Lamborghini Murciélago LP 640 im Supertest
Nur wenige Sportwagen verfügen über ein so scharfes Profil wie der Zwölfzylinder von Lamborghini. Mit einem noch gewalttätigeren Motor startet die aufgefrischte Evolutionsstufe des Murciélago noch einmal bärenstark durch.
In diesen spannenden Zeiten großer Koalitionen, in denen Diplomatie, Ausgewogenheit und Konsenz die Richtung weisen und das so genannte Gleichstellungsgesetz dafür sorgen soll, die letzten Ungerechtigkeiten aus der Welt zu räumen, scheinen die Empfänglichkeiten für außergewöhnliche Statements beim Volk nicht kleiner, sondern größer zu werden. Wie sonst ist es zu erklären, dass ein so offenkundig geschlechtsspezifisches Fahrzeug wie der mit jeder Faser seines Bodys maskuline Lamborghini Murciélago LP 640 so eine Resonanz erzeugt, und zwar keineswegs nur von männlicher Seite? Dutzende gezückte Fotohandys und mindestens so viele hoch gestreckte Daumen kündeten während der sport auto-Testphase von Zustimmung und Begeisterung für ein automobiles Objekt, das unter dem Dekret der Political Correctness und nach den Brüsseler Vorschlägen zum Nivellieren von Ungerechtigkeiten vermutlich in der Versenkung verschwinden müsste.
Die altbekannte Volksweisheit, wonach alle Theorie grau ist, interpretiert der neue Murciélago LP 640 ganz selbstbewusst und auf sehr originelle Weise neu. Er stellt sich dem sport auto-Test in einem grauen Farbgewand, das weniger den Konventionen entspricht, als viel mehr eine neu entdeckte, minimalistische Ausdrucksweise repräsentiert, der sich zumindest jene bedienen dürfen, die mit hohen inneren Werten aufwarten können - sowohl charakterlich als auch monetär. Für sie gilt: lieber Maus-grau als Bündins-90-grün. Dass er dem exklusivsten aller Zirkel zugehörig ist, verdankt der Murciélago nicht nur einer erfolgreichen Vita als Diablo-Nachfolger - seit 2001 wurden immerhin 2.000 Stück verkauft -, sondern zu einem großen Teil auch der stilsicheren Führungshand von Audi, die das Entree in die von Image und Renommee geprägte Oberliga durch sanfte Technologietransfers und durch die Vermittlung effizienter Herstellungsverfahren faktisch erst ermöglichte.
Sanfte Technologietransfers von Audi
Der Graue-Maus-Auftritt des LP 640 könnte allerdings auch als der offenkundige, wenn nicht gar perfi de Versuch angesehen werden, von der Dramatik abzulenken, die im Umgang mit ihm erlebbar wird. Es sind - wie von Lamborghini gewohnt - wahrhaftige Exzesse, die auch den neuen Murciélago prägen und keineswegs kompromissbehaftete Halbheiten oder gar Zugeständnisse an durch Umfragen gestützte Mehrheiten. Der Zwölfzylindermotor, schon bisher ein durch die grüne Brille betrachtet groteskes Stück Maschinenbau, wartet nunmehr mit einem Arbeitsvolumen von 6,5 Liter Hubraum (bisher 6,2 Liter) auf, um ein aus Kundensicht mögliches Leistungsdefizit gegenüber der erstarkten Konkurrenz auszugleichen.
640 PS - 60 PS mehr als bisher - grollen nun in den Tiefen des hinter den beiden Sitzen befindlichen Motorraums und warten darauf, sowohl den Insassen als auch jenen Menschen, die seiner im Vorbeiflug ansichtig werden, den allerhöchsten Respekt abzunötigen. Der in weiten Teilen völlig neu konstruierte 60-Grad-V-Motor hat zumindest eines nicht verloren: seine unnachahmliche Art, sich mit all seiner Macht, Stärke und Charakterfülle in den Vordergrund zu drängen. Wie kaum ein zweiter Verbrennungsmotor schafft er es, die Konzentration wie ein Magnet auf sich zu ziehen.
Dabei legt er in seiner aktuellen Evolutionsstufe keineswegs mehr die Unzivilisiertheit seiner Ahnen an den Tag, sondern überrascht mit einer Laufkultur, die einen Vergleich mit jüngeren Konstruktionen keineswegs zu scheuen braucht. Dafür wurden allerdings nahezu alle Motorkomponenten entweder überarbeitet oder, wie beim Zylinderkopf und beim Ansaugtrakt der Fall, völlig neu konstruiert. Auch die Kurbelwelle sowie die gesamte Abgasanlage entsprechen neuen Spezifikationen.
