Wie ein kleiner Nürburgring
Mugello ist die erste von sechs neuen Rennstrecken im Formel-1-Kalender. Und es ist eine der spektakulärsten. Wir haben in der Geschichte von Mugello gegraben und eine erste Runde auf der 5,245 Kilometer langen Toskana-Achterbahn gedreht.
Corona hat die Formel 1 verändert. Auch den Kalender. Sechs der 17 Rennen finden auf Strecken statt, die vor der Saison noch nicht im Kalender standen. Und drei davon waren überhaupt noch nie Gastgeber eines Grand Prix. Mugello macht den Auftakt.
In Fahrerkreisen wird der hügelige Kurs in der Toskana "Nackenkiller" genannt. Die Ingenieure sprechen eher von einem Reifenkiller. Von den 15 Kurven ist keine langsamer als 140 km/h. Es gibt keine Ecken und Kanten im Layout. Alles ist vom Start bis ins Ziel in einem schnellen Fluss.
Ich habe zum ersten Mal 1985 Bekanntschaft mit Mugello gemacht. Damals lief dort das 1.000-Kilometer-Rennen zur Sportwagen-WM. Jacky Ickx und Jochen Mass im Werks-Porsche haben gewonnen.
Auch 1999 war ich in einer Nacht- und Nebelaktion vor Ort. Wir hatten Wind bekommen, dass Michael Schumacher sein Test-Comeback nach dem Beinbruch von Silverstone geben würde. Natürlich durften wir nicht rein. Alles war hermetisch abgeriegelt. Nur die kleine Tribüne gegenüber Start und Ziel nicht. Da haben wir alles beobachtet.
Jean Todt hat uns entdeckt und unseren Fotografen Daniel Reinhard angerufen, was wir da wollen. Ich habe es ihm erklärt. Er war ganz begeistert, dass sich da zwei Verrückte die Nacht um die Ohren geschlagen haben, um nach Mugello zu fahren. Er hat mir sogar am Telefon ein kurzes Interview gegeben.
Zuerst waren wir ganz allein da. Dann sprach es sich wie ein Lauffeuer herum. Am Nachmittag fand eine Völkerwanderung zur Strecke statt. Die Leute brachten Leitern mit oder kletterten auf die Dächer ihrer Autos, um Schumi in Action zu sehen. Das Comeback hat allerdings genauso wenig geklappt wie zehn Jahre später, als Felipe Massa nach seinem Budapest-Unfall ausfiel.
Wieder wollte sich Schumacher in Mugello für seine Rückkehr in die Formel 1 fitmachen. Und wieder sagte der Körper nein. Beim ersten Mal waren es die Bodenwellen, die dem gebrochenen Bein nicht gut taten. Beim zweiten Mal die hohen Fliehkräfte in den Kurven. Zum letzten Mal war ich dann 2012 in Mugello. Die Formel 1 hielt dort einen offiziellen Test ab.
Eine Runde auf dem alten Ungeheuer
Bevor wir von der aktuellen Strecke von Mugello reden, müssen wir von der alten erzählen. Ja, die gab es. Nicht so berühmt wie die Targa Florio, aber vom Profil her absolut vergleichbar. Der Circuito Stradale führte wie die Targa über öffentliche Straßen. Eine Runde war 66,198 Kilometer lang mit Start und Ziel in San Piero di Sieve, ganz in der Nähe des heutigen Autodroms.
Es ging über Stock und Stein, gefühlt zehn Ortsdurchfahrten, den Giogo- und den Futa-Pass. Höhenunterschied? Satte 698 Meter. Kurven? Über 600. Eine Runde dauerte fast 32 Minuten. Das entsprach immer noch einem Schnitt von beachtlichen 125 km/h.
In den 60er Jahren waren die 500 Kilometer von Mugello Teil der Sportwagen-WM. Auch die Formel 3 hatte das Monster im Programm. Ein Rennen dauerte zwei Runden. 1970 war Schluss mit dem Abenteuer. Spartaco Dini raste in eine Zuschauergruppe. Ein Kind starb, es gab vier Schwerverletzte, und der Pilot musste für Monate ins Gefängnis.
Obwohl damals hinter jeder Ecke Häuser, Bäume und Abgründe lauerten, stürzte in der 50-jährigen Geschichte der Trofeo Frescobaldi nur ein einziger Rennfahrer zu Tode. Der Deutsche Günter Klass prallte 1967 mit einem Ferrari Dino 206 SP im Training gegen einen Baum. Es steht heute noch ein Gedenkstein an der Unfallstelle.
Doch in der Gegend wird Rennsport gelebt. 1974 wurde das Autodromo Internazionale del Mugello eröffnet. Die Formel 2 fand schnell eine Heimat dort. Später auch die MotoGP. Auf die Formel 1 musste Mugello 46 Jahre lang warten. Jetzt ist der Zirkus eingezogen in das geräumige Fahrerlager, und wir können es kaum erwarten, die schnellsten Autos der Welt auf diesem aufregenden Kurs zu sehen.
Doch heute am Donnerstag ist der Kurs den Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Der Streckenrundgang ist eines der wenigen Dinge, die wir auch in Corona-Zeiten noch dürfen. Die Strecke gilt als "Low density area". Es herrscht nicht einmal Maskenpflicht.
Bevor wir auf 270 Meter Meereshöhe starten, noch kurz ein paar Daten zu dieser Strecke. Sie schlängelt sich mit 41 Meter Höhenunterschied mitten in einer Berglandschaft an Wäldern und Hügeln entlang und darf mit Recht als eine der letzten Naturrennstrecken bezeichnet werden. Streckenführung und der gebirgige Hintergrund erinnern an die Eifel. Ein moderner Nürburgring sozusagen.
Diese Strecke hat keiner am Reißbrett entworfen. Sie wurde in eine Landschaft gelegt, die vorher schon da war. Die 15 Kurven tragen hier noch Namen und nicht nur Zahlen. Sie sind meistens nach Ortschaften in der Umgebung benannt. Eine allerdings nach dem italienischen Rennfahrer Clemente Biondetti, der 1955 in Florenz an einem Krebsleiden starb.
Wäre der GP Toskana eine offene Veranstaltung, fänden hier 50.000 Zuschauer Platz. Diesmal sind knapp 3.000 Tifosi zugelassen. Mugello beendet somit die Serie der Geisterrennen. Am Donnerstag sind die Tribünen aber natürlich noch komplett leer.
Beim Start kein Blick auf erste Kurve
Jetzt aber los, Punkt 9.50 Uhr vormittags. Als wir auf der Startlinie stehen, sehen wir das Ende der leicht ansteigenden Zielgerade nicht. Sie ist mit 1.141 Metern ordentlich lang, mit 15 Metern ausreichend breit und trotzdem keine einfache Überholstelle, weil die Fahrer in die erste lang gezogene Rechtskurve tief hineinbremsen. Die Rennleitung erlaubt deshalb 800 Meter DRS-Zone, eine der längsten im ganzen Jahr.
Wir nehmen natürlich erst mal auf der Pole Position Platz, auf der am Sonntag vermutlich Lewis Hamilton stehen wird. Kurz auf den Boden gesetzt und ein Foto gemacht, um zu zeigen, was er aus seiner Perspektive am Sonntag um 15.10 Uhr sehen wird. Ehrlich gesagt nicht viel. Das Ende der Zielgerade verschwindet hinter einer Kuppe. Man kann nicht mal den ersten Bremspunkt erkennen.
Wir bewegen uns im Schritttempo auf die Stelle zu, wo die Fahrer aus 320 km/h in die Eisen steigen. Links sind die Abstandsmarker für die Bremszone. Die Tafeln mit den Distanzangaben sind ein stilisierter Pirelli-Reifen, der bei 150 Meter vor der Kurve weiß, dann gelb und bei 50 Meter schließlich rote Flanken hat. Wie im richtigen Leben.
