Mercedes im sport auto-Supertest
Mit der freien Fahrt für freie Bürger ist es im SL 65 AMG nicht so weit her: Höchstgeschwindigkeit, Drehmoment und Querbeschleunigung sind künstlich reduziert.
Um das Wesen der Freiheit erfassen zu können, ist es hilfreich, Grenzen zu kennen. Wird doch der Drang nach Freiheit erfahrungsgemäß umso stärker, je enger die Fesseln sind oder je schärfer die Konturen jenseits des Zauns gezeichnet sind. Aber wo ist die Grenze? Wer setzt sie? Welche Folgen hat ihre Überschreitung? Dieser weit reichende Exkurs in die Tiefen der menschlichen Psyche und die daraus folgenden Konsequenzen lassen sich ohne Weiteres auch auf den Automobilbereich ausweiten. So werden mit dem derzeit stärksten Serienroadster der Welt, dem Mercedes SL 65 AMG, ebenfalls Grenzen markiert, die gleichermaßen starke Auswirkungen auf das subjektive Empfinden haben – die Grenzen des technisch Machbaren und jene, die die Möglichkeiten in der Praxis bestimmen. Von den Grenzen, die im Kopf existieren, wird später noch die Rede sein. 612 PS, 1.000 Newtonmeter Drehmoment. Diese beiden Synonyme für motorische Gewalttätigkeit sind nicht nur Zahlen – es sind Metaphern, die die Phantasie zu Höhenflügen veranlassen und schon gedanklich eine ungeheure Dynamik entfesseln können. Immerhin verfügt dieser Motor über fast doppelt so viel Drehmoment wie der Boxermotor des Porsche Turbo. Und mit seiner Leistung stellt er nicht nur die Liga der DTM-Boliden mit Abstand in den Schatten, die mit vergleichsweise bescheidenen 480 PS auskommen müssen, sondern misst sich sogar mit den stärksten GT-Rennern aus dem Profi-Lager. Allein die technische Beschreibung dieser monumentalen Verbrennungsmaschine liest sich wie ein Rezept aus der Hexenküche des Motorenbaus.
Ein Motor aus der Hexenküche
So verfügt dieser Zwölfzylinder über ein Brennraumvolumen von knapp sechs Liter, was für sich betrachtet schon ein gewaltiges Potenzial birgt. Das i-Tüpfelchen dieser AMG-Schöpfung aber heißt nicht etwa Kompressortechnik, wie bei den großen AMG-Achtzylindern, sondern Biturboaufladung. Mit diesem Druckinstrument ist der Leistungs- und Drehmoment.Eskalation sozusagen Tür und Tor geöffnet – zumindest in der Theorie. Allein das Umfeld, vornehmlich der nachgeschaltete Antriebsstrang, markiert die Grenze des Erträglichen. Das Drehmoment, das mit der Wucht einer Dampframme auf die auch manuell vom Lenkrad aus zu bedienende, perfekt arbeitende Fünfgang-Automatik einwirkt, schüttelt der Biturbomotor quasi aus dem Ärmel: Der Bestwert von 1.000 Newtonmeter steht zwischen 2.000 und 4.000 Umdrehungen konstant zur Verfügung. Schon kurz über Leerlaufdrehzahl, bei 1.000/min, liefert der V12 ein Vielfaches von dem, was in gängigen Mittelklasselimousinen als Maximum ausgewiesen wird – 570 Newtonmeter. Nur 500 Touren später wird die Kurbelwelle mit dem Drehmoment von brutalen 830 Newtonmeter malträtiert. Die Leistungskurve zeigt ein ähnlich imposantes Plateau: Der Spitzenwert von 612 PS liegt kontinuierlich zwischen 4.800 und 5.100/min an. Dass sich das Triebwerk dabei keineswegs zu quälen braucht, ist an der moderaten Literleistung von nur 102,3 PS pro Liter Hubraum abzulesen.