Die Optimierung des Drehmomentverlaufs und ein verbessertes Ansprechverhalten gelangen durchaus nachvollziehbar durch den Einsatz einer nun kontinuierlich variablen Ventilsteuerung sowohl auf der Einlass- als auch auf der Auslassseite. Beibehalten wurde das originelle, elektronisch gesteuerte Klappensystem oberhalb der hinteren Kotflügel, das den Kühlluftbedarf individuell zu regeln versteht und daher laut Hersteller ein Maximum an aerodynamischer Effizienz gewährleistet. Angesichts der gebotenen Leistung erscheint dieser Aufwand auf den ersten Blick zwar etwas übertrieben. Doch bei näherem Betrachten der äußeren Umstände wird klar, dass das Erschließen aller technischen Ressourcen in diesem Genre kein Selbstzweck ist. Schließlich haben die Protagonisten der Hochgeschwindigkeitsliga einen Ruf zu verlieren. Wer hier nicht mit Höchstwerten jonglieren kann, ist leicht unten durch.
Aerodynamische Effizienz am Maximum
Was den LP 640 angeht, ist entsprechend der peniblen technischen Vor- und Nachsorge jedoch alles im Lot. Mit einer vom Schwesterblatt auto motor und sport in Era Lessin gemessenen Vmax von 340 km/h darf sich die Besatzung des Murciélago getrost als über den Dingen schwebend fühlen. Dieser Gemütszustand stellt sich allerdings auch schon früher ein: Bei 293 km/h, jenem irrwitzigen Tempo, das auf dem Nürburgring, am Ende der ansteigenden Döttinger Höhe kurz vor der Brücke am Tiergarten, ansteht. Was keineswegs heißen soll, dass der Lamborghini dort der Leichtigkeit des Seins anheimfallen würde - im Gegenteil: Er liegt auch hier wie das viel zitierte Brett auf der Fahrbahn und beweist bei dieser Gelegenheit einmal mehr seine außergewöhnlichen Talente in puncto Geradeauslauf.
Bevor die für sport auto entscheidenden Querkräfte ins Spiel kommen, noch einmal zurück zu den Fahrleistungen. Die zuweilen quälenden Bedenken im Vorgänger, den Leistungszenit in den hohen, lang übersetzten Gängen wegen der Verkehrsdichte so gut wie niemals erfahren zu können, spielen im neuen LP 640 keine Rolle mehr. Die Messwerte vermögen das subjektive Empfinden nur unzureichend wiederzugeben. Kurz gesagt: Es ist brutal.
In 3,4 Sekunden schießt sich der 1,8-Tonner in einer unvergleichlichen Leichtigkeit auf Landstraßentempo, dass dem unerfahrenen Beifahrer vor Schreck die Luft wegbleibt. Dabei ist alles so kinderleicht: Nur Vollgas geben, und vorm Erreichen des roten Drehzahlbereichs bei 8.000/min nicht vergessen, kurz am rechten Schaltpaddel zu ziehen. Dank des automatisierten EGear-Schaltgetriebes geht gemäß der alten HB-Werbung alles wie von selbst. Die Hände bleiben am Lenkrad und der Gasfuß auf dem Pedal.
Nach 11,2 Sekunden ist die 200er-Marke passiert - anschließend geht es weiter vorwärts, als werde der graue Star in das Auge eines Hurrikans gesogen. Tempo 300 macht der Lambo - nebenbei bemerkt - in 31,8 Sekunden. Da reichen auch mal kurze freie Autobahnstücke, um die Machtfülle dieses italienisch- deutschen Kunstwerks als Pausenfüller im Eiltempo auf sich einwirken lassen zu können. Die Schaltung funktioniert unter allen Umständen grandios: verschliffen und allenthalben schnell genug, um den anspruchsvollen Technik-Freak zufriedenzustellen. Den herkömmlichen Schaltstock mit polierter Kulisse vermisst nach kurzer Eingewöhnung keiner mehr - auch weil die alternative Automatikfunktion im Stadt- oder Stauverkehr durchaus große Erleichterung bringt. Das automatisierte Ein- und Ausrücken der Kupplung ist keineswegs ruppig, sondern ein Vorgang von höchster Geschmeidigkeit.
Keiner vermisst den Schaltstock
Der infernalische Vortrieb im Lambo erhält aber erst durch die akustische Untermalung des großvolumigen Zwölfzylinders, der direkt im Rücken der Passagiere seine wohltuende Wirkung erzeugt, die richtige Dramatik. Frei von Vibrationen und den sonst vielfach üblichen mechanischen Nebengeräuschen grollt er anfangs wie ein kurz vorm Ausbruch stehender Vulkan, um mit zunehmender Drehzahl ein markantes Lied von herzergreifender Eingängigkeit von sich zu geben. Man möchte diesen zunächst weichen, am Ende der Drehzahlskala aber knallharten Zwölfer-Sound nicht missen. Doch machen wir uns nichts vor: Leise oder kultiviert im Sinn von S-Klassen-Romantik ist das nicht. Radio hören oder tief greifende Diskussionen mit der Beifahrerin führen, das ist nur in den Tankpausen drin.
