Mercedes versteckt sich
Ein Mal Max Verstappen auf Platz eins, ein Mal Lance Stroll. Mercedes hielt sich in den England-Trainings noch dezent zurück. Wie immer bei großer Hitze. Die Longruns deuten aber bereits an, dass mit den Silberpfeilen zu rechnen ist.
Große Hitze und starker Wind begleiteten den ersten Trainingstag in Silverstone. Da ab Samstag ein Temperatursturz bevorsteht, wissen Experten, dass die Ergebnisse vom Freitag nur bedingt Aussagekraft für den Rest des Wochenendes haben.
Das zeigt sich auch am Trainingsergebnis. Kein Mercedes auf Platz eins ist ein klares Zeichen dafür, dass etwas nicht nach Plan gelaufen sein kann. Die erste Trainingssitzung ging an Max Verstappen, der seine Soft-Reifen zu einem späteren Zeitpunkt als der zweitplatzierte Lewis Hamilton gefahren war. Lance Stroll holte sich die Bestzeit am Nachmittag. Der Kanadier hatte im Gegensatz zu seinen Konkurrenten eine nahezu saubere Runde.
Mit der Tagesbestzeit von 1.27,274 Minuten lag Stroll noch 2,2 Sekunden über der Pole Position von 2019. Auch ein Indiz für die schwierigen Streckenbedingungen. Pirelli rechnet am Samstag und Sonntag mit einem völlig anderen Bild. Was am Freitag noch ein Zweistopp-Rennen gewesen wäre, wird am Sonntag mit einem Reifenwechsel möglich sein.
Die Soft-Reifen schmolzen in der zweiten Trainingssession bei fast 50 Grad auf dem Asphalt dahin. Nach der ersten schnellen Runde war Pirellis weichste Mischung im Angebot für eine schnelle Runde nicht mehr zu gebrauchen.
Mercedes ließ seine Qualitäten nur in den Longruns aufblitzen. Die WM-Spitzenreiter waren bei den Rennsimulationen auf allen drei Reifentypen die schnellsten Autos auf der Strecken. Auf dem Medium-Gummi aber nur ganz knapp. Max Verstappen lag im Durchschnitt praktisch gleichauf mit Valtteri Bottas, allerdings mit vier Runden weniger.
Analysen der Top-Speeds und Sektoren verraten, dass Mercedes bei der Hitze mit gedrosselter Leistung gefahren war. Trotzdem war man bei Red Bull zufrieden. Man beginnt langsam zu verstehen, welche Aero-Teile funktionieren und welche nicht.
Während bei Stroll alles glatt lief, kamen seine Verfolger nicht ungeschoren durch den Tag. Max Verstappen schimpfte über Romain Grosjean, der ihm in seiner besten Runde im Weg stand. Valtteri Bottas wurde in Becketts von Antonio Giovinazzi aufgehalten. Lewis Hamilton klagte über unberechenbares Fahrverhalten im Wind. Alexander Albon feuerte seinen Red Bull in der Stowe-Kurve in die Leitplanken.
Sebastian Vettel war mehr Zuschauer als Rennfahrer. In der Früh musste ein Leck im Ladeluftkühler abgedichtet werden. Am Nachmittag wurde an der Pedalerie geschraubt. Der Pechvogel drehte 27 Runden weniger als sein Teamkollege.
Charles Leclerc ließ mit der viertschnellste Runde auf Ferraris Angstrecke aufhorchen. Die Erklärung: Leclerc hatte wie Stroll eine freie und saubere schnellste Runde. Und Ferrari drehte die Power hoch. Bei den Dauerläufen war es mit der Ferrari-Herrlichkeit schnell vorbei.
Nico Hülkenberg hatte genau 51 Runden Zeit sich mit einem Auto anzufreunden, das er weniger kannte als sein neues altes Team. Der Ersatz für Sergio Perez erschien erst 15 Minuten vor Beginn des ersten Trainings an der Strecke und verbrachte den ersten Tag mit Lernen.
