In Melbourne kein Siegerauto

Zwei Tage lang haben die Ferrari-Fans gehofft, dass sich ihr Team absichtlich versteckt, um nicht zu große Hoffnungen zu wecken. Am dritten Tag gab Teamchef Mattia Binotto zu: „Wir haben für Melbourne kein Siegerauto. Andere sind derzeit schneller als wir.“
Vor einem Jahr war Ferrari nach der ersten Testwoche der große Favorit für den WM-Titel. Dann hat es 13 Rennen gedauert, bis der Mercedes-Herausforderer das erste Rennen gewonnen hat. Da war der WM-Zug längst abgefahren. In diesem Jahr präsentierte sich nach drei Testtagen ein ganz anderes Bild. Ferrari hielt sich bei der Zeitenjagd dezent zurück und rangierte bestenfalls im Mittelfeld. Immer mehr als eine Sekunde hinter der Tagesbestzeit. Charles Leclerc und Sebastian Vettel maskierten das wahre Bild mit der Aussage, dass Ferrari in der ersten Woche nicht ernst mache. „Es ist die Zeit des Kennenlernens und des Datensammelns.“
Die Ferrari-Fans lebten von der Hoffnung, dass sich ihr Team diesmal absichtlich zurückhält, um die Konkurrenz dann in Melbourne zu überraschen. Ferrari-Teamchef Mattia Binotto bedauert. „Es stimmt, dass wir unseren Ansatz gegenüber dem Vorjahr geändert haben. Wir wollen in der ersten Woche unser neues Auto verstehen, die Abstimmung optimieren und Daten sammeln. Auf Rundenzeit haben wir nicht geschaut. Trotzdem sind wir nicht so optimistisch wie vor einem Jahr. Andere sind schneller als wir. Noch können wir nicht sagen, um wie viel.“ Daran wird sich bis zum Saisonstart in Melbourne nichts ändern. Ferrari bringt bis dahin kein signifikantes Upgrade. „Wir versuchen zu optimieren, was wir haben.“ Binotto bedauert: „Wir haben in Melbourne kein Siegerauto. Ich gehe nicht davon aus, dass wir Mercedes dort schlagen.“
Motorschaden nach 1.370 Kilometer
Ferraris erster Mann räumt ein, dass Mercedes für den Moment ein besseres Auto gebaut hat. „Wir hoffen, dass wir den Rückstand im Verlauf der Saison wettmachen können. Es hängt jetzt davon ab, in Bezug auf die Auto-Entwicklung die richtigen Entscheidungen zu treffen.“ Der Mann mit der Harry Potter-Brille gibt auch zu, dass man sich intern Sorgen macht: „Das tun wir aber immer, wenn wir nicht schnell genug sind.“ Ob man wenigstens die eigenen Ziele erreicht habe, konnte Binotto nicht sagen: „Noch haben wir das Auto nicht optimal abgestimmt. Noch fahren wir nicht mit voller Power.“ Trotzdem ging schon ein Motor zu Bruch. Laut Binotto ungewöhnlich früh. Als Vettel ausrollte, hatte der Motor 1.370 Kilometer auf der Uhr. Geplant war, mit einem Motor alle sechs Tage zu fahren. Das wären über 4.000 Kilometer und noch nicht einmal die Mindestdistanz, die ein Motor im Verlauf der Saison schaffen muss.
Wo Ferrari wirklich steht, ist bei dem Versteckspiel schwer zu sagen. Es mag nicht ganz so schlimm kommen, wie es Binotto angedeutet hat. Seine Aussagen sind klar so gewählt, um nicht in die gleiche Falle wie 2019 zu tappen. „Erinnert euch an die Geschichte vom letzten Jahr. Wir dachten nach den Testfahrten, wir wären konkurrenzfähig und wurden in Melbourne klar geschlagen. Vielleicht schauen auch in diesem Jahr einige beim Testen besser aus als im ersten Rennen.“ Mercedes sicher nicht. Die Silberpfeile sind nach Binottos Meinung wieder in Topform: „Sie haben ein sehr gutes Auto gebaut.“ Mit und ohne DAS-System. Das bereitet Binotto das geringste Kopfzerbrechen. „Wir müssen erst einmal verstehen, wie es arbeitet und welche Vorteile es bringt.“ Würde Ferrari entscheiden, ein ähnliches System zu bauen, wäre es nicht vor Saisonmitte fertig.
Ferrari verliert in langsamen Kurven
Die Probleme des Ferrari SF1000 sind noch nicht genau benannt. Sebastian Vettel erzählt, dass man einige Schwachpunkte des Vorgängers ausradiert habe, andere aber immer noch da sind. GPS-Messungen der Gegner zeigen, wo es bei Ferrari hakt. Wie im Vorjahr im letzten Streckensektor und in Kurve 5. Also in langsamen Passagen. Im letzten Jahr war Ferrari wenigstens auf den Geraden eine Macht. Vettel erzielte zwar am dritten Testtag mit 329 km/h den zweitbesten Topspeed, doch Binotto will das nicht als Indiz dafür sehen, dass man den Motor schon von der Kette gelassen hat. Bei Mercedes bleibt man gelassen. „Nach unseren Messungen fährt Ferrari konstant auf niedrigen Power-Stufen. Nur die Kundenteams drehen hin und wieder auf. Daran lässt sich ausrechnen, dass der Motor ungefähr die Power hat wie am Ende der letztjährigen Saison.“
Trotz der Sorgen, die Ferrari eigentlich umtreiben müssten, fällt eines auf. Mattia Binotto wirkt relativ entspannt. Vettel verbreitet sogar eine außergewöhnlich aufgeräumte Stimmung. Entweder ist das Galgenhumor, oder es kommt nicht ganz so dramatisch, wie es Pessimisten erwarten. Es wird schon spekuliert, dass Ferrari derzeit hinter Mercedes, Red Bull und Racing Point nur die Nummer vier im Feld ist. Nur die Körpersprache von Charles Leclerc schien eine gewisse Nervosität zu verraten. Ein Beobachter versucht das zu deuten: „Binotto und Vettel sind alte Hasen. Sie haben so etwas schon oft mitgemacht. Für Leclerc geht es in seinem zweiten Ferrari-Jahr um alles. Er hat sich für fünf Jahre an das Team gebunden und will jetzt ernten.“