„Das ist Fake-Racing. Wir wollen pures Racing“
McLaren-Pilot Lando Norris spricht im Interview über seine Saison, die Zusammenarbeit mit dem Team, Fahranweisungen der Ingenieure und die Wünsche der Fahrer.
Wie bewerten Sie Ihre bisherige Saison?
Norris: Ich bin ziemlich glücklich damit, auch wenn ich zwischendurch etwas Pech hatte. Speziell am Nürburgring. Ich lag auf Platz vier und hatte Chancen auf das Podest. Da habe ich einen Haufen Punkte verloren – wie in Portimão auch. Es gibt hier und da ein paar Sachen, die ich gerne verbessern würde. Im Vergleich zum letzten Jahr habe ich aber die Bereiche verbessert, die ich verbessern wollte. Ich bin ein viel besserer Fahrer.
Könnten Sie bitte Beispiele nennen?
Norris: In der Qualifikation läuft es in Ordnung. Vielleicht nicht so gut wie im letzten Jahr. Aber über das Rennwochenende hinweg – vom ersten Training bis zum Rennen – bin ich beständiger geworden. Ich habe ein besseres Verständnis für die Balance, die ich brauche, und wie ich mich für den Sonntag einstimmen muss. Da habe einen großen Sprung gemacht. Es sind verschiedene Puzzlestücke, die richtig gesetzt werden müssen Die Strategie, das Reifen.chonen, die Kommunikation. Da mache ich überall einen besseren Job.
Charles Leclerc erklärte in Imola, er gebe ab dem ersten Training mehr Gas als 2019. Machen Sie das auch so?
Norris: Ziemlich ähnlich. Ich versuche mehr unterschiedliche Sachen bereits ab dem ersten Training, und entdecke mehr. Ich denke mehr daran, was ich für den Rennsonntag brauchen werde: Was könnten die Probleme sein? Was die limitierenden Faktoren? Es geht mehr darum, vorauszuschauen, als sich auf das eigentliche Training zu fokussieren. Was erwartet mich in der Zukunft, und nicht jetzt? Dieser Ansatz zusammen mit der harten Arbeit mit den Ingenieuren ist der Schlüssel, den Freitag und Samstag stärker zu nutzen, um am Sonntag besser dazustehen.
In welchen Bereichen liegt das größte Verbesserungspotenzial?
Norris: Ich denke, die Qualifikation. Damit bin ich nicht so zufrieden. Selbst in den ersten Rennen nicht, als ich weiter vorne startete. Ich hatte nie das Gefühl, eine wirklich gute Runde gefahren zu sein. Ich fühle, dass mehr Potenzial in mir steckt. Manchmal reize ich es in Q1 oder Q2 aus. Doch in Q3 bringe ich es nicht zusammen. Im Rennen sind es Kleinigkeiten, die ich perfektionieren möchte. Vielleicht meine Starts. Es ist aber nichts furchtbar. Es ist vieles ziemlich gut. Aber ich will es sehr gut machen.
Wie gehen Sie mit schlechten Phasen um, wie zwischen Russland und Portugal, als sie dreimal in Folge einen Nuller schrieben?
Norris: Natürlich bin ich darüber enttäuscht. Speziell nach Rennen wie in Deutschland, die das Team und mich in den Weltmeisterschaften hätten voranbringen können. Aber wenn ich darüber nachdenke, liegt wenig in meiner Hand. In Deutschland war der Motor das Problem. Ich fühle aber, dass das Team und ich gute Arbeit leisten. Wir hatten einfach ein paar Probleme und Pech. Wenn ich es von dieser Seite sehe, nimmt es mir die Enttäuschung, drei Rennen in Folge nicht gepunktet zu haben. Wir müssen einfach hart weiterarbeiten. Dann werden wir uns ein paar Punkte zurückholen.
Schauen Sie sich Ihre Rennen eigentlich im Hotel oder zuhause an, um zu lernen?
Norris: Bei der Nachbesprechung kommt alles auf den Tisch. Das sind intensive Besprechungen. Manchmal kommen mir auch Fragen montags oder dienstags, die ich dann stelle. Ich denke immer an das Rennfahren, und was ich besser machen könnte. Es ist aber nicht so, dass ich mir sonntags das ganze Rennen anschaue. Manchmal Teile, wie zum Beispiel Überholmanöver, um zu sehen, was die anderen gemacht und wie sie sich verhalten haben. Aber es ist gut, auch mal frei zu haben.
Was hat Sie in zwei Jahren Formel 1 am meisten überrascht?
Norris: Ich bin mir nicht sicher. McLaren hat mich auf die Überraschungen gut vorbereitet. Für die Schwierigkeiten war ich gerüstet. Vielleicht habe ich sie anfangs nicht so gut gelöst. Es gab aber keinen Schock oder etwas Vergleichbares. Ich wusste mit allem umzugehen.
Was war die wichtigste Lektion, die Sie in fast zwei Jahren Formel 1 gelernt haben?
