Mit dem Lowrider durch New York
Ausflug in die bunte Autoszene Amerikas, heutiges Kapitel: Lowrider. Die springenden Kisten kennt man ja von der Westküste. Aber in New York City?
Treffpunkt West 42nd Street, Ecke 6th Avenue, Bryant Park, fünf Minuten vom Times Square entfernt, pünktlich um elf Uhr – so lauteten Willys knappe Instruktionen per Mail. Und wer ist um elf Uhr nicht da? Und 30 Minuten später immer noch nicht? Da hätten wir sie, die erste Regel der Lowrider: Relax, man!
Leider kennt sie der Cop auch nicht und zeigt genervt auf das Parkverbotsschild. Die Typen sind hier wie Tiger in einem riesigen Wildpark – immer zur Stelle, wenn es etwas zu jagen gibt. Okay, okay, dann drehen wir halt noch ’ne Runde um den Block. Ist ja kaum was los hier, im Herzen von Manhattan.
Aufmerksamkeit auf Knopfdruck
Als Willy irgendwann mit seinem schneeweißen Impala Cabrio angerollt kommt, hat er sofort einige Selfie-Künstler am Haken. Kein Wunder: was für ein feister Schlitten unter all den zerkratzten Taxen, hochbeinigen SUV und protzigen Sportwagen. Eine Wohltat für die Augen echter Autofans in New York. In puncto Patina und Style kommt hier kaum jemand an den coolen Chevy heran. Und natürlich perlt die Stunde Verspätung an Willy ab wie Wasser auf dem polierten Lack seines Babys.
Abgebrühte Typen wie er kommen ja eigentlich gar nicht zu spät, sie halten den verschobenen Auftritt einfach für die bessere Wahl. Von wegen Überraschung, Bedeutung der Persönlichkeit und so. Dabei sichert ihm sein Wagen auf Knopfdruck jene Aufmerksamkeit zu, die in New York normalerweise nur der nackte Cowboy bekommt – wenn auch nur von Touristen. Willy kriegt auch die echten New York.r, die, die schon alles gesehen haben und die nichts mehr schockt. Dafür muss er nur an einem der zehn Hebelchen in der Mittelkonsole ziehen. Sogleich surrt eine der Pumpen im Kofferraum, presst dünnes Öl mit mächtig Druck durch fingerdicke Leitungen – und schwupps – schon beginnt die schwere Karosse des Impala über einem der Räder nach oben zu schweben.
Während das passiert, drückt sich Willy die Sonnenbrille tiefer auf die Augen, lässt Hip-Hop-Beats aus den Türlautsprechern wummern und seinen Wagen rhythmisch zur Musik tanzen. Dabei werden die verstopften Straßen von Manhattan zu seiner Bühne, New York City zu seiner Party. Ziemlich abgefahren – und selten zugleich. Zumindest an der Ostküste. Das wissen mittlerweile auch die Cops und lassen die Lowrider hier ihr Ding machen lassen.
Fly low
Wo und wann genau die ersten Lowrider entstanden sind, darüber herrscht Uneinigkeit. Sicher ist nur, dass es irgendwo zwischen San Diego und Mexiko gewesen sein muss. Und dass es technisch gesehen von Anfang an darum ging, mit speziellen Hydrauliksystemen den Abstand zwischen Karosse und Achsen millimetergenau verändern zu können. Gern im Takt der Musik. Klingt trivial, meinen Sie? Stimmt nicht ganz. Die Nummer mit dem Auf und Ab ist technisch nicht ohne, kostet ruck, zuck zehn große Scheine. Schließlich wollen sämtliche Leitungen, Verstärkungen, Lifter und Pumpen wohlplatziert sein, damit alles flüssig läuft. Kommandiert wird per Fernbedienung in der Mittelkonsole. Ob zwei, drei, vier oder mehr Pumpen das Gewichtheben übernehmen und ob sich die Karosse 20 Zentimeter bewegt oder zwei Meter – reine Kostenfrage. Möglich ist so ziemlich alles im Land der unbegrenzten TÜV-Regeln. Die Pumpen werden übrigens nicht von dicken Achtzylindern genährt, sondern von mächtigen Bleibatterien, die ebenfalls im Kofferraum platziert werden.
Wozu das Ganze?
Warum gibt es Chiptuning? Diamantenbestückte Felgen und matte Lackierungen? Es ist der Wunsch nach Individualisierung. Nach etwas Außergewöhnlichem, das in den meisten Fällen nicht zwingend mit Logik Hand in Hand spaziert. Sondern dem Geschmack folgt. Lowrider wollen überraschen, daher nehmen sie meist auch ganz normale Autos, gern gut erhaltene Klassiker für ihre Umbauten. Die sind im Straßenbild fest verankert – umso größer fällt dann der Wow-Effekt aus, wenn sie auf einmal anfangen zu tanzen. Oder das Heck mannshoch in die Luft strecken, während die vordere Stoßstange über den Asphalt kratzt.
Aus dem Grund haben Willy und seine Jungs ihren Lowrider-Club in New York auch genau so genannt: Lunatics. Die Entstehungsgeschichte erklärt am Besten, wie die Truppe drauf ist. Es war kurz nach der Jahrtausendwende, erzählt Willy, während er mit uns durch die Schatten der Glastürme gleitet, als auf einmal ein Typ namens Julio vor seiner Waschanlage auftauchte und um seinen 1984er Cadillac Lowrider schlich. So was hätte er auch gern. Kurz darauf kam er mit einem frisch umgebauten 1960er Ford Thunderbird ums Eck, und fortan cruisten die beiden regelmäßig durch New York City, wo sie weitere Gleichgesinnte trafen. 2002 gründeten sie dann den Club. Der zählt mittlerweile 13 Mitglieder, 18 Autos und hat neben ein paar untergeordneten Punkten eine goldene Regel: Jeden Freitagabend wird durch Manhattan gerollt. Geburt oder Tod entschuldigen, sondern nichts. Wer dreimal nicht aufkreuzt, fliegt.
Heute wird ebenfalls geflogen – und zwar tief. Willy lässt den Wagen ganz runter und gleitet mit uns gemütlich Richtung Manhattan Bridge. Abgesehen von den paar Extrakilos merkt man dem Impala auf den ersten Metern nicht an, dass sein Fahrwerk Tricks draufhat.
Es scheppert in den Radhäusern
Nur wenn die Risse in den Straßen richtig tief sind, scheppert es in den Radhäusern. Dann zuckt Willy zusammen, wohl wissend, welchen Wert er da zerstören könnte. „Die Straßen sind erbärmlich“, murmelt er und kommt vor einer der vielen roten Ampeln zum Stehen. Als die Fußgänger auf Höhe Kühler des Chevy die Straße überqueren, lässt er die Front langsam nach oben fahren. Ein paar Passanten bleiben stehen, grinsen und fotografieren die Szene. In dem Moment sind alle Schlaglöcher vergessen, und Willy freut sich, ohne das allzu sehr zu zeigen. Auf der anderen Seite der Manhattan Bridge, in Brooklyn, wartet Club-Anwärter Sozza auf uns. Der fährt ebenfalls ein Chevy Impala Cabrio, inklusive meterhoher Boxen auf dem Rücksitz, aus denen er die Umgebung beschallt und dazu lässig mitsingt. Sozza fiebert dem Umbau zum Lowrider entgegen, denn danach kann er endlich bei den Lunatics antreten und mitfahren. Der Club ist schließlich die erste Adresse für Lowrider in New York City, ach was, an der gesamten Ostküste. Längst wird er für Werbeaufnahmen und Videoproduktionen gebucht. Kürzlich erst tanzten die Autos bei den MTV Music Awards. „Da waren wir zur Abwechslung mal oberpünktlich am Start“, ruft uns Willy zum Abschied zu – und grinst mindestens so breit wie das Kühlergesicht seines Impala.