So betritt Mercedes Neuland
Von den nächsten neun Rennen finden sechs auf völlig neuen oder neuen alten Strecken statt. Mercedes-Chefingenieur Andrew Shovlin erklärt, was bei der Vorbereitung auf Mugello, Portimão, Sakhir, Imola, den Nürburgring und Istanbul Park anders läuft.
Red Bull-Ring, Hungaroring, Silverstone, Barcelona, Spa-Francorchamps und Monza: Das waren alte Bekannte. Der erste Teil der Formel-1-Saison 2020 spielte sich auf Rennstrecken ab, die schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie im Kalender standen. Nicht alle zum geplanten Datum, manche im Doppelpack, aber doch irgendwie vertraut.
Mit dem GP Italien hat die Formel 1 ihr Pflichtprogramm erfüllt. Diese Saison ist mit dem achten Rennen jetzt auch statistisch eine Weltmeisterschaft. In der zweiten Halbzeit dieses Krisenjