Abflug: Flight Simulator 2020 schwebt über den Wolken
Schöner waren Flugsimulatoren noch nie: Microsoft Flight Simulator 2020 für Xbox Series X und Windows 10 zeigt, was moderne Computer leisten können.
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Kein Spiel, sondern ein Erlebnis
Der Flight Simulator 2020 ist weniger ein Spiel als eine Möglichkeit, eigentlich Piloten vorbehaltene Ereignisse am Computer nachzuerleben. So geschehen etwa mit einer Cessna 172 Skyhawk am Flughafen Lukla: Die Landebahn ist extrem kurz, an ihrem Ende warten 5.000 Meter Schlucht auf schludrige Spieler. Dazu gibt der Funk durch, dass ein Sturm im Anmarsch ist - und diese Daten basieren auf realen Wetterdaten vor Ort. Wir entscheiden uns also, endlich abzuheben, bevor es ungemütlich wird. Die Bremsen werden gelöst, wir rollen los, erhöhen den Schub und bemerken, dass wir zur Seite geschoben werden: Der Sturm ist schon da und heftige Windböen drücken das kleine Flugzeug in alle Richtungen.
Am Ende geht es schnell, weil es schnell gehen muss: Uns geht die Landebahn aus, also erhöhen wir den Schub auf das Maximum, ziehen den Joystick zurück und schaffen es gerade so, in den Sonnenuntergang über einem eingeschneiten Nepal aufzubrechen. Damit haben wir uns ein Glas Rotwein wohl verdient - was in der Realität natürlich ausgeschlossen wäre. Doch der Flight Simulator 2020 macht uns zu virtuellen Piloten, die näher an dieses Erlebnis kommen als je zuvor.
Wer mag, darf auch Urlaub machen: Riesige Flugzeuge wie eine Diamond DA62 liegen so ruhig in der Luft, dass man kaum merkt, gerade einige Tausend Meter über dem Erdboden zu schweben. In diesen Momenten ist das Spiel die pure Entspannung. Hin und wieder tut ein wenig Nervenkitzel à la Gebrüder Wright ganz gut. Das Spiel schafft es, diesen Spagat aus Entspannung und Anspannung zu fahren - und dabei gibt es nicht einmal ein konkretes Spielziel.
Der Anspruch aller Simulatoren…
… ist die Realität. Hier soll kein Spiel im eigentlichen Sinne gefertigt werden, sondern die reale Welt soll so detailgetreu wie möglich umgesetzt werden. Die große Frage ist daher, wie realistisch dieser Flugsimulator umgesetzt wurde - denn natürlich gibt es auch Konkurrenz in den Weiten des Internets.
In diesem Punkt haben die Entwickler tolle Arbeit geleistet: Wer etwa London überfliegt, sieht schnell den Buckingham Palace, den Tower of London oder den erst 2019 eröffneten Sky Garden. Aber wie sieht es mit Bereichen aus, die nicht die halbe Welt vom Hörensagen kennt? Beim Überflug lassen sich selbst kleinste Gebäude ausmachen, wie der Firmensitz von Creative Assembly, die sich für Spiele wie Total War verantwortlich zeichnen und die am Spire Court ansässig sind. Das McLaren Technology Center in seine U-förmigen Gestalt ist auch sofort erkennbar - wenn man weiß, wonach man sucht. Sogar einzelne Autos sind auf den Brücken und in den Straßen von London erkennbar.
Schneller als in echt!
Keine Angst: Wer sich gerade in London befindet, aber demnächst in Tokio abheben möchte, muss nicht erst die halbe Welt in Echtzeit umkreisen. Auf einer Weltkarte wählen Spieler den Abflugort aus und können von dort aus aufbrechen. Wer hartgesotten ist, kann übrigens durchaus in Los Angeles starten und bis nach Tokio fliegen. Das dauert zwar - aber ist eben auch perfekt simuliert.
Auf Plattformen wie Twitch gibt es bereits Spieler, die ihre Flüge quer über den Atlantik oder von der Westküste an die Ostküste der USA streamen. Das dauert viele, viele Stunden - aber zieht sowohl die Pilotin oder den Piloten als auch die Zuschauer schnell in ihren Bann. Es ist die große Stärke des Spiels, einen Grad der Immersion zu schaffen, den sonst nur VR-Spiele erreichen.
Auf dem Weg an die virtuellen Ziele dürfen Piloten das aktuelle Wetter nach Herzenslust umstellen: Strahlender Sonnenschein, heftiger Regen, Schneestürme - alles ist mit an Bord. Die wohl beste Option im Sinne des Realismus besteht jedoch darin, die Wetterdaten live aktualisieren zu lassen. Dann holt sich der Flight Simulator 2020 die Daten aus der Cloud und bildet das Wetter entsprechend ab.
Um den Flug zu genießen, stehen unterschiedliche Flugzeuge bereit. Darunter finden sich Privatjets à la Beechcraft King Air genauso wieder wie eine Daher TBM, ein Airbus A320, die Boeing 747-800 Intercontinental oder auch der neue, seit 2017 im Einsatz befindliche Dreamliner. Allzu umfangreich ist die Liste aus Flugzeugen nicht, etwa 20 Stück sind es an der Zahl. Der Entwickler verspricht jedoch eine langjährige Produktpflege, sodass nach und nach immer mehr Flugzeuge dazu stoßen werden. Militärflugzeuge sind nicht geplant, aber laut Entwickler eine Option, falls sich Spieler dafür interessieren.
Unfassbare Details in jedem Cockpit
Unabhängig vom gewählten Flugzeug beeindruckt jedes Cockpit: Im Airbus A320 etwa befindet sich ein 1:1-Abbild des echten Cockpits. Schalten Sie sämtliche Hilfen aus und schaffen es, mit diesem Flieger abzuheben, sollten Sie dies auch in der Realität hinbekommen. Höhe über dem Meeresspiegel, Drehgeschwindigkeiten, leichte Vibrationen im Cockpit durch die Motoren, der langsam anschwellende Triebwerkssound, die permanenten Durchsagen der Flugsicherung: Realer sind Sie - wenn Sie nicht tatsächlich Pilot sind - noch nie in San Francisco abgehoben.
Die Abkürzung zum Pilotenschein
Um nach Kapstadt zu fliegen, müssten Sie normalerweise mehr als zwölf Stunden eine Maske tragen - einfacher geht es im Flight Simulator 2020: Wir erkennen Yachten an der Waterfront, sehen den Boulders Beach, wo normalerweise einige Tausend Pinguine Eier legen, überqueren Simon's Town mit seiner Altstadt aus grünen und orangen Häusern. Weiter geht es über die Tafelberge in unserer eigenen A320. Das Flugzeug kostet normalerweise 75 Millionen US-Dollar und benötigt mindestens 100 Flugstunden, damit Sie es steuern dürfen. In diesem "Spiel" bekommen Sie das umsonst.
Die Vorteile des Airbus oder auch einer Boeing zeigen sich vor allem in der Luft: Sie fliegen fast wie auf Schienen, während die erwähnte Cessna ständige Nachjustierung verlangt. Der Planet ruht nicht - und das merken Sie spätesten, wenn Winde ins Spiel kommen. Um eine Kurve zu fliegen, brauchen Sie in einem großen Passagierflugzeug aber auch geraume Zeit, während sich die schnittige Cessna deutlich sportlicher fliegt.
Überaus beeindruckend ist der erwähnte Detailgrad übrigens auch in kleinen "Nebenschauplätzen" der Welt. Klar: London, New York, Berlin & Co. sind nahezu perfekt abgebildet. Der Detailgrad macht aber auch vor winzigen Städten nicht Halt - oder kennen Sie etwa Nouadhibou in Westafrika? Auch dort gibt es einen internationalen Flughafen, den Sie über die naheliegenden Hauptstraßen leicht erkennen.
Dem Vergleich wird standgehalten
Südlich der genannten Stadt erheben sich Windkraftanlagen aus der Erde. Von oben sind sie kaum zu erkennen und sehen wie Spielzeug aus - doch beim Sinkflug kommen die Anlagen dann doch bedrohlich nah. Wer mag, sollte übrigens viele Screenshots schießen und diese später mit Bildern bei Google oder Bing vergleichen - die Unterschiede müssen Sie tatsächlich mit der Lupe suchen.