Beim spezifischen Drehmoment sieht es schon anders aus: Pro Liter Hubraum entwickelt der langhubig ausgelegte V12 (Bohrung mal Hub: 82,6 x 93,0 Millimeter) ein Drehmoment von gut 167 Newtonmeter. Der maximale Mitteldruck, ein Maß, das dem Insider die absolute Leistungsfähigkeit eines Motors beschreibt, beträgt 21 bar. Mit diesen Eckwerten nimmt der Zwölfzylinder, dessen Bau in der Affalterbacher AMG-Manufaktur auf geradezu rührende Weise zelebriert wird, einen Spitzenplatz unter den aufgeladenen Ottomotoren ein. Dabei läuft er – man mag es kaum glauben – nicht mal zu seiner Höchstform auf. Denn sein natürlicher Wirkungsgrad ist aufgrund modellpolitischer Restriktionen beschränkt – die Elektronik legt ihm daher künstliche Fesseln an. Ohne die Eingriffe seitens das Motormanagements läge das Drehmoment noch einmal um 20 Prozent höher. 1.200 Newtonmeter wären machbar. Das Einbremsmanöver dürfte zudem auch einen nicht geringen PS-Verlust zur Folge haben. Hinter der Leistungsbegrenzung steckt natürlich Kalkül. Da der Spitzensportler McLaren Mercedes SLR, dessen 626 PS starker Kompressor-V8 gleichfalls ein AMG-Produkt ist, als Nummer eins im Konzern-Ranking geführt wird, muss der SL 65 AMG leistungsmäßig kürzer treten. An diesem Umstand könnte sich ungeachtet des vorhandenen Potenzials beim Kunden erster Frust entzünden. Zumal auch die natürlichen Ressourcen in puncto Höchstgeschwindigkeit nur höchst unvollkommen genutzt werden dürfen. Während der britisch-deutsche SLR seine vollen Kräfte bis zur Vmax von 334 km/h ausspielen kann, muss der serienmäßige SL 65 AMG ab 250 km/h passen – obwohl er auch wegen seiner guten Aerodynamik ohne Weiteres mit dem Pendant aus den McLaren-Stammsitz Woking mithalten könnte.
Bei 250 km/h ist für den SL 65 AMG Schluss
Immerhin ist eine moderate "Freischaltung" von AMG-Fahrzeugen mittlerweile werksseitig legitimiert. Sie kostet rund 2.150 Euro Aufpreis und gewährt einen Topspeed von angemesseneren 300 km/h. Ein höheres Tempo wird auch dem SL 65 AMG mit Rücksicht auf die Schnelllaufsicherheit der Reifen nicht zugebilligt – was insofern nachvollziehbar erscheint, als der Zwölfzylinder-SL mit einem Gewicht von deutlich über zwei Tonnen unterwegs ist und damit rund eine viertel Tonne mehr als der SLR wiegt. 2.049 Kilogramm sind es genau, die sich in voll betanktem Zustand im Verhältnis von 51 zu 49 Prozent auf die Vorder- und die Hinterachse verteilen – was der Gewichtsbalance sowie der Radlastverteilung zugute kommt. Die Konzentration massiver Kräfte und exorbitanter Massen birgt schon in der Theorie ein Konfliktpotenzial, dem in der harten Praxis nur mit exzellenter Ingenieurskunst begegnet werden kann. Tatsächlich spielt die Masse im Fahrbetrieb zunächst keine Rolle. Der SL 65 AMG fühlt sich auch dank seiner leichtgängigen und trotzdem gefühlvoll arbeitenden Lenkung ungemein leichfüßig an. Er katapultiert sich und seine Besatzung bei Bedarf wie ein Leichtathlet nach vorn.
Das physikalische Prinzip von der Trägheit der Masse scheint in diesem sowohl exklusiven als auch luxuriösen Umfeld nur noch bedingt Gültigkeit zu haben. Der praktischerweise als Coupé oder als vollwertiges Cabriolet zu bewegende Zweisitzer springt nach energischem Tritt aufs Gaspedal davon, als habe ihn ein Siebenmeilenstiefel getroffen. Nur 4,3 Sekunden dauert die Beschleunigung aus dem Stand auf Tempo 100. Noch eindrucksvoller ist der Vorgang im Bereich zwischen 100 und 200 km/h. Die Überbrückung dieses Tempobereichs gelingt in gerade mal 8,8 Sekunden – völlig entspannt und mühelos. Nur wenig später schießt sich der auf 250 km/h limitierte Zweitonner in die elektronische Vmax-Beschränkung, als wolle er sie mit seiner Gier nach Raum und Zeit mit Gewalt durchbrechen. Diese regelt ihn konsequent auf jenes Tempo 250 ein, das ihm die freiwillige Selbstbeschränkung der deutschen Automobilhersteller vorschreibt. Als Insassen kommt einem die Hartnäckigkeit, mit der dem energischen und zugleich gepflegten Vorwärtsdrang ein Ende gesetzt wird, fast würdelos vor – zumal es sich bei dem Geschwindigkeitsbereich jenseits 250 km/h genau genommen um jenen handelt, der dem 612-PS-Boliden von seiner technischen Beschreibung her quasi exklusiv auf den Leib geschneidert ist. Die Begrenzung legt sich somit spätestens auf den ersten freien Autobahnkilometern wie ein dunkler Schatten auf das Gemüt des Fahrers. Besitzt er doch einen Antrieb, der von seinen Anlagen her wie kaum ein anderer aus dem Vollen schöpfen könnte – und dessen Charakter von größter Souveränität geprägt ist. Schließlich ist auch die Laufkultur des Zwölfzylinders von außergewöhnlicher Güte.