Dafür war der erste Auftritt ehrenwert. Hülkenberg fuhr die siebtschnellste Zeit. Auf eine Runde fehlen ihm allerdings noch sechs Zehntel auf den Teamkollegen. McLaren-Teamchef Andreas Seidl freute sich für seinen Le Mans-Sieger von 2015: "Nico hat immer davon geträumt einen Mercedes zu fahren. Jetzt hat er die Chance, auf die er so lange gewartet hat. Auch wenn es das Vorjahresmodell ist."
Sechs Dinge, die Sie wissen müssen...
Wie aussagekräftig sind die Rundenzeiten?
England stöhnte unter tropischen Temperaturen. 35 Grad Lufttemperatur, 49 Grad auf dem Asphalt. Am Sonntag soll es um 15 Grad kühler sein. Das bedeutet für alle mindestens eine Kühlkonfiguration niedriger. Die Verkleidung kann also wieder mehr geschlossen werden.
Davon profitiert in der Regel Mercedes am meisten. Erinnern wir uns an das Freitagstraining des zweiten Spielberg-Rennens, das unter ähnlich hohen Temperaturen ablief. Plötzlich sah es so aus, als hätte Mercedes mit Red Bull und Racing Point ernsthafte Gegner bekommen. Im Rennen fuhr Hamilton Kreise um die Konkurrenz.
Obwohl die Erkenntnisse und Daten vom ersten Trainingstag wenig repräsentativ sind, spulte Mercedes ein fast normales Programm ab. Die Ingenieure fühlten den drei Pirelli-Mischungen auf den Zahn und experimentierten mit unterschiedlichen Setups in Bezug auf die Fahrzeughöhe und die Kühlung. Red Bull, McLaren, Alfa Romeo und Renault nutzten den Freitag um neue und alte Aerodynamikteile zu testen.
Hat Mercedes geblufft?
So viel steht fest: Mercedes zeigte nicht seine Normalform. Wie viel davon an den hohen Temperaturen lag, die den Silberpfeilen schon am Freitag des zweiten Spielberg-Rennens ein Bein stellte, und wie viel Fahrt der WM-Spitzenreiter freiwillig opferte, ist schwer zu bewerten.
Die Top-Speeds zeigen, dass Mercedes mit gedrosselter Power unterwegs war. Seit diesem Jahr liegen die schwarzen Autos in dieser Wertung meistens ganz vorne. Diesmal reichte es nur zu den Plätzen 10 und 14. Sogar die Ferrari wurden auf der Hangar-Geraden schneller gemessen.
Auch auf dem Zielstrich, der noch in der Beschleunigungsphase ausgangs der Club-Kurve liegt, ist für Mercedes noch Luft nach oben. Max Verstappen wurde mit 259,0 km/h und vier km/h schneller gestoppt als Lewis Hamilton. Valtteri Bottas war an der Stelle mit 254,6 km/h noch eine Spur langsamer. GPS-Messungen ergaben, dass Leclerc, Verstappen und Albon auf ihren schnellsten Runden den Mercedes drei Zehntel auf den Geraden abnahmen.
Auffällig war auch, dass die Mercedes-Piloten in keinem der drei Streckensektoren Bestzeit erzielten. Die meiste Zeit verloren Hamilton und Bottas im ersten Abschnitt. Hamilton klagte vor allem über den böigen Wind: "Ich kann das Auto nicht fordern. Es ist schwer zu wissen, wo das Limit liegt."
Bottas bestätigte: "Die Balance ist noch nicht ideal. Das Auto ist nicht so berechenbar wie sonst." Das Problem wird sich mit sinkenden Temperaturen wie üblich in Luft auflösen. Bottas hätte in der zweiten Trainingssitzung auf jeden Fall die schnellste Runde von Stroll attackieren können. Er fand Giovinazzi in den Kurven 12 und 13 im Weg.
Vor dem ersten Training meldete die FIA, dass im Mercedes von Hamilton eine neue MGU-K eingebaut wurde. Der frühe Tausch überrascht. Eigentlich war er für alle Autos mit Mercedes-Motor für das zweite Silverstone-Rennen nächste Woche vorgesehen. Die Phase 2 der MGU-K ist eine Entwicklungsstufe um die Standfestigkeit zu verbessern. Da die Ingenieure nach dem GP Ungarn an Hamiltons Elektromaschine Anomalien festgestellt haben, wurde bei ihm der Wechsel vorgezogen.
Hat Red Bull seine Probleme gelöst?
Red Bull ist dem Fehler auf der Spur. Die neuen Teile, die in Spielberg im Paket ans Auto kamen, wurden in Silverstone Schritt für Schritt getestet, um herauszufinden, was funktioniert und was nicht, und wo man möglicherweise falsch abgebogen ist. Dazu kamen weitere Entwicklungsteile ans Auto.
Max Verstappen lobte: "Die neuen Teile scheinen besser zu arbeiten. Die Richtung stimmt." Das gleiche berichtete Teamkollege Alexander Albon: "Das Auto fühlt sich besser an. Wir sollten mit einer Bewertung aber vorsichtig sein. Ich glaube, Mercedes hat noch viel versteckt."
Verstappens Longrun auf den Medium-Reifen macht trotzdem Mut. Der Holländer fuhr praktisch die gleichen Zeiten wie Bottas. Auch wenn man mit einrechnet, dass Honda mehr Leistung freigegeben hat als Mercedes, sieht es Stand heute nicht nach der befürchteten Kapitulation aus. Verstappens Ziel ist maximal eine halbe Sekunde Rückstand.
Die schnellsten Runden sagen nicht viel aus. Verstappen lief auf seiner schnellsten Runde im Becketts-Komplex auf den Haas von Romain Grosjean auf und musste den ersten Versuch auf den weichen Reifen abbrechen. Alexander Albon setzte mit 1.27,274 Minuten eine ordentliche Zeit, flog dann aber auch ordentlich ab.
Der Unfall in Stowe Corner zeigt, dass der RB16 im Grenzbereich weiter ein heikles Autos ist. Das Heck brach erst nach dem Scheitelpunkt in der Kurve aus. Deshalb traf Albon die Leitplanken breitseits an einer ungeschützten Stelle, 30 Meter hinter dem letzten Reifenstapel. "Ich dachte, ich hätte das Auto wieder unter Kontrolle, fing mir dann aber einen Konter ein."
Was war mit Sebastian Vettel los?
Am Vormittag zwei Runden, am Nachmittag 23. Der deutsche Ferrari-Pilot verbrachte mehr Zeit in der Garage als auf der Rennstrecke. In der Früh hielt ihn eine defekte Dichtung im Ladeluftkühler in den Boxen fest. In der zweiten Sitzung kehrte Vettel nach acht Runden auf harten Reifen an die Boxen zurück und monierte ein Problem am Bremspedal. "Ich hatte plötzlich kein Gefühl für die Bremse."
Nach der Reparatur blieben dem Ex-Champion gerade mal 26 Minuten Zeit, um mit den Soft-Reifen noch einen Mini-Longrun auf die Bahn zu legen. In den letzten Runden verlor der Motor auch noch Leistung. Die Quittung war Platz 18 mit 1,586 Sekunden Rückstand auf die Bestzeit.
Auch im Dauerlauf sah es nicht besser aus. Vettel landete deutlich hinter seinen direkten Gegnern von McLaren und Renault. Seine Erklärung: "In Silverstone brauchst du einen guten Rhythmus. Den zu finden reichten die wenigen Runden nicht aus. Ich konnte nicht spüren, wo wir mit dem Auto hier sind."
Bei Charles Leclerc lief es besser. Der Monegasse schaffte nach 52 problemlosen Runden die viertschnellste Zeit. Das schmeichelt dem Ferrari. Die gute Zeit kam auch zustande, weil Leclerc an der Power-Schraube drehen durfte. Bei Mercedes und Red Bull lief es nicht rund, und Racing Point-Aushilfsfahrer Hülkenberg musste sich erst auf sein neues Auto einschießen.