Selbst Kuriositäten sind integriert: Bei Nouadhibou ließen die Behörden über viele Jahre zu, Schiffe auszumustern. Dort liegt heute ein Schiffsfriedhof - und auch der ist in das Spiel integriert. Gute 104 Schiffswracks können Sie zählen, zusätzliche 22 befinden sich unterhalb der Wasseroberfläche. So erfüllt der Flight Simulator 2020 sogar einen Bildungsauftrag: Wer über eine solche Sehenswürdigkeit hinwegfliegt, wird sich wundern - und möglicherweise nachschauen, was dort passiert ist.
Überhaupt haben wir noch nie in einem Spiel so viel Spaß gehabt und gleichzeitig so viel gelernt und Neues gesehen, was uns bisher verborgen geblieben ist.
Komplexität für Einsteiger und Fortgeschrittene
Eine Boeing 747 lernen Sie nicht an einem Tag kennen. Flugzeuge wie diese sind ungeheuer kompliziert aufgebaut und bieten Displays, Instrumente, Knöpfe, Hebel in absurder Detailfülle. Dies lässt sich bei Bedarf auch alles selbst steuern: Wer sich mit einem solchen Flugzeug also nicht so auskennt, wie es in der Realität gefordert ist, wird auch nicht abheben oder landen können.
Damit Sie nicht unbedingt einen Pilotenschein haben müssen, um starten zu können, gibt es einen Copiloten: Dessen KI übernimmt alle schwierigen Aufgaben und gibt Ihnen Zeit, die Aussicht zu genießen. Wissen Sie etwa, wo an einem unbekannten Flughafen der "Runway A8" ist? Nein? Dann lassen Sie den Copiloten ran, denn von einem anderen Runway aus können Sie nicht abheben.
Start- und Landeerlaubnis, Startfreigabe, Kommunikation mit Tower und Flugsicherheit: All das müssen Sie wirklich erledigen, bevor es in die Lüfte geht. "Mal eben eine Runde zocken" geht nicht. Ein wenig schade ist, dass eine Sprachsteuerung nicht verfügbar ist. Sie können also nicht wirklich mit dem virtuellen Tower sprechen, sondern müssen alles über Tasteneingaben regeln - obwohl Microsoft mit Cortana einen verständigen Sprachassistenten besitzt. Vielleicht wird dieses Feature in der Zukunft noch nachgereicht.
Bequem ist einfach, aber…
Microsofts Flight Simulator 2020 ist eine Art Antithese gegen die meisten modernen Spiele, in denen es gar nicht schnell genug gehen kann. Hier wird sich Zeit gelassen - und das sollten Sie auch, um sich den Charme des Spiels zu erhalten. Ein automatisierter Abflug ist vielleicht bequem, aber das Überwinden der Herausforderung eines echten Starts ist doch ein ganz anderes Gefühl.
Zu empfehlen sind Mittelwege: Anflugschneisen für Landemanöver sind praktisch, genauso wie ein Assistent, um die Geschwindigkeit im Auge zu behalten und so die Landung zu erleichtern. Mit ausreichend Übung können Sie diesen schwierigen Prozess dann irgendwann komplett selbst in die Hand nehmen. Die Komplexität Stück für Stück anzuziehen, macht sich unserer Meinung nach bezahlt.
Kleine Kratzer im Lack
Ein Stück Software kann nicht perfekt sein und der Flight Simulator 2020 ist natürlich keine Ausnahme: Beispielsweise werden Sie hin und wieder Autos sehen, die scheinbar im Nichts umherfahren oder auch mal neben der Straße - oder viel zu schnell oder zu langsam. Diese Kinderkrankheiten begegnen Ihnen hier und da, aber sie sind auch recht schnell mit kommenden Patches zu beheben. Ein "Bug-Festival" ist das Programm sicherlich nicht.
