Hätte Mercedes gewinnen können?
20 Fahrer am Start, acht unterschiedliche Strategien mit einem, zwei oder drei Stopps. Die Taktik des Siegers funktionierte nur bei Max Verstappen. Mercedes hätte auch nicht gewonnen, wenn sie das gleiche gemacht hätten. Die Silberpfeile waren wegen ihrer Reifenprobleme zu langsam.
Lewis Hamilton wünscht sich mehr Zweistopprennen. Aber nicht solche wie am letzten Wochenende. Da stellten die Rahmenbedingungen Mercedes ein Bein. Die Unbesiegbaren wurden besiegt. Die Anzahl der Boxenstopps hatte damit aber nichts zu tun. Mercedes war einfach zu langsam. Warum, wird noch untersucht. Am Auto selbst kann es nicht gelegen haben. Es hat die Konkurrenz am Samstag noch um 0,928 Sekunden abgehängt. Der Vorsprung bewegte sich in einer ähnlichen Größenordnung wie in der Woche davor.
Doch schon beim ersten Silverstone-Rennen deutete sich an, dass Mercedes auf seiner Paradestrecke verwundbar sein könnte. Hoher Reifenverschleiß bremste die Silberpfeile. Lewis Hamilton fuhr mit einem Dreirad ins Ziel. 5,8 Sekunden vor Verstappen, der seine Reifen besser über die Runden brachte. Eine Woche später stellten sich noch größere Hürden den Mercedes in den Weg. Um vier Grad höhere Asphalttemperaturen. Eine Stufe weichere Reifen. Höhere Luftdrücke, vorne um zwei, hinten um ein PSI. "Das sind die höchsten Drücke, die wir je gefahren sind", staunte Hamilton. "Die Reifen waren aufgebläht wie ein Ballon."
Hamilton pro Zweistopp-Rennen
Der Weltmeister machte sich trotz der Niederlage für Rennen mit mehr als nur einem Boxenstopp pro Teilnehmer stark, weil sie seiner Meinung nach spannender sind. Das ist nicht automatisch der Fall. Im ersten Silverstone-Rennen gab es 22 Boxenstopps und 19 Überholmanöver. Im zweiten waren es 41 Reifenwechsel und 22 Positionswechsel auf der Rennstrecke. Also auch nicht mehr Action dort, wo man sie eigentlich haben will. Viele Boxenstopps machen es dagegen schwerer, das Rennen zu lesen. Das kann beim Fan eher Frust als Lust erzeugen, weil er nicht die Analyse-Werkzeuge hat, wie die Spezialisten am Kommandostand.
Die Spannung bezog sich beim Jubiläums-Grand Prix daraus, dass Red Bull die Mercedes herausfordern konnte. Bei Mercedes zerbrach man sich nach dem Rennen auch gar nicht lange den Kopf über der Frage, ob man Verstappen mit irgendeiner schlauen Taktik hätte besiegen können. "Es hätte keinen Unterschied ausgemacht, ob wir beim Start mit harten Reifen oder Medium losgefahren wären. Die Probleme, die wir hatten, traten bei allen Reifensorten schnell auf und sie waren signifikant. Wir mussten weit unter unseren Möglichkeiten fahren, um die Reifen in einem vernünftigen Zustand zu halten. Strategisch war wenig zu machen. Verstappen hat mit uns gespielt. Er hatte bis auf die ersten zwei und die letzten fünf Runden der jeweiligen Stints ein viel schnelleres Auto."
Mercedes-Problem der Balance
Da stellt sich die Frage, wie ein Auto, das am Samstag noch um eine Sekunde schneller war und das auch die Longruns am Freitag anführte, über Nacht so viel Rundenzeit verlieren konnte. Die Reifen diktierten Lewis Hamilton und Valtteri Bottas die Rundenzeiten. "Wir hatten viel mehr Abnutzung als am Freitag und mussten praktisch von der ersten Runde an die Reifen managen", berichtete Hamilton. Bottas beobachtete im Parc fermé: "Die Reifen von Max sahen perfekt aus. Meine und die von Lewis waren mit Blasen übersät."
Hamilton amüsierte sich fast: "Ich bin am Ende der Stints nur auf einer Hälfte des Reifens gefahren. Im Rückspiegel war zu sehen, wie auf einer Seite noch Gummi drauf war und auf der anderen nicht." Verstappen bestätigte den Eindruck von außen: "Ich hatte zu keiner Phase des Rennens Probleme mit den Reifen."
Blasenbildung ist ein sicheres Zeichen dafür, dass der Reifen zu heiß läuft. Doch warum zogen eine Woche zuvor die Vorderreifen Blasen und diesmal die Hinterreifen? Lag es nur an den weicheren Mischungen? Die Ingenieure haben dafür eine mögliche Erklärung: "Unser Auto hat sich nicht über Nacht in eine Gurke verwandelt. Es ist immer noch unglaublich schnell, wie der Samstag gezeigt hat. Und es war phasenweise auch im Rennen schnell, jedenfalls wenn der Reifen nicht überhitzt hat."
"Wahrscheinlich haben wir nach den Erfahrungen der Vorwoche und dem zweiten Freitagstraining die Vorderreifen zu stark geschützt. Deshalb haben wir die Hinterreifen stärker belastet. Wegen der höheren Temperaturen und der höheren Luftdrücke hat sich der Hinterreifen in der Mitte aufgebläht. Das hat für Überhitzung gesorgt. Warum uns das mehr getroffen hat als andere, ist eine Frage, die wir klären müssen." Auf einen Nenner gebracht: Nicht das Auto war das Problem, sondern die Balance.
Hat Bottas zu früh gestoppt?
Mercedes musste sich nach dem Rennen viele Fragen anhören, ob man Verstappen nicht mit anderen Strategien hätte abwehren können. Gehen wir sie alle mal durch. Warum hat Mercedes im Q2 nicht versucht, sich wie Verstappen auf den harten Reifen zu qualifizieren, die dann die Startreifen gewesen wären? Den Speed dazu hatten Hamilton und Bottas. Antwort: "Wir sind in der Woche zuvor im Q2 mit den Medium-Reifen gefahren, die diesmal die harte Option waren. Dabei haben wir jeweils einen Satz verloren. Lewis durch den Dreher, Valtteri durch Schnitte im Reifen. Wenn wir bei nur zwei Garnituren harter Reifen für das Wochenende einen Satz verloren hätten, wäre das Rennen ein Alptraum geworden. Den Kompromiss wollten wir nicht eingehen, weil wir von einem Zweistopp-Rennen ausgehen mussten."
Wäre Mercedes mit den gleichen Reifen wie Red Bull gestartet, hätte Verstappen auf seiner Lauerposition die Silberpfeile jederzeit mit einem Undercut aus der Reserve locken können. "Mit dem schnellsten Auto willst du am Anfang lieber einen kurzen Stint auf den Medium-Reifen haben. Wir sind im zweiten Stint auf den harten Reifen in den ersten Runden 1.31er Zeiten gefahren, dann aber schnell mittlere bis hohe 1.32er Zeiten. Das wäre uns im ersten Stint mit harten Reifen auch passiert, wahrscheinlich sogar schlimmer."
War es klug, Bottas schon in Runde 32 zum zweiten Reifenwechsel an die Box zu holen, und hat bei der Wunsch eine Rolle gespielt, die Position gegen Verstappen mit einem Undercut zurückzuholen? Die Mercedes-Strategen winken ab: "Der zweite Stint von Valtteri war nicht kurz. Er dauerte 19 Runden, was für den letzten Stint 20 Runden bedeutet hat. Das war gut ausbalanciert. Valtteri lag 2,4 Sekunden hinter Max. Verstappen ist zu dem Zeitpunkt die schnellsten Runden auf Medium-Reifen gefahren, die bei ihm locker noch zwei bis drei Runden gehalten hätten. Wir wären gezwungen gewesen, eine Runde von 1.27 Minuten zu fahren, damit der Undercut funktioniert. Das wäre unmöglich gewesen, und selbst wenn, wären wir gefangen gewesen. Valtteri hätte in den ersten Runden nicht attackieren können. Genau das hätte unsere Reifenprobleme noch mehr verschärft. Wir wollten uns mit dem Stopp einfach nur gegen Leclerc absichern. Er war gerade aus Valtteris Boxenstopp-Fenster gefallen."
Ein Stopp für Hamilton?
Hat Mercedes mit Hamilton zum Schluss auf ein Einstopp-Rennen spekuliert, wie waren die Erfolgsaussichten, und warum durfte der Engländer neun Runden länger auf der Bahn bleiben als Bottas, was ihm am Ende den zweiten Platz gegen den Teamkollegen geschenkt hat? Auch hierfür gab es gute Gründe, die nichts damit zu tun hatten, Hamilton im WM-Duell mehr Punkte zu sichern. "Valtteri hatte signifikante Vibrationen an den Reifen, ähnliche Vibrationen wie in der Woche zuvor, kurz bevor der Reifen platzte. Wir wollten nichts riskieren. Lewis hatte seine Reifen besser gemanagt, er hatte zu dem Zeitpunkt viel weniger Vibrationen. Wir wussten, dass er später mit weniger Gummiauflage mehr attackieren konnte. In dieser Phase willst du die Reifen nutzen, solange es noch sicher ist. Wenn es da ein Safety Car gegeben hätte, hätten wir das Rennen gewinnen können."
Trotzdem blies Mercedes das Einstopp-Rennen ab. "Das wäre zu schwierig geworden. Die Vibrationen wurden plötzlich stärker und seine Rundenzeiten langsamer. Vorher ist er 1.30,6 Minuten gefahren, gegen Ende des Stints nur noch 1.31,3 Minuten." Teamchef Toto Wolff fügte hinzu: "Max hätte uns mit seinen frischeren Reifen schnell eingeholt."
Der Grund für die Vibrationen war sichtbar. Doch Blasenbildung macht den Ingenieure keine Angst, auch wenn Hamilton mehrmals besorgt nachfragte, ob die Reifen bei der ganzen Schüttelei auch wirklich halten würden. "Blasen sind nie der Grund für einen Reifenschaden. Das war letzte Woche nicht der Fall und auch diese Woche nicht. Sie provozieren Vibrationen, aber keinen Bruch in der Karkasse. Wenn es an den Vorderreifen passiert, ist es nicht so schlimm. An den Hinterreifen verlierst du einfach Rundenzeit. Du reagierst also erst, wenn die Rundenzeiten ansteigen, aber nicht aus Angst, dass der Reifen platzen könnte."
Acht Strategien im Rennen
Das zweite Rennen von Silverstone zeigte einmal mehr, dass selbst die perfekte Formel 1-Welt nicht alles berechnen und simulieren kann. Es gab nicht das perfekte Rennen. Die 20 Fahrer kamen auf acht unterschiedlichen Strategien durch das Rennen. Es gab WM-Punkte für einen, zwei und sogar drei Stopps. Die Sieger-Strategie mit dem harten Reifen zu Beginn und am Ende und dem Medium-Gummi in der Mitte funktionierte nur für Verstappen. Carlos Sainz und Antonio Giovinazzi kamen mit der Reifenfolge hart-medium-hart auf keinen grünen Zweig. Wobei im Fall von Sainz gesagt werden muss, dass er wegen eines Schlagschrauber-Problems 7,5 Sekunden in den Boxen verlor. Mit einem normalen Stopp wäre der Spanier vor Esteban Ocon wieder auf die Strecke gekommen und hätte wahrscheinlich gepunktet.
Einstopp-Rennen wurden noch am Samstag für unmöglich gehalten. Trotzdem gingen Esteban Ocon und Kimi Räikkönen mit dem festen Vorsatz ins Rennen, es doch zu versuchen. Ocon startete auf Medium-Reifen, Räikkönen auf den harten Gummis. Für Ocon zahlte sich der mutige Schachzug aus. Er gewann sechs Plätzen ohne ein Auto überholt zu haben.
Bei Charles Leclerc reifte der Entschluss zum Einstopp-Rennen am Ende des ersten Stints. Da merkte er, dass er mit den Medium-Reifen länger fahren konnte als gedacht und als alle um ihn herum. Nach seinem Boxenstopp in Runde 18 musste er die harten Sohlen mit spitzen Fingern 34 Runden lang über die Distanz bringen. Ihm half, dass er die meiste Zeit des Rennens alleine fahren konnte. Leclerc überholte nur ein Auto. In der 20. Runde ging er an Lando Norris vorbei.
Drei Stopps waren Notlösung
Die Zweistopper teilten sich in drei Kategorien auf. Acht Fahrer vertrauten der Marschroute von Mercedes mit der Reifenfolge medium-hart-hart. Fünf davon schafften es in die Punkteränge: Hamilton, Bottas, Albon, Stroll und Norris. Aber auch Daniil Kvyats Ansatz war von Erfolg gekrönt. Der Russe startete von Platz 16 auf den harten Reifen, blieb im zweiten Stint dieser Mischung treu, um das Rennen dann auf einem Satz Medium zu beenden. Der Lohn war der 10. Platz.
Für Sebastian Vettel lohnte sich die Taktik nicht, weil ihn Ferrari zu früh zum ersten Stopp an die Boxen rief. Davor war Vettel konstant Rundenzeiten zwischen 1.32,1 und 1.32,5 Minuten gefahren. Kein Zeichen von kritischer Abnutzung. "Ich hätte noch zehn Runden weiterfahren können. Dann wäre ich auch nicht in den Verkehr gefallen. Wir haben exakt das gemacht, was wir vermeiden wollten", beschwerte sich Vettel. Er vermutet, dass sich Ferrari eine Stallregie ersparen wollte. Leclerc lag nur noch 1,6 Sekunden hinter ihm. Dabei wäre es für Vettel kein Problem gewesen zur Seite zu rücken. Der Teamkollege war auf einer anderen Strategie unterwegs und gar nicht Vettels direkter Gegner.
Die vier Fahrer, die am Ende noch einen dritten Reifenwechsel einschoben, haben es nicht freiwillig getan. Nico Hülkenberg spürte mit dem dritten Satz plötzlich so starke Vibrationen an der Hinterachse, "dass es entweder den Reifen oder mich zerrissen hätte." Der Perez-Ersatz nutzte als einziger im Feld die Soft-Mischung. "Was anderes war nicht mehr da." Daniel Ricciardo ruinierte sich seine dritte Garnitur bei einem Dreher. Die Williams-Piloten mussten späte Stopps einlegen, weil ihre Reifen dramatisch einbrachen. "Die Blasen haben so schlimme Vibrationen verursacht, dass die Fahrer kaum noch die Straße sehen konnte", berichtete Einsatzleiter Dave Robson.