Das soll natürlich nicht heißen, dass die Fahrer mit den Soft-Reifen beim 50 Meter-Schild bremsen und mit den harten Gummis am 150 Meter-Marker. Die erste Kurve ist nach Berechnungen von Mercedes mit 140 km/h die langsamste auf dem Kurs. Es stehen dort fünf Meter Asphalt, 40 Meter Kies und zwei Lagen Tecpro als Auffangnetz für entgleiste Rennautos bereit.
Kiesbetten werden uns noch um den ganzen Kurs begleiten. Endlich mal nicht diese Asphaltwüsten. Das wird endlich mal keine langen Diskussionen über Strecken-Limits geben. Wer sich unfreiwillig in die riesigen Sandkästen rechts und links der Strecke eingräbt, wird sich dort kaum noch befreien können.
Ein ständiges Bergauf, bergab
Es geht weiter bergauf. Der ersten Kurve folgt eine Links/Rechtsschikane mit weiten Bögen. Die 400 Meter Gerade vor der nächsten Links/Rechtskombination ist der höchste Punkt der Strecke. Dort führt das Asphaltband schon wieder leicht bergab.
Wir treffen Streckenarbeiter, die auf den Innenseiten der in den italienischen Farben gehaltenen Randsteinen die Plastikwülste, genannt "Sausage kerbs", abmontieren. Den Kurven 5 und 6 sind laut Mercedes zwischen 210 und 215 km/h schnell und damit etwas flotter als das erste "S".
Jetzt beginnt der spektakulärste Streckenteil. Vier Kurven in Folge absolut voll. Die Straße windet sich steil zuerst rechts, dann links den Berg runter und mündet in die berühmten Arrabiata-Rechtskurven. Die erste liegt in einer Senke, die zweite in einer Steigung und ist blind. Hier begegnet uns Formel 2-Pilot Pedro Piquet mit einem Elektroroller. Nicht sehr sportlich. Die Formel 1-Teams lassen sich mit ihrem Streckenrundgang noch Zeit. Ist wohl zu früh für sie.
Hinter Arrabiata 2, die laut Mercedes-Simulation 270 km/h schnell sein soll, führt die Strecke über eine Kuppe in eine weitere Schikane. Wobei die Bezeichnung Schikane wie überall auf der Naturrennbahn eine Beleidigung ist. Es sind immer zwei schön aneinander gereihte Kurven. Jetzt wieder rechts und links und 160 km/h und 200 km/h schnell.
Wir bewegen uns übrigens wieder den Berg runter. Habe Sie mitgezählt, wie oft es schon rauf und runter ging? Nach 400 Meter Gerade folgt ein 180 Grad Bogen, der etwas schneller sein soll als Kurve 1. Die Kurve hört auf den Namen San Donato.
Nach einem leichten Gefälle schlängelt sich der Mugello-Kurs nun durch den 245 km/h schnellen Biondetti-Slalom. Es folgt die zweitlängste Gerade der Strecke, rund 450 Meter lang. Eine echte Überholstelle ist die Zielkurve trotzdem nicht. Erstens wird man im Binodetti-S nur schwer am Vordermann dranbleiben können, außerdem ist der Zielbogen verdammt schnell. Die Mercedes-Simulation ergibt für die Bergab-Kurve 170 km/h.
Wir haben es fast geschafft, bewundern aber noch die Haupttribüne, die genau zwischen zwei Streckenteilen steht. Vorne schaut man auf die Zielgerade, hinten auf die Biondetti-Kurven. Wer ein Ticket für ganz oben hat, sieht beides.
Leider dürfen nur ein paar Ferrari-Gäste auf das Gelände. Die echten Fans bleiben ausgesperrt. Zum Schluss noch unsere Rundenzeit: Eine Stunde und 25 Minuten, allerdings mit Fotografieren. Der absolute Rundenrekord steht auf 1.18,704 Minuten, aufgestellt von einem BAR-Honda bei Testfahrten 2004.