Norris: Die Arbeit mit dem Team. Mein Performance-Ingenieur, mein Renningenieur, mein Motoreningenieur. Sie sind für mich da, um mir zu helfen. Und ich muss anders herum sie unterstützen. Ich muss aus meiner Gruppe das Maximum herausholen, damit ich das Maximum liefere.
Helfen Sie deshalb beim Abbau am Rennsonntag mit?
Norris: Es ist nichts, was ich tun müsste. Ich mache das, weil es mir Spaß macht. Weil wir miteinander lachen. Weil wir Erinnerungen schaffen. Ich genieße das. Als Bonus erledigen sie ihre Arbeit schneller. Wenn ich helfe, sind sie früher fertig, können eher ins Hotel und entspannen. Vor ein paar Jahren waren Atmosphäre und Mentalität im Team nicht so gut wie heute. Ich denke, was ich getan habe, spielte eine Rolle, um uns dorthin zu bringen. Aber ich verlange das jetzt nicht von anderen. Es ist etwas, was ich mit Freude mache, und Vorteile mit sich bringt.
Sie sind selbst erst 20. Man gewinnt bei der Jugend manchmal den Eindruck, die Formel 1 sei denen zu eingestaubt und langweilig. Was braucht es, um das Feuer zu entfachen?
Norris: Wir haben sehr viele gute Rennen im Mittelfeld. Zwischen Renault, Racing Point, Alpha Tauri und uns sind die Rennen jedes Wochenende großartig. Stellen Sie sich vor, es würde nicht um Plätze im Mittelfeld, sondern um die Führung gehen. Dann würden viel mehr Leute die Rennen anschauen. Eher als nur einem Team jedes Wochenende beim Siegen zuzusehen. Ein Team macht seit Jahren einen viel besseren Job als alle anderen. Deshalb verdient es die Erfolge auch. Andererseits macht es die Formel 1 langweilig. Die Show leidet. Wenn wir etwas verbessern wollen, brauchen wir die Kämpfe zwischen vier oder fünf Autos im Mittelfeld an der Spitze.
Manche sagen, das Fahren sei zu einfach und die Piloten werden von der Boxenmauer ferngesteuert.
Norris: Wenn die ein Formel-1-Auto fahren würden, wären sie nicht wirklich gut. Es gibt Dinge, die wir als Fahrer lieber nicht machen würden. Wir wollen nicht jedes Mal die Schalter am Lenkrad betätigen. Wir wollen nicht immer zwischen den Einstellungen herumwechseln. Wir wollen das Auto fahren, es ans Limit treiben. Aber weil diese Autos so kompliziert sind, braucht es von Zeit zu Zeit Ingenieure, die uns anweisen. Wegen des Hybrid, wegen der Rekuperation brauchen wir Unterstützung. Das ist aber nicht unsere Schuld. Die Ingenieure helfen uns, aber sie fahren das Auto nicht. Der Fahrer muss so viele Dinge gleichzeitig machen. Ich bin sicher, dass die heutigen Fahrer so gut sind, wie die Fahrer vor zehn oder 20 Jahren. Formel-1-Autos sind schneller geworden, körperlich anstrengender. Vieles ist schwerer als damals, manches einfacher. Wir würden als Fahrer gerne einiges ändern, um es schwerer zu machen, das Auto so schnell wie möglich zu fahren.
Was geht Ihnen im Kopf vor, wenn Sie Ihr Renningenieur anweist, schneller zu fahren oder auf die Track Limits zu achten?
Norris: Manchmal denke ich, das musst du mir nicht sagen. Manchmal pushe ich, und es geht einfach nicht schneller. Aber nochmal: Es gibt Sachen, die wir gerne ändern würden. In der Formel 4 oder Formel 3 kannst du 100 Prozent das ganze Rennen fahren. Aber in der Formel 1 das schnellste Rennen zu fahren, bedeutet nicht zwangsläufig, immer zu pushen. Es geht mehr darum, die Reifen zu schonen, sonst sind sie nach ein paar Runden platt. Wir müssen Sprit sparen, um mit weniger Benzin starten zu können, damit das Fahrzeuggewicht anfangs weiter unten ist.
Um heute in der Formel 1 zu gewinnen, reicht es nicht, schnell zu fahren. Viele Fahrer wollen Gas geben, sich auf das Fahren konzentrieren. Wir wollen nicht die Vorderreifen schonen oder die Hinterreifen. Weil wir das in vielen anderen Kategorien nicht machen mussten. Und dort macht es Spaß zu fahren und zuzuschauen. Es gibt Sachen, bei denen uns die Ingenieure helfen. Aber wahrscheinlich wiederholen sie das, was wir ohnehin schon machen oder als Fahrer bereits denken. Sie erinnern uns, oder helfen uns ein bisschen. Aber wir denken bereits daran, die Reifen zu schonen oder Gas zu geben. Wir verbringen vor jedem Rennen Stunden mit den Ingenieuren, um ein Rennen zu planen. Wir haben also einen Plan im Kopf und wissen, was wir wann machen müssen – in welchem Rennteil, in welcher Runde. Wir machen bereits 99,9 Prozent von dem selbst, was uns die Ingenieure sagen.
