Cadillac Seville und Mercedes 450 SEL
Der Cadillac Seville sollte die Importwagenflut in den USA eindämmen. Es kam anders: Der Seville gefiel Individualisten hier zu Lande, die partout keinen Mercedes wollten, wohl aber einen Achtzylinder.
Wer keine Amerikaner mag, für den ist der Cadillac Seville genau das richtige Auto. Seit es keinen Opel Diplomat V8 mehr gibt, verbindet er die Tugend des geschmeidigen Antriebskomforts mit einer seriösen, klar gezeichneten Karosserieform. Der erste echte Seville ist beinahe so gediegen gestylt wie der distinguierte Rolls-Royce Silver Shadow, an den GMChefdesigner Bill Mitchell wohl gedacht haben muss, als er die kantigen Linien des kompakten Cadillac zu Papier brachte.
Faszinierende Low-Tech hier, anspruchsvolle Technik dort
Der strenge, ehrliche Seville ist so rotlichtfrei und cowboystiefelresistent, dass ihn sich in den Siebzigern sogar die Schweizer scharenweise in die Tiefgaragen des Züricher Bankenviertels stellten. Seine Maße entsprechen denen eines Mercedes-Benz 450 SEL – sind also noch überschaubar und verkehrsgerecht. Preise und Unterhaltskosten sind um ein Vielfaches niedriger als etwa beim britischen Statussymbol mit der Emily auf dem klassizistischen Kühler. Außerdem hält die simple Technik von Motor, Getriebe und Fahrwerk lange und macht wenig Probleme. Von Spaßbremsen wie Frontantrieb und Quermotor blieb die erste Seville-Generation gottlob noch völlig verschont. Selbst wer keine amerikanischen Wagen mag, weil sie Low Tech statt High End verkörpern und Trommelbremsen hinten, einen Vierfachvergaser und eine zentrale Nockenwelle für den Stand der Technik halten, wird vom ersten Schlüsseldreh an fasziniert sein.
Der Cadillac gleitet sanfter als der 450 SEL
Wenn der hellblau lackierte Smallblock-V8 fauchend zum Leben erwacht, das lauteste Geräusch im Leerlauf das Lüfterrauschen ist, und sich bei einem sanften Tritt auf das riesige stehende Gaspedal der großkolbige Motor in seiner Aufhängung wiegt, dass der Vorderwagen sinnlich um die Längsachse taumelt. Wer keine Amerikaner mag, liebt große Mercedes-S-Klassen mit V8-Motor. Sie sind das Gegenteil der US-Limousinen – seriös, solide, technisch anspruchsvoll und in der Stilistik geschmackssicher, innen wie außen. Und dazu mindestens so zeitlos, dass sie sogar fünf US-Modellzyklen überstehen und am Ende sogar noch moderner wirken. Sang nicht sogar Janis Joplin, „oh Lord, won‘t you buy me a Mercedes-Benz“ – und drückte damit die Sehnsucht der amerikanischen Oberschicht nach formaler Ästhetik und anspruchsvoller Technik aus. Selbst strahlende Lincoln und Cadillac haben gegen das Image des Sterns keine Chance. Aber so leise und kultiviert wie ein Seville benimmt sich selbst ein 450 SEL nicht, einst sein stärkster Rivale auf dem heimischen US-Markt.
Stets deutlich hörbar, hämmert der Big-Benz sein Stakkato in den Asphalt. Dabei wirkt er hochtouriger und atemloser als der vergleichsweise primitiv konstruierte Rivale aus Detroit. Aber auch deutlich kräftiger, denn ein Leistungsplus von 53 PS kann selbst vom sonst so unersetzlichen Hubraun nicht ausgeglichen werden. Auch die Schaltvorgänge der Daimler- Benz-Dreigang-Automatik sind selbst bei sanfter Beschleunigung deutlich spürbar. Die Achsübersetzung fiel mit 3,07 für ein Auto dieses Kalibers recht kurz aus. Der Mercedes dreht deshalb im direkten Gang unnötig hoch. Gerade einmal 100 km/h entsprechen schon knapp 3000/min. Die Turbo-Hydra-Matic des Cadillac Seville gleitet so samtweich von einer Fahrstufe zur anderen, dass sich selbst Rolls- Royce nicht zu fein war, dieses profane, aber perfekte Massenteil einzubauen. Viel Leistung muss die GM-Automatik nicht verkraften. In der späten 79er Variante bringt es der von Oldsmobile konstruierte Achtzylinder trotz Bendix-Benzineinspritzung gerade einmal auf 172 DIN PS.
Cadillac Seville: Wenig Leistung, mehr Drehmoment
Einzig das maximale Drehmoment von 373 Newtonmeter befördert den leistungsmäßig hoffnungslos überlegenen Seville auf Mercedes-Niveau. Wer nach Einlegen der Fahrstufe D beim Anfahren kräftig Gas gibt, stürmt mit nur 2000 Touren schon auf dem Gipfel der Durchzugskraft, was eine lässige Kraftreserve bedeutet. Der Cadillac Seville war einst mit knapp 50 000 Mark teurer als die Fullsize-Limousinen. Seine kompakte, selbsttragende Plattform samt blattgefederter Starrachse stammt peinlicherweise vom Chevrolet Nova, einem Melonenpflücker-Auto, das in der GM-Modellhierarchie ganz unten rangiert. Sogar die aufwendige Diplomat- B-Bodengruppe mit DeDion-Achse zogen die GM-Konstrukteure für den kompakten Luxus-Cadillac ins Kalkül, der ja mit technischem Feinschliff gegen die anspruchsvolle europäische Konkurrenz antreten sollte. Aber der Rotstift siegte. Immerhin bekam die archaische Nova- Hinterachse eine hydraulische Niveauregulierung mit zusätzlichen Federelementen spendiert, die schlechte Straßen zähmt und für einen besseren Abrollkomfort sorgt.
Hintere Scheibenbremsen wurden beim Seville 1977 nachgereicht und damit ein Killer-Argument beseitigt. Vom Kastenrahmen, einst robustes Konstruktionsmerkmal nahezu aller US-Automobile, blieb nur noch ein vorderer Fahrschemel übrig. Dieser hält die gusseisernen Massen von Motor und Getriebe verwindungssteif fest. Eine Sänfte ist der Seville vor allem auf schlechten Straßen nicht – in engen Kurven untersteuert er stark und mag eigentlich viel lieber geradeaus fahren. Obwohl er schon viel besser liegt als seine Fullsize-Brüder, lässt seine Lenkpräzision zu wünschen übrig. Das auffallend kleine, axial und in der Höhe verstellbare Lenkrad fühlt sich in der Mittellage so labil an wie das einer S-Klasse mit 200 000 Kilometern auf der Uhr. Der hohe Fahrwerksaufwand mit hinterer Schräglenkerachse samt Bremsnickausgleich und vorderer sorgfältig abgestimmter und geführter Doppelquerlenkerachse zahlt sich bei der S-Klasse aus. Er wird stets im geschmeidigen Fahrkomfort spürbar.
Außerdem benimmt sich der 450 SEL in schnell gefahrenen Kurven viel neutraler, seine anerzogene Neigung zum Untersteuern ist weit weniger ausgeprägt. In ihrer Persönlichkeit trennen beide Luxus-Limousinen Welten. Das mag stilistisch und technisch bedeutend sein, wird aber am eindrucksvollsten im Ambiente. Der Mercedes 450 SEL nimmt einen sofort für sich ein. Duftendes Leder feinster Qualität in schmalen perforierten Pfeifen appetitlich vernäht. Kontrastreiche, funktionelle Instrumente blicken streng, aber verlässlich zurück. Breite bequeme Sitze, viel Fußraum vorn und vor allem hinten. Ein großzügiges Raumgefühl verwöhnt die Sinne, gediegenes Holz schmeichelt dem Auge und vermittelt zusammen mit dem Ledergeruch Geborgenheit. Hier ist man zu Hause angekommen, obwohl man unterwegs ist.
Exzellentes Bedienungskomfort Schalter und Hebel, ergonomisch durchdacht platziert, selbst erklärend mit satt rastender Attitüde. Wertvoll in der Machart, zeitlos in Stil und Funktion. Der Seville bietet in seiner Möblierung das zweifelhafte Flair eines alten Datsun Laurel. Das hellgraue echte Leder gibt sich große Mühe, keins zu sein, die verchromten Knöpfe sind wild übers Instrumentenbrett verstreut – wie bei einem japanischen Radiorecorder von 1975. Der Breitbandtacho ist nur ein Sehschlitz, und der Knauf des Lenkradwählhebels fasst sich so indifferent an, als wäre er aus Lakritz. Der Hochflor- Teppichboden sieht aus wie Zuckerwatte, und letzlich haben die winzigen Kopfstützen, die schief aus den Sesseln wachsen, sicher nur Alibifunktion. Diese glitzernde Plastikwelt hat trotzdem etwas Faszinierendes.
Der Seville will entdeckt werden, seine Spielereien gehören enttarnt. Nichts außer den aus dem Vollen gefrästen Pedalen ist selbstverständlich. Im Handschuhfach verbirgt sich der Entriegelungsknopf für die Kofferraumhaube. Unter dem Deckel des Ablagefachs zwischen den Vordersitzen stecken Notizblock und Stift, zahlreiche Indikator-Lämpchen informieren den Fahrer über die Funktion der Leuchten. Und wenn er eine Fahrstufe einlegt, löst sich automatisch die Parksperre. Verblüffendes erlebt der Seville-Novize auch nach dem Einladen des Gepäcks. Wie beim zigfach teureren Mercedes 600 schließt eine Zuziehhilfe diskret den aufgelegten Deckel. Die Machart des Seville ist nur so gut wie nötig, nicht wie beim Mercedes so gut wie möglich. Dafür wird der Fahrer von einem exzellenten Bedienungskomfort verwöhnt, der seinesgleichen sucht. Speziell fehlt ihm trotz einer gewissen Nonchalance in der Verarbeitung das dünnwandige Coladosen-Qualitätsgefühl früher Japaner.
Die dicken Türen fallen solide ins Schloss, die Motorhaube hält von selbst ohne primitive Stange. Sogar spritzverzinkte Bleche wurden seinerzeit eingesetzt: „Body by Fisher“ heißt es in einem Logo auf den verchromten Einstiegsblechen. Dies täuscht maßgeschneidertes Coachwork vor wie von Hooper, Mulliner oder Park Ward. Jeder Chevrolet Malibu hat es auch. „Standard of the World“, hieß jahrzehntelang der unbescheidene Cadillac-Werbeslogan. Der Seville kann zwar dem 450 SEL nicht wirklich das Wasser reichen. Er ist aber eine höchst reizvolle Alternative für alle, die schon eine Überdosis Mercedes abbekommen haben. Oder für die, die eigentlich keine amerikanischen Autos mögen.