Corvette C6 im Supertest
Nach über 1,2 Million verkauften Corvette-Modellen stellt sich angesichts der nunmehr 6. Auflage die Kardinalfrage: Ist der US-Bolide noch immer ein Showcar oder zeigt er der Konkurrenz, wo der Hammer hängt?
Die aus engagierter Forscher-Sicht sicher etwas betrübliche Nachricht, dass technisch anspruchsvolle Lösungen per se nicht unbedingt dazu taugen, bei der Kundschaft Glücksgefühle zu erzeugen, dürfte sich mittlerweile auch unter den innovativsten Kräften der Automobilhersteller herum gesprochen haben. Das Gegenteil ist in Teilen der Automobilszene wohl eher der Fall: Traditionelle Werte stehen hoch im Kurs, zumindest jene Autos betreffend, die tendenziell mehr dem Spaß an der Freude als dem sachlichen Zweck gewidmet sind. Wohl dem Sportwagenhersteller also, der die angesagten Ideale nicht erst während der letzten Strategiesitzung in die Firmenstatuten geschrieben hat, sondern aus einer langen Entwicklungsgeschichte heraus eine konsequente Produktphilosophie zimmern konnte. Denn Traditionsfirmen allein ist es zugestanden, Althergebrachtes fortzuführen und technisch simple Lösungen als zeitübergreifende Konzepte zu präsentieren. Insbesondere solche, die an anderer Stelle wohl umgehend durch das Akzeptanzraster der Ingenieure gefallen wären. Die konsequente Linientreue wird von der Kundschaft in diesem Fall nicht nur gebilligt – sie erwartet sie geradezu. Da Tradition bekanntlich verpflichtet, ist ein solches Diktat natürlich auch eine schwere Bürde – vor allem aus technischer Sicht: Denn nur eine zentral angeordnete, untenliegende Nockenwelle als alleiniges Steuerungsorgan für den Gaswechsel eines Achtzylinder- 90-Grad-V-Motors ist sicher kein Mittel, um die stets auf Leistungssuche befindlichen und auf Profilierung bedachten Motorenentwickler der Konkurrenz nachhaltig zu erschrecken.
Corvette-Fans erwarten Traditionspflege
Auch auf der Fahrwerksseite zeugt ein Relikt aus der Pferdekutschen-Ära für zuweilen befremdliches Kopfschütteln: Blattfedern anstelle der ansonsten flächendeckend verwendeten Schraubenfedern – im Gegensatz zur stählernen LKW-Variante immerhin aus Kunststoff gefertigt und natürlich nicht längs-, sondern querliegend – sind wie selbstverständlich auch im sechsten Corvette-Jahrgang das Bindeglied zwischen den gefederten und den (ungeliebten) ungefederten Massen – technischer Anachronismus pur, zumindest auf den ersten Blick. Der Optimismus, den die Ingenieure trotz solcher Reminiszenzen an den historischen Motoren- und Fahrwerkbau an den Tag legen – Zitat: „Die leistungsstärkste Serien-Corvette stellt sich zuversichtlich jedem Vergleich mit den besten Sportwagen der Welt“ – ist aber beileibe nicht so abwegig, wie er angesichts dieser schrulligen Technik-Features erscheinen mag. Das macht die Sache wieder sympathisch. Nominell stellt dieser von einer zentralen Nockenwelle, über insgesamt 16 Stößelstangen und Kipphebel und je zwei Ventilen pro Zylinder gesteuerte „ Small-block“-V8 nämlich ein üppiges PS-Aufgebot von 404 PS zur Disposition.
Der seit Jahrzehnten immer wieder von neuem angewandte Trick hat auch bei der jüngsten Corvette nicht an Wirkung verloren: Bereitstellung von üppigem Hubraum als sowohl effektive als auch kostengünstige Alternative zu aufwändigen Ventilsteuerungsmechanismen und teuren Hochdrehzahlkonzepten. Hohes Drehmoment fällt bei dem im Grunde genommen simplen Vorgang der Hubraumerweiterung als Nebenprodukt sozusagen gratis ab. In der Summe sind es jetzt nicht weniger als 546 Newtonmeter bei 4.400 Kurbelwellenumdrehungen, die der knapp sechs Liter große Achtzylinder auf die Kurbelwelle stemmt. Das sind knapp 70 Newtonmeter mehr, als das konzeptionell identische 5,7-Liter-Triebwerk aus dem Vorgängermodell C5 zur Verfügung gestellt hat. Gegenüber den 344 Pferdestärken, die für die letzte, im Supertest angetretene „Commemorative Edition“ angegeben wurden, ergibt sich nunmehr auch ein Leistungsplus von immerhin 60 PS. Die Wucht, die hinter jedem einzelnen Verbrennungstakt steht, lässt sich schon an den überaus üppigen Durchmessern der Kolben ablesen: 101,6 Millimeter. Der energiegeladenen Flammfront stehen somit als Angriffsfläche nicht weniger als 81,07 Quadratzentimeter Kolbenboden zur Verfügung. Das Vorgänger-Triebwerk wies bei gleichem Hub (92,0 Millimeter) eine Bohrung von 99,0 Millimeter aus. Das schöne an dieser martialischen US-Technik ist: Man hört und spürt förmlich, dass hier die gleichen Urgewalten tätig sind, die die V8-Jünger schon vor Jahrzehnten in ihren Bann schlugen.