Dass Letztere eine besondere Bewandtnis haben, kündigt der Bordcomputer schon lange vor dem Zwangsstopp an. Die Info im Display "Distance to empty" taucht, untermalt von einem unangenehmen Piepton, bereits ab 100 Kilometer vor dem Ende der vorausberechneten Etappe mehrmals auf - wohl eingedenk der Tatsache, dass die Höhe des Verbrauchs an Super Plus extrem abhängig von der Aktivität des Gasfußes ist. Aus der angekündigten Reichweite von 100 Kilometer können unter Umständen blitzschnell nur noch zehn werden, wenn es etwa darum geht, die Nordschleife so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Womit wir bei einer der Kernaussagen des Supertests wären. Mit der Rundenzeit von 7.47 Minuten ist der Murciélago zwar faktisch sehr schnell unterwegs - was ihm selbstredend neun Wertungspunkte einbringt -, aber sie spiegelt auf Grund eines besonderen Setups nicht das Leistungsvermögen wider, das im LP 640 steckt. Die unter akzeptablen Bedingungen gefahrene Zeit repräsentiert gegenüber dem im Jahr 2002 getesteten Vorgänger nämlich nur eine Verbesserung von drei Sekunden.
Gemessen am feingetunten Grundkonzept inklusive des Allradantriebs und der gewalttätigen Karbonbremse sowie der deutlich gestiegenen Motorleistung und der Verbesserung an der Hardware des Fahrwerks (Federn, Stabilisatoren) und auch an der Software der elektronisch gemanagten Dämpfer, ist der auf dem Ring herausgefahrene Fortschritt zu gering. Da ist gefühlsmäßig eindeutig mehr drin. Und das nicht nur auf der Nordschleife, sondern auch auf dem Kleinen Kurs in Hockenheim, wo der Murciélago mit einer gegenüber dem direkten Ahnen um zwei Zehntel verbesserten Rundenzeit aufwartet (1.11,8 Minuten). Die Ursache ist schnell ausgemacht: Während der Vorgänger im Grenzbereich geradezu vorbildlich neutral agierte und auf diese Weise speziell auch die Vorteile des Allradantriebs eindrucksvoll in Szene setzen konnte, musste sich die aktuelle Version bei der Setup-Findung offenbar dem Diktat der Fahrsicherheit beugen.
Die deutliche Untersteuerneigung des neuen Murciélago sensibilisiert zwar den weniger routinierten Fahrer frühzeitig und gefahrlos hinsichtlich dessen, was er sich erlauben kann. Aber diese Einstellung geht deutlich zu Lasten der Agilität. Und sie kostet Zeit. Obendrein malträtiert der so konditionierte Murciélago die Vorderreifen auf der Rundstrecke derart heftig, dass man mit Rücksicht auf die montierten Pirelli P Zero Corsa-Pneus der Quälerei gern vorzeitig ein Ende macht. Nach zwei Runden Nordschleife, respektive rund 40 Kilometern am Limit war der Profilschnitt derart verhunzt, dass an eine neue Bestzeit ohnehin nicht mehr zu denken war. Der Vorteil dieser Abstimmung liegt auf der Hand: Mit einem ausbrechenden Heck bekommen LP 640-Bezwinger es nicht zu tun.
Der LP 640 quält die Reifen
Die Tatsache, dass durch das Schieben bis weit über den Kurvenscheitelpunkt hinaus das aktive Herausbeschleunigen behindert wird, bleibt allerdings beklagenswert - gerade vor dem Hintergrund der begeisternden Traktion, die der Allradler besonders unter Last beweist. Denn steht die Linie im Kurvenausgang erst fest, zieht sich der Murciélago dank seiner Kraft und des variablen Antriebs mit einer Macht und Spurtreue aus der Kurve heraus, dass es einem Tränen der Begeisterung in die Augen treibt. Auch der Lenkung kommt in diesem Zusammenhang eine etwas zweifelhafte Funktion zu. Erstens ist sie auffällig indirekt übersetzt - wohl um die Geradeauslauf.Qualitäten zusätzlich zu untermauern -, und zweitens agiert sie so schwergängig, dass die Fahrdynamik-Tests mit einem Muskelkater in den Oberarmen endeten.
Der durch sie verursachte Verlust von Agilität macht sich auch im Stadtverkehr bemerkbar, wo zudem die schiere Größe und die stark eingeschränkte Übersicht ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erfordern. Gleichfalls prägend im Sinne von einzigartig ist zu guter Letzt die Sitzposition: Die Lenkradachse ist leicht nach rechts versetzt und die Sitzfläche zum Ausgleich entsprechend etwas nach rechts eingedreht. Das ändert allerdings nichts an dem Umstand, dass die in die Dachfläche übergehende A-Säule die Kopffreiheit auf der linken Seite auf ein Minimum begrenzt. Würden gewiefte Anwälte das neue Gleichstellungsgesetz anwenden, stünde der Murciélago LP 640 also vermutlich gleich in mehrfacher Hinsicht am Pranger. Aber unter uns: Outlaws mit solcher Charakterstärke können sich im Grunde leisten was sie wollen. Die Herzen fliegen ihnen dennoch zu.