Das letzte Stück ist ausgeschildert. An der L 2104, die hier Mühlhäuser Straße heißt, steht auf einem braunen Wegweiser: "Mittelpunkt Deutschlands" und: "Opfermoor Vogtei". Zur "Kompostieranlage Erdenwerk" geht es in dieselbe Richtung. Das Zentrum Deutschlands: eine prähistorische Kultstätte in einem flachen See und eine Kompostieranlage am Ortsrand des thüringischen Niederdorla. Mit Tempo 30 rollt der vollelektrische Grandland ruhig … ins Nichts. So sieht es aus: "Komm, wir drehen wieder um, hier ist nichts." Aber dann ist da doch etwas: ein kleiner Parkplatz, die Werbung einer Konservenfirma: "Hainich – nur das Beste im Glas", und schlapp hängt am Mast die Fahne.
Auf einem eigens dort platzierten Steinbrocken unter einer eigens dort gepflanzten Kaiserlinde, das Arrangement wirkt vielleicht ein bisschen zu friedhöflich, ist zu lesen, dass es "Fachexperten" gewesen seien, die mit wissenschaftlicher Präzision diesen als den Mittelpunkt Deutschlands vermessen hätten. Das also soll Deutschlands Mitte sein. Es ist aber keiner da. Niemand befindet sich in dieser Mitte. Fehlt ihr die Attraktivität? Was machte die aus? Dies, sagen die einen. Jenes, sagen die anderen. Und schon fällt es schwer, sich zu einigen. Oder uneins zu sein, aber dennoch vereint. Daran reibt und daran arbeitet man sich ab, immer noch, immer wieder. Das Widersprüchliche zu umfassen, es gelingt dem Deutschen nur in der Dichtung. Manchmal. Dort findet es Platz, sonst allzu selten in einem Land, das gerne alles erfasst und regelt, definiert, sortiert, vermisst und normiert.
Heißester Punkt des Kalten Kriegs
Nicht lange bevor er in Niederdorla an einer dieser exakt vermessenen Mitten ankam, war der Grandland ein Stück weiter südwestlich von Rasdorf in Hessen nach Geisa in Thüringen (hier Wassertretbecken und Katzenpension, dort Wohnmobil-Stellplatz und Sonderpreis-Baumarkt: "... da wo die Schraube wohnt!") am "Point Alpha" vorbeigekommen. Einst "heißester Punkt des Kalten Kriegs", heute Gedenkstätte für die innerdeutsche Grenze. "Hier", ist da zu lesen, "waren Deutschland und Europa bis zum 22. Dezember 1989 um 11 Uhr geteilt." Und seitdem? Wo sind sie heute geteilt? Und wo nicht? Ist das ein Land, das mal eine Grenze durchschnitt, und unterdessen sind es viele? Länder? Und Grenzen? Oder gibt es tatsächlich Einendes auch jenseits derselben Jägerzäune, derselben gekachelten Haussockel, derselben Schnellimbisse, derselben Autos in denselben Einfahrten, derselben Gewerbeparks und Spielsalons und Wäscheleinen und derselben Hoffnungen wie Enttäuschungen? Jetzt wachse zusammen, befand anlässlich der deutschen Einheit Willy Brandt, was zusammengehöre. Aber was, wenn man sich näherkam, nur um sich alsbald wieder voneinander zu entfernen? Was zusammengehört, hält es manchmal schwer nur miteinander aus. Wie spricht man darüber?
Das steht auf keiner Tafel am Straßenrand. Aber das gleichwohl ist die Frage, die mitreist, als der Opel Grandland von Rüsselsheim nach Eisenach irrlichtert. Hier ist der große SUV entwickelt und gestaltet worden, dort wird er gefertigt, und dabei kommt in ihm zweifellos zusammen, was zusammengehört.
Nur zwei Tage nach der offiziellen Wiedervereinigung rollt am 5. Oktober 1990 der erste Opel Vectra in Eisenach vom Band, keine zwei Jahre später nimmt dort das neue Werk mit dem Astra den Betrieb auf, und genau zehn Jahre nach Brandts Äußerung zum Zusammenwachsen des Zusammengehörenden montieren sie mit einem schwarzen Corsa B, 65 PS, den einmillionsten Opel in Eisenach. Der wievielte ist nun der Grandland? Spielt das eine Rolle? Oder ist es nicht viel wichtiger, schöner auch, dass in ihm das Hier und das Dort zusammenfinden und dass es ein Hüben und Drüben längst nicht mehr geben müsste? 541 Kilometer weit komme er, informiert das Display des Opel Grandland, als sein Kabel an einem viel zu regnerischen Sommermorgen in Rüsselsheim bei einem Ladefüllstand von 93 % von der Ladestation getrennt wird.