Die Urgewalt des V8 ist ständig spürbar
Im Leerlauf gleicht das Klangspektrum nach wie vor dem eines großen Schiffsmotors. Es wummert, bollert und röchelt im typischen V8-Rhythmus, so dass man unweigerlich zugeben muss: Dieser und kein anderer V8 ist das Original. Nimmt man die Literleistung, also die Anzahl der PS pro Liter Hubraum als Merkmal für den technologischen Entwicklungssprung, dann hat sich über die Hubraumerweiterung hinaus auch einiges getan: Beim bisherigen Motor betrug der Wert 60,7 PS/Liter, beim aktuellen sind es immerhin 67,9. Die Verfechter moderner Hochdrehzahlkonzepte werden angesichts solch zahmer Ansagen natürlich nur mitleidig schmunzeln. Für sie beginnt der Bereich, in dem Hochtechnologie sichtbar wird, erst bei Werten von über 100 PS pro Liter Hubraum – bei Saugmotoren wohlgemerkt. Aber wie dem auch sei – entscheidend ist, was am Ende dabei heraus kommt. Die in diesem Zusammenhang einzig relevante Zahl spricht zunächst einmal für die C6: Das Leistungsgewicht, also die Relation zwischen Motorleistung und Fahrzeuggewicht, beträgt nominell extrem günstige 3,7 Kilogramm pro PS. Dieser interessante Quotient ist nicht nur das Resultat der relativ hohen Motorleistung, sondern löblicherweise auch das eines relativ moderaten Gewichts.
Die überwiegende Zahl der Hersteller konzentriert sich der Einfachheit halber lieber auf die Erhöhung der PS-Zahl, anstatt die Gewichtsschraube nach unten zu drehen. Mit 1.492 Kilogramm vollgetankt bewegt sich das mit allen üblichen Notwendigkeiten ausgestattete Sechsliter-Coupé noch im akzeptablen Gewichtsrahmen. Dass sich die günstigen Eckwerte trotzdem nicht in überzeugendere Resultate umsetzen lassen, etwa in solche, wie sie vom Hersteller in Sachen Beschleunigung prognostiziert werden, ist ein Manko, das der C6 etwas vom ihrem Glanz nimmt. Den vom Werk angegebenen, sehr optimistisch anmutenden Beschleunigungswert von 4,1 Sekunden für den Sprint von null auf 100 km/h verfehlten nämlich gleich beide von sport auto gemessenen C6-Modelle – jeweils reguläre Testfahrzeuge aus dem Fuhrpark des Importeurs – deutlich. Die erste ließ es um 1,3 Sekunden langsamer angehen, die zweite um 1,1 Sekunden. Wobei sich diese Differenz leicht mit den unterschiedlichen Messbedingen, sprich Lufttemperaturen (29, beziehungsweise 22 Grad Celsius), erklären lässt. Sowohl in der Beschleunigung im unteren Geschwindigkeitsbereich als auch im Durchzugsvermögen bis 180 km/h lässt sich eigentlich keine signifikante Verbesserung gegenüber der letzten gemessenen C5 (siehe Supertest Ausgabe 9/2003) feststellen. Die nominell um 60 PS stärkere, aber gegenüber der C5 auch 40 Kilogramm schwerere C6 rehabilitiert sich am Ende aber immerhin durch einen besseren Beschleunigungswert bis 200 km/h: Mit 16,8 Sekunden fährt sie einen Vorsprung von einer Sekunde heraus.