Die Longruns zeigen besser, wo Ferrari wirklich steht. Leclerc war auf den Medium-Reifen im Schnitt 1,4 Sekunden langsamer als Bottas und Verstappen, acht Zehntel langsamer als Carlos Sainz und vier Zehntel als Pierre Gasly. Leclerc klagte: "Wir müssen an der Rennabstimmung arbeiten. Das Auto war extrem schwer zu fahren. Es war sehr schwierig, keine Fehler zu machen."
Vettel wollte mangels Runden keine Prognosen für den Rest des Wochenendes abgeben. "Ich hoffe, dass wir im Mittelfeld mithalten können. Wo genau wir landen könnten, ist schwer zu sagen. Die Saison ist noch zu jung, um ein starkes Gefühl zu haben."
Wer ist der King im Verfolgerfeld?
Klammern wir Mercedes und Red Bull einmal aus. Klarer Favorit dahinter ist Racing Point. An einem guten Tag können sie zumindest einem Red Bull gefährlich werden. Hinter Racing Point geht es eng zu. Nach den schnellsten Runden zu urteilen wird es ein harter Kampf zwischen Ferrari, McLaren und Renault. Die Longruns favorisieren eher McLaren und Renault.
Die Franzosen gingen mit gemischten Gefühlen aus dem ersten Trainingstag. Während Esteban Ocon ansteigende Form vermeldete, beklagte sich Daniel Ricciardo über mangelnde Konstanz bei seinem Dienstfahrzeug. Ein Cut in einem Reifen verkürzte das Programm des Australiers auf einen unfreiwillig langen Longrun mit Soft-Reifen. Ricciardo drehte 15 Runden auf Pirellis weichster Mischung.
McLaren-Teamchef Andreas Seidl war mit dem Auftakt in Silverstone zufrieden. Der sechste Platz von Carlos Sainz und der starke Medium-Dauerlauf des Spaniers lassen hoffen, dass ein Platz in den Top Ten nur Formsache sein sollte. Die Upgrades am Frontflügel und am Unterboden haben laut Seidl funktioniert.
Außerdem habe man in der zweiten Trainingssitzung mit dem Setup gut auf den Temperaturanstieg reagiert. "Unser Ziel ist wieder beide Autos ins Q3 zu bringen." Eine Steigerung war bei Alfa Romeo zu beobachten. Sowohl auf eine Runde als auch im Dauerlauf. Kimi Räikkönen markierte die zehntschnellste Rundenzeit. Im Longrun auf den Soft-Reifen war der Finne schneller als Norris, Ricciardo und Vettel.
Wo steht Nico Hülkenberg?
Es war eine Last-minute Aktion. Nico Hülkenberg kam nach dem Notruf von Teamchef Otmar Szafnauer am Donnerstagnachmittag erst um 19.30 Uhr in England an. Bis um zwei Uhr morgens wurde in der Fabrik der Sitz für den langen Rheinländer angepasst. Hülkenberg musste den Racing Point RP20 im Schnellkurs lernen. Ein neues Auto, ein neuer Motor, ein neues Lenkrad, neue Prozeduren.
Immerhin kannte er noch einen Teil der Mannschaft, für die er von 2014 bis 2016 fuhr. Obwohl der Ersatzpilot für Sergio Perez erst 15 Minute vor Start der ersten Trainingssitzung die Freigabe erhielt, drehte er noch 23 Runden. Zuerst auf Soft-Reifen, danach auf dem Medium-Gummi.
Am Nachmittag wartete dann schon das übliche Programm. Zuerst eine schnelle Runde mit den Soft-Reifen, dann die Dauerläufe auf den harten und weichen Pirelli-Sohlen. Nach insgesamt 28 Runden fehlten Hülkenberg in der Bestzeit 0,636 Sekunden auf Teamkollege Lance Stroll, der die Rangliste anführte.
Bei den Longruns fiel die Differenz geringer aus. Nach zehn Runden auf den harten Reifen fehlten dem Deutschen im Schnitt nur noch 0,334 Sekunden auf Stroll. Es könnte eine weitere kurze Nacht für Hülkenberg werden. "Es braucht Zeit, bis man versteht, wie man zu fahren hat. Ich werde heute Nacht auch noch einmal alle Daten anschauen."