Die schiere Größe beeindruckt
Insgesamt hat Microsoft es geschafft, alle weltweit verfügbaren Flughäfen - 37.000 Stück an der Zahl - ins Spiel zu integrieren. Ob Sie aus einer Metropole abheben oder in der Nähe eines kleinen Dorfes im Nirgendwo, spielt keine Rolle. Das beeindruckt allein schon aufgrund der unfassbaren Datenmenge, die im Spiel vorhanden ist.
Wir kennen jedenfalls kein Spiel, das eine derartige Datenflug in sich vereint: Insgesamt 2.000 Terabyte an Satellitenbildern wurden dafür ausgewertet und in das Spiel gepackt - die meisten von ihnen stammen von Bing. So bekommt man dann auch schnell das Gefühl, es jetzt endlich mal mit einem echten "Next-Gen"-Spiel zu tun zu haben: Ein Spiel, das vor einigen Jahren aufgrund technischer Limitierungen einfach nicht umzusetzen war.
Wer etwa schon häufiger in München vom Franz-Josef-Strauß-Flughafen abgehoben ist, wird dies ab jetzt auch in Flight Simulator 2020 tun können - mit allen noch so winzigen Details aus der Realität. Nur Menschen und der Alltag am Boden sind noch nicht im Spiel. Vielleicht müssen wir dafür noch ein Jahrzehnt warten…
Achtung: Piloten brauchen viel Rechenleistung
Flugsimulatoren standen früher im Ruf, extrem starke PCs gebraucht zu haben, um einigermaßen flüssig über den Bildschirm zu huschen. In bester Tradition lässt der Flight Simulator 2020 diese alte Weisheit wiederaufleben: Tatsächlich brauchen Sie eine aktuelle CPU, eine rasante Grafikkarte und viel Arbeitsspeicher. Dazu schwankt die Performance stark in Abhängigkeit vom angeflogenen Inhalt: Über einer leeren Wüste beispielsweise ist nicht viel los, also springen auch die Bilder pro Sekunde nach oben. Wer über Moskau seine Runden zieht, sieht unzählige Gebäude und Fahrzeuge - entsprechend sackt die Bildwiederholrate ab.
Mit einem Core i9 9900K, 32 GB RAM und einer GeForce GTX 2080 Ti - also annähernd die Speerspitze der derzeit verfügbaren Hardware - können Sie in Ultra-HD im Durchschnitt auf vielleicht 30 fps hoffen. An optische Schmankerl wie Raytracing ist nicht zu denken, da selbst die schnellste Grafikkarte dafür viel zu langsam ist. Entsprechend ist das Feature auch noch nicht im Spiel integriert - aber vielleicht kommt das noch. In welcher Auflösung das Spiel auf der Xbox Series X laufen wird, steht noch nicht fest.
Wer kann, sollte daher warten - auf die GeForce RTX 3000-Serie oder den nächsten AMD-Grafikchip.
Fazit: kein Spaß, sondern Magie
Da es sich nicht um ein klassisches Spiel handelt, werden Sie viele der typischen Elemente aus Spielen auch vermissen. Nervenkitzel, Ranglisten, Multiplayer, Story: All das bietet Flight Simulator 2020 nicht. Es handelt sich um eine reine Simulation, die Dörfer, Städte und Metropolen ebenso abbildet wie Gebirgszüge, Flüsse oder Wälder. Sie werden die Welt aus einem Blickwinkel sehen, wie es bislang noch nicht möglich war.
Dazu trägt der enorme Detailgrad bei: Von der kleinsten Schraube im Cockpit bis hin zu den Wolken im Himmel ist alles dynamisch und realistisch abgebildet. Statische Elemente suchen Sie vergebens. Es gibt wahrscheinlich kein Spiel, das derart gut - oder besser gesagt: realistisch - aussieht. Dass dies hardwaretechnisch seinen Tribut fordert, haben wir bereits erwähnt.
Alle angehenden Piloten und Spieler, die abseits der Pfade aus Rennspielen, Ego-Shootern und MOBAs nach einem neuen Kick suchen, sind beim Flight Simulator 2020 bestens aufgehoben.