Außergewöhnliche Laufkultur des SL 65 AM-Aggregats
Dass das Ansprechverhalten des Turbomotors dem der hausinternen Kompressorvarianten nahezu ebenbürtig ist und damit sogar den Vergleich mit Saugmotoren zulässt, zeugt von der brillanten Abstimmungsarbeit, die die Motorentechniker bei der Adaption der beiden Abgasturbolader geleistet haben. Der noch seidigere Lauf und der akustisch gepflegtere Auftritt sind die beiden vornehmlichen Unterscheidungsmerkmale gegenüber dem Kompressor-V8, mit dem der 500 PS starke SL 55 AMG hausintern Paroli bietet. Das Pfeifen der Turbos ist nur mit gespitzten Ohren zu vernehmen, und mechanische Geräusche sind gänzlich eliminiert. Deshalb kann man sich ungestört der wunderschönen Hintergrundmusik hingeben, die der Zwölfzylinder anfangs sehr dezent, später mit energischer Überzeugungskraft zum Besten gibt. Mit einem scharfen Fauchen kündigt der V12 die Nähe der Höchstdrehzahl an, der er sich als ausgewiesener Langhuber mit großer Geschmeidigkeit und unerwarteter Drehfreude nähert. Umso wichtiger erscheint es, dem SL 65 AMG zumindest bis 300 km/h freie Fahrt zu gewähren. Das käme auch der mentalen Verfassung des Fahrers zugute. Denn allein das Wissen um das erweiterte Spektrum reicht meist schon aus, das brennende Verlangen nach der Inanspruchnahme des Angebots zu stillen. Die Souveränität des Motors steckt dann auch den Fahrer an, der fortan die Lässigkeit gern zum Prinzip erhebt.
Dieser eingangs bereits beschriebene psychologische Aspekt ist im Umfeld dieser zweifellos grandiosen Gran- Turismo-Variante auch nicht ganz unwichtig. Denn spätestens bei engagierter Fahrweise holt einen das Thema Gewicht wieder ein. Die hochkarätige Bremsanlage zeigt sich den Belastungen, die aus der immensen kinetischen Energie resultieren, zunächst aber gewachsen. Im kalten Zustand realisiert sie hervorragende Verzögerungswerte von bis 11,1 m/s². Somit schafft es der über zwei Tonnen schwere SL, aus Tempo 100 innerhalb von 34,9 Meter zum Stehen zu kommen. Das verdient Respekt. Bei heißer Bremse stellten sich bei den Messungen aus 200 km/h Verzögerungswerte um 10,4 m/s² ein, was zwar immer noch akzeptabel ist, als erstes Zeichen der Schwäche aber nicht übersehen werden darf. Der Pedaldruck der SBC-Bremse lässt in solchen Momenten stark nach. An seine fahrdynamische Grenze getrieben ist es mit der ansonsten überaus coolen und geschliffenen Art des SL 65 allerdings nicht mehr so weit her. Das Bestreben der Ingenieure, die herrschenden Gewalten über elektronische Regelkreise im Zaum zu halten, führt im Kurvengrenzbereich zu einem Gebaren, das zuweilen ebenfalls unwürdige Situationen heraufbeschwört. Beim Slalom etwa verhärtet sich das ABC-Fahrwerk (Aktive Body Control) und veranlasst das zuvor deaktivierte ESP zum erneuten Eingriff.
Das ESP greift trotz Inaktivierung ein
Die Fahrfreude bleibt auf diese Weise auf der Strecke – sofern man sie im Grenzbereich mit Kalibern dieser Leistungs- und Gewichtsklasse überhaupt empfinden kann. Die vom ESP gezogenen Grenzen sind scheinbar variabel. Bei der Zeitmessung in Hockenheim blieb der Eingriff des Systems erfeulicher Weise aus. Im Slalom jedoch fühlte es sich veranlasst, dem Fahrer wiederholt ins Handwerk zu pfuschen. Dabei zeigt der SL 65 AMG einen grundsätzlich liebenswerten Charakter. Er schiebt sowohl im Normal- als auch im Sportmodus leicht über die Vorderräder, wenn er im Eingang der Kurve zu stark hineingezwungen wird. Grundsätzlich bleibt er neutral, zumindest solange der Zwölfzylinder nur in Lauerstellung ist. Wird er gewalttätig, ist naturgemäß jeder Driftwinkel darstellbar – beabsichtigt oder nicht. Erst die Betätigung des Bremspedals erinnert das ESP daran, erneut und umgehend für linientreue Ausrichtung zu sorgen. Eine Vorgabe, der sich der Fahrer des SL 65 AMG in Kenntnis der Grenzen generell anschließen wird.