541 Kilometer, das schafft zwischen Rüsselsheim und Eisenach viel Raum für Umwege, das bringt die Freiheit, nicht die direkte Route wählen zu müssen. Am Vorabend noch hatte bei den Opelvillen eine Coverband gespielt und sanft singend zur Melodie einer gefragt: "Do You Really Want To Hurt Me?" Und es nieselte leise auf die Mainwiesen und war zu schade, dass in den Villen die Ausstellung mit den Schwarz-Weiß-Fotografien von Robert Lebeck vor ein paar Tagen schon zu Ende gegangen war, weil ja auch dessen Aufnahmen nicht selten fragen: Wo haben wir denn unsere Mitte?
Jenseits von WLAN und Mobilfunk
Nicht im Hafenlohrtal. Dort haben wir, einen Steinwurf weit nur entfernt von der A 3, auf der sie alle durch eine Gegend hetzen, die ihnen unbekannt bleibt, Ruhe und Kühe. Gesenkten Hauptes und mit den Ohren wackelnd und dem Schwanz schlagend stehen sie dort und grasen und nähren die Vorstellung eines Idylls, der man sich hier, jenseits von WLAN und Mobilfunknetz, vielleicht leichter noch hingeben kann als irgendwo sonst. Schon als vor 100 Jahren Kurt Tucholsky mit seinen Kumpels "Jakopp" und "Karlchen" den Spessart, den größten zusammenhängenden Laubmischwald des Landes, durchschritt, in weiten Teilen eine als Wanderung getarnte Sauftour, kritzelte er, vor dem Wirtshaus im Hochspessart hockend, in sein Notizbuch, das Hafenlohrtal sei "eine alte Landschaft. Die gibt es gar nicht mehr; hier ist die Zeit stehen geblieben. Wenn Landschaft Musik macht: Dies ist ein deutsches Streichquartett."
Zu dessen Klang nun aber wild der Regen aufs Dach des Grandland trommelt, während es den Main entlang Richtung Norden geht und bald auf die von einem dichten Weiß verschluckten Höhen der Rhön. Auf der Wasserkuppe, ihrem höchsten Punkt, zerrt ein wütender Wind am Nebel, bis endlich der Blick wieder weit in die sanft hügelige Gegend gehen kann, über die nun, hoch getürmt, schwere Wolken treiben.
In diesen Himmel wird sich heute keiner der Segelflieger, die sonst hier starten, ziehen lassen. "Lotti’s Futterkiste" ("Currywurst u. v. m.") bleibt verrammelt und das "Restaurant Weltensegler" geschlossen. Am Hangar aber stehen einige um eine der schlanken Fluggeräte, und Jens Wohlrabe erzählt, 1.000 Kilometer weit fliege man von hier rüber nach Polen, runter nach Tschechien, zurück über den Bayerischen Wald, von der Thermik immer wieder nach oben getragen, und während er, getragen von Begeisterung, erzählt, breitet er die Arme aus, als segle er gerade jetzt hoch über der Landschaft.
In einer melancholischen Schönheit ruht sie dort, als könne sie es sich noch immer leisten, die Weltvergessenheit zu atmen, die sie als Landschaft am Rand einst hatte. In dem Streifen, der mal "Zonenrandgebiet" hieß, liegt auch Eisenach. Viel Restreichweite bleibt dem Grandland nicht mehr, als er sich auf nassem Pflaster dort bald einen schmalen und sehr steilen Stich hochkämpft. Sein Ziel ist ein besonderes: wenn man so will, eine andere als die Mitte im nahen Niederdorla, eine der bedeutendsten der Religions- wie auch der Ideengeschichte nämlich. Auf der Wartburg fand vor über 500 Jahren Martin Luther Schutz und, in einer holzvertäfelten Stube hockend, deutsche Worte für das Neue Testament. An die kann man glauben oder es lassen. Um anderes, was der so streitbare wie derbhumorige Theologe von sich gab, gibt’s hingegen keine Diskussion: "Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz."
Das wäre auch bei der Suche nach unserer, der deutschen wie der persönlichen Mitte keine allzu schlechte Orientierungshilfe.