Mercedes CL 65 AMG im Test

Daimler-Chrysler poliert seine Oberklasse mit einem neuen Topmodell auf. Was hat der Mercedes CL 65 AMG außer einem superstarken Biturbo-V12 noch zu bieten?
Zwei Tonnen bestes deutsches Edelmetall mit vier nappabelederten Wohlfühlsitzen treffen Im Mercedes CL 65 AMG auf 612 PS und 1000 Nm Drehmoment, und wir ahnen: Diese Begegnung hat nichts mit freudiger Entsagung und alles mit barocker Lebensart zu tun. Denn wozu braucht es solchen Überfluss, wenn schon ein Mercedes CL 500 mit halber Leistung für äußerst mühelose Fortbewegung bis hinauf zum selbst auferlegten 250-km/h-Limit sorgt? Wozu ein Fünf-Sterne-Sieben-Gänge-Luxusmenü, wenn sich ein wohliges Sättigungsgefühl bereits nach Anknabbern der Vorspeise einstellt?
Aber was wäre die Welt ohne Kritik der reinen Vernunft, was wäre Mercedes ohne Spitzengerichte? Wir erinnern uns: 1999 markierten Mercedes S 600 und Mercedes CL 600 mit 367 PS das Ende der Fahnenstange, vor einem Jahr lösten zwei aufgeladene 500-PS-Triebwerke den Saugmotor ab, nun setzt AMG mit einem Sechsliter-V12-Biturbo noch eins obendrauf. Wohlgemerkt: Die mittleren Modelle bleiben ebenso im Programm wie der Fünfliter-V8, die weltweit etwa 230 geplanten Mercedes CL 65 pro Jahr finden in der Realität des Massenverkehrs nicht statt.
Optisch würde man sie ohnehin kaum erkennen, denn der neue Superstar präsentiert sich so elegant und zurückhaltend wie das normale Mercedes Coupé. Front- und Heckschürze sowie die seitlichen Schwellerverkleidungen sind etwas kraftvoller gestaltet, stämmige 19-Zoll-Leichtmetallräder mit Mischbereifung (vorne 8,5, hinten 9,5 Zoll) und vier Auspuff-Endrohre geben nur einen vagen Hinweis auf das innewohnende Potenzial. Mit den Schriftzügen an Heck und Flanken entfällt zudem meist die Möglichkeit einer klaren Identifizierung. Auch innen bleibt das Flair seriöser Gediegenheit gewahrt. Für ein Mercedes Coupé sind die Platzverhältnisse opulent, und wer sich hinter den hervorragend ausgeformten, automatisch vorfahrenden Vordersitzen in den Fond geschlängelt hat, findet selbst dort erwachsene Bein- und Kopffreiheit vor. Es herrscht eine gepflegte Aufgeräumtheit, das Leder vom satten Rind reicht bis zur Hutablage. Alles strahlt Ruhe und Klarheit aus, die Zahl 360 im Tacho macht genug Wirbel im Kopf.
Da wirkt das, was nach dem Griff zum Zündschlüssel durch die Doppelverglasung dringt, zunächst enttäuschend. Vom dunklen Fauchen, das den Außenstehenden von der Autorität einer großen Maschine kündet, bekommen die Insassen kaum etwas zu hören. Nie laut, nie brutal – das große Schweigen beim Dahingleiten in der Stadt geht auch bei schneller Autobahnfahrt nur in ein zartes Säuseln über, das höchstens eine Ahnung vermittelt, welche Konzentration in diesem Zwölfzylinder steckt. Eine umfassende Frischzellenkur macht den Dreiventiler zum drehmomentstärksten Serienmotor für Personenwagen und sogar Extremsportlern wie Ferrari Enzo und Porsche Carrera GT überlegen. Er hat mehr Hubraum und extrem temperaturbeständige Schmiedekolben mit stärkeren Bolzen; leistungsfähigere Ölpumpe und -kühler sowie ein 70 Prozent größerer Luft-Wasser-Intercooler sorgen selbst unter extremer Belastung für gesunde Temperaturen. Für die sorgfältige Montage zeichnet ein Techniker mit seinem Namen auf einer gravierten Plakette verantwortlich.
Aber wer will all das schon wissen; nur das Ergebnis zählt, und das ist fürwahr überwältigend. Mögen 612 PS so überirdisch und unbegreiflich wie 1000 Newtonmeter sein: Einmal bei Bummeltempo die fünfte Fahrstufe einlegen und Gas geben reicht, um den Reiz solcher Urgewalt zu erfahren. Ohne jeden Verzug bauen die beiden Turbos bis zu 1,5 bar Druck auf und pulverisieren das Trägheitsmoment des Zweitonners in Nichts. Keine Vibrationen, kein Radau, allein ein etwas schärferer Motorklang untermalt den stürmischen Vorwärtsdrang. Akustisch ist er näher am kultivierten 600er-V12 als am brummigen, aggressiven Kompressor-V8 des Mercedes CL 55 AMG, im Temperament schlägt er beide. In 4,3 Sekunden (Werksangabe 4,4 s) liegt Tempo 100 an, die 200-km/h-Hürde fällt nur 8,7 Sekunden später, und selbst danach deutet nichts auf nachlassende Kräfte hin. Solche Spitzenwerte gelingen indes nur mit eingeschaltetem ESP, weil es feinfühliger regelt als der sensibelste Fuß und genau das richtige Maß an Schlupf zulässt.
Man muss dazu nicht einmal in die serienmäßige Fünfgang-Automatik eingreifen, die perfekt auf die veränderte Leis-tungscharakteristik abgestimmt ist und so treffsicher wie geschmeidig schaltet. Nur kurvige Land- oder Bergstraßen animieren bisweilen dazu, mit den Tasten am Lenkrad die Fahrstufen zu beeinflussen, denn der schwere Wagen verträgt durchaus eine sportliche Gangart. Im Sport-Modus erlaubt das elektronisch gesteuerte ABC-Fahrwerk noch weniger Aufbaubewegungen und damit eine höhere Fahrdynamik. Das geht natürlich etwas zu Lasten des Federungskomforts, doch insgesamt kann man den Ingenieuren bescheinigen, einen überzeugenden Kompromiss zwischen Fahrsicherheit und -komfort gefunden zu haben. Der AMG wirkt zwar straff gedämpft, verschont die Insassen aber selbst auf holprigen Straßen vor lästigen Stößen und entwickelt trotz rahmenloser Seitenscheiben kaum Windgeräusche. Und so soll es ja sein, denn auch der Mercedes CL 65 ist zuerst und vor allem ein Gran Turismo.
Ein Auto auf leisen Sohlen, eines mit jeder denkbaren Erleichterung und Absicherung, mit erstklassigen Bremsen und dazu nicht mal durstiger als ein Mercedes CL 600. Eine Manifestation des technisch Machbaren, wenn Geld keine Rolle spielt, aber wohl kaum ein Fingerzeig für die große Masse. Denn Fortschritt ereignet sich allein dort, wo nicht nur das Tempo, sondern auch die Richtung stimmt.