Die C6 beschleunigt eine Sekunde schneller als die C5
Dass die aktuelle Corvette im oberen Tempobereich stärker zulegt als das Vorgängermodell, ist mit der verbesserten Aerodynamik zu erklären. Mit einem cw-Wert von 0,29 zeigt die stark geglättete Corvette ein sehr windschnittiges Profil, was das Temperament bei hohen Geschwindigkeiten zusätzlich anregt. Nachteile in Punkto aerodynamischer Balance sind damit allerdings einkalkuliert: Die Folge sind relativ starke Auftriebswerte sowohl an der Vorder- als auch an der Hinterachse (siehe Kasten „Windkanal“ auf Seite 22). Auch das manuelle Sechsganggetriebe erfüllt nicht mehr in allen Kriterien den aktuellen Status Quo. Während bei der Konkurrenz die Ganghebel heutzutage meist nur so durch die Gassen flutschen, oder sogar halbautomatische, sequenzielle Schaltgetriebe für Erleichterung sorgen, ist der Corvette-Pilot nach alter Väter Sitte gezwungen, mit Muskelkraft und Konzentration die Gänge zu sortieren. Der kurze, knorrige Schalthebel will mit festem Griff in die eng beieinander liegenden Gassen geführt werden. Das schüttelt man nicht so einfach aus der Hand. Hinzu kommt, dass die Anschlüsse in den überwiegend genutzten Fahrgängen nicht so perfekt geebnet sind, wie man es dem Motor wünschen würde. Auf diese Weise bleibt zwangsläufig das ein oder andere Zehntel auf der Strecke – sowohl bei Geradeausfahrt, als auch auf dem Rundkurs.
Wie man es von den Ami-Sportlern gewohnt ist, ist die sechste Gangstufe als Overdrive, beziehungsweise Schongang ausgelegt. Er spielt bei engagierter Fahrweise also so gut wie keine Rolle. Die Höchstgeschwindigkeit, vom Windscreen-Display beharrlich mit 299 km/h angezeigt, wird folgerichtig nur im fünften Gang erreicht. Auf der anderen Seite lassen sich im sechsten Gang bei 2.000/min knapp 160 km/h darstellen – das hat was, sofern einem der Sinn nach Cruisen steht. Der V8-Motor ist sich jedenfalls für keinen Einsatz zu schade und ist damit sowohl bei der entspannten Stadtbesichtigungstour als auch bei der Reise am fahrdynamischen Limit ein äußerst umgänglicher Begleiter. Sein grandioser Klang und der bärbeißige Antritt in allen Drehzahllagen stempeln den Sechsliter-Achtzylinder zum Leistungsträger ersten Ranges. Fast gelingt es ihm mit seiner faszinierenden Art, von diversen Missliebigkeiten im Umfeld abzulenken. Aber die durchdringenden Abrollgeräusche sowie die Tatsache, dass die Hinterachse auf kurzen Querfugen ungefragt den Sidestep probt, sind auch mit großem Wohlwollen nicht wegzudiskutieren. Generell ist die Aufgabenverteilung zwischen Querblattfedern und Dämpfern nicht sachgerecht ausformuliert: Die Federelemente erscheinen in ihrer Rate zu weich, die Dämpfer dagegen in ihrer Kennlinie zu hart geraten.
Die Dämpfer der Corvette C6 sind zu hart
Die Schwäche des Feder-/Dämpfersystems wird besonders auffällig bei der optionalen „F55 Magnetic Selective Ride Control“, die – wie das Porsche-System PASM – auf Knopfdruck zwischen „Tour“ und „Sport“ unterscheidet. Sie befand sich an Bord des zum Nachmessen bei günstigeren Witterungsbedingungen georderten Coupés. In der Komforteinstellung bewegt sich die Corvette zunächst wie ein Dampfer auf hoher See: stark rollend in alle Richtungen. In der „ Sport“-Einstellung tritt schließlich das schon beim Serien-Setup bemängelte Phänomen in verstärkter Form auf: starkes seitliches Versetzen der Hinterachse auf kurzen Autobahnquerfugen – was bei hohem Tempo heftiges Herzklopfen nach sich zieht. Nach solchen und ähnlichen Erfahrungen erinnert man sich gerne an den zweiten Charakterzug, der im Wesen der Corvette noch immer tief verankert ist: Man entferne beispielsweise das Targadach, verstaue es in dem riesigen Gepäckabteil, lümmele sich fortan etwas lässiger in die nach wie vor zu nachgiebigen Sitze und lasse die Hektik der Welt hinter sich. Das erleichtert auch den Umgang mit so zweifelhaften Gimmicks wie dem elektrischen Türöffner, der tatsächlich nur dann in Funktion tritt, wenn der Rückwärtsgang eingelegt ist. Wer den Trick nicht kennt und trotzdem raus will, sollte wissen, dass als Backup im Schwellerbereich des Fußraums noch ein mechanischer Türöffner zu finden ist. Wer auch davon keine Kenntnis erlangt hat, der sollte einfach noch ein paar Abkühlungsrunden drehen und den einfachen Dingen des Lebens Respekt zollen – dem guten alten mechanischen Türöffner beispielsweise.