Wäre es wirklich besser für die Show, wenn man pausenlos Vollgas geben kann?
Norris: Wenn man wirklich das Rennfahren ändern will, braucht es Autos, die sich in viel kleinerem Abstand folgen können. Daran hapert es heute. Das ruiniert das Racing. Es zerstört die Reifen. Wenn man nah dranbleiben kann, und nicht 1,5 Sekunden pro Runde verliert, während man folgt, dann wären die Rennen viel besser – und die Reifen. Man muss zugeben, dass oft in den letzten Jahren Spannung aufkam, weil manchen Fahrern die Reifen einbrachen oder sie nach den Reifen schauen mussten. Aber das ist Fake-Racing. Wir wollen 100 Prozent geben, und dann gegeneinander fahren. Und nicht das Auto oder die Reifen auf eine bestimmte Art fahren, und dann kämpfen. Ich stimme Ihnen zu. Aber es gibt verschiedene Arten, Rennen zu fahren. Wir wollen das Pure, das es uns erlaubt, viel dichter aufzufahren, und dabei vielleicht nur zwei Zehntel zu verlieren.
Sie haben sich nach Portimao zweimal entschuldigt. Erst für Ihre Kommentare am Boxenfunk gegen Lance Stroll. Am Montag nach dem Rennen für Ihre Äußerungen über die Siege von Lewis Hamilton. Dafür hagelte es Kritik der Hamilton-Fans in den sozialen Medien. Dachten Sie: Das habe ich gar nicht so gemeint?
Norris: Genau. Ich will ein netter Mensch sein, und die richtigen Dinge tun. Ich bin wie jeder manchmal sauer. Der Funkspruch drückt die Emotionen aus, dass ich es gut machen will für das Team und Punkte holen will. Und dann ruiniert das einer. Natürlich kocht es da mal in einem hoch. Ich sehe die Frustration mancher Leute darüber. Aber das ist einfach mein Ärger. Ich bin sicher, dass jeder Mensch in bestimmten Situationen auf andere sauer ist. Und nur weil ich im TV bin, richten die Leute über mich. Sie stellen sich hin, als würden sie so etwas nie sagen. Sie stellen sich als perfekte Menschen dar. Jeder weiß, dass das eine Lüge ist. Vielleicht sind manche Fahrer Helden in der Formel 1. Ich bin nur eine normale Person.
Montags war es ähnlich. Ich habe etwas geäußert, was in keinster Weise abwertend war. Ich habe niemanden verletzt. Es war meine Meinung. Aber manchmal denkt man nicht darüber nach, wie es die Leute da draußen aufnehmen. Ich werde zwar manchmal wütend, aber ich habe nie die Absicht, über jemanden herzuziehen. Ich will ein netter Junge sein, aber manchmal wollen die Leute das Gegenteil herauslesen.
Dasselbe Auto: Sie oder Lewis Hamilton, wer gewinnt?
Norris: Das kann ich nicht beantworten, bevor es soweit ist. Aber ich bin sicher, dass jeder in der Startaufstellung dasselbe will. Jeder weiß, dass Lewis wahrscheinlich einer der besten der Geschichte ist. Jeder ist neidisch auf seine Position und die vielen Rennen, die er gewinnt. Ich will auch in dieser Position sein. Manche würden sagen: Klar schlage ich ihn. Aber ich bin nicht so hyperselbstbewusst, das zu behaupten.
Man hat Sie am Funk auch schon mal singen hören. Haben Sie je darüber nachgedacht, Gesangstunden zu nehmen?
Norris: Nein. Was ich im Leben liebe, ist mein Team, meine Arbeit, Golf und meine Familie natürlich. Diese vier Sachen. Darin will ich gut sein. Aber mit meinem Gesang will ich nie jemanden beglücken. Jeder hat die Wahl. Keiner muss mir am Funk zuhören. Aber jeder will es natürlich.
Sie spielen gerne Videospiele. Kann die Formel 1 aus dieser Industrie lernen?
Norris: Manche würden da vielleicht gerne was übertragen. Aber man darf die Sicht auf die Realität nicht verlieren. Wir sollten nichts machen, was Fake ist. Spiele sind Spiele. Und dann gibt es das echte Leben. Ich habe das Gefühl, dass man das manchmal zu sehr vermischen will. Die Leute haben die Formel 1 vor 50 Jahren geliebt, als es pures Rennfahren war. Und man hatte vor 20 Jahren wahrscheinlich so viele Fans wie heute. Obwohl sich die Welt ändert, und es mehr in die Spielewelt zieht, muss die Formel 1 die Formel 1 bleiben. Wir sollten nichts anderes daraus machen. Ich hoffe einfach, dass man aus ihr nichts macht, was sie nicht ist.