Auge in Auge mit der Geschichte: WDR-App soll den Unterricht bereichern

Wie sollen junge Menschen das unfassbare Leid des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit begreifen? In einer Zeit, in der die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen altersbedingt immer weniger werden, ist diese Frage wichtiger denn je. Eine mögliche Antwort bietet die interaktive Augmented Reality App "Zeitzeugen 1945 - Trümmerjahre in AR" vom WDR, die passend zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai veröffentlicht wird. Das in Kooperation mit der Hochschule Düsseldorf entstandene Projekt ist bereits das vierte nach "WDR AR 1933-1945", "Inside Auschwitz" und "Stolpersteine NRW".
Sechs Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, allesamt in den Jahren zwischen 1927 und 1938 geboren, erzählen in vier Kapiteln vom Ende des Zweiten Weltkriegs: "Hunger hatte ich eigentlich immer", erinnert sich etwa Ruth Barra, die bei Kriegsende sieben Jahre alt war. Noch vor dem Schulbeginn, so erzählt sie, habe sie für ein Stück Brot Schlange stehen müssen. Oft ging sie dabei leer aus, weil die Erwachsenen sich vordrängten: "Mein sehnlichster Wunsch war, ein ganzes Brot zu besitzen. Das wollte ich durchbohren, mir um den Hals hängen und immer davon abbeißen."
"Der emotionale Zugang hilft, dass man sich eine Sache auch merkt"
Die Videos sind das Ergebnis von Interviews, die die Projektverantwortlichen mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen führten. Das Besondere daran: Die Fragen wurden erstmals in Zusammenarbeit mit einem Projektkurs der Kölner Trude-Herr-Gesamtschule entwickelt: "Die Schülerinnen und Schüler haben uns zwei Schulhalbjahre lang bei der Entwicklung der App intensiv begleitet", erklärt die Projektleiterin Dorothee Pitz. Ziel sei es gewesen, die beteiligten Schülerinnen und Schüler mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ins Gespräch zu bringen. "Der emotionale Zugang hilft, dass man sich eine Sache auch merkt", erklärt der beteiligte Lehrer Albert Almering.
Welche beeindruckenden Früchte ein derartiges Projekt tragen kann, zeigte sich bei der Pressekonferenz am Montag: Der 18-jährige Schüler Max berichtete von einem Podcast, den er gemeinsam mit einem Freund aus Interviews mit seiner Urgroßmutter entwickelt habe. Die Idee dazu lieferte ihm die Arbeit an "Zeitzeugen 1945 - Trümmerjahre in Augmented Reality".
Interaktive Gestaltung
Auch an der bildlichen Gestaltung der App waren die Jugendlichen maßgeblich beteiligt: Die Videosequenzen der Interviews werden mittels sogenannter Augmented Reality (zu Deutsch: erweiterter Realität) virtuell in die reale Umgebung der Nutzerinnen und Nutzer eingebettet und durch thematisch passende und teils interaktive und immer liebevoll gestaltete Animationen ergänzt: Wenn sich die 1934 geborene Marianne Blasberg etwa an den Kältewinter 1946/47 erinnert und von den mit Eis überzogenen Wänden des Kellers erzählt, in dem sie nach der Zerbombung ihres Zuhauses mit ihrer Familie lebte, gefriert in der App der Bildschirm. Zeitzeugin Helga Cent-Velden wiederum wird in eine 360°-Trümmerlandschaft projiziert, die durch Schwenken des Bildschirms genauer betrachtet werden kann.
"Die Schüler hatten das Gefühl der Ernsthaftigkeit", beschreibt Lehrer Almering im WDR-Interview: "Es war für sie schon etwas Besonderes, etwas, was sie aus dem Alltag kennen, eine App, mitgestalten zu können und als Gesprächspartner ernst genommen zu werden, und mal aus der Schule heraus wirken zu können."
Ein Vorbild für weitere Projekte
Es ist zu hoffen, dass "Zeitzeugen 1945 - Trümmerjahre in AR" nicht das letzte interaktiv-partizipative Projekt dieser Art bleiben wird. In Zeiten, in denen immer mehr junge Menschen Wissenslücken bei historisch relevanten Themen wie etwa dem Holocaust aufweisen, braucht es dringend neue Ansätze, um das Interesse an vergangenen Zeiten auch bei der von TikTok geprägten Generation zu wecken. Im Idealfall wachsen so auch die jungen und die älteren Generationen wieder ein Stück weit zusammen.
Alle in der App dargestellten Inhalte wurden von einer Historikerin geprüft. Die individuellen Zeitzeugenberichte werden durch Hintergrundinformationen in der App sowie ein umfangreiches Begleitmaterial auf https://www.planet-schule.de/schwerpunkt/app-zeitzeugen-1945/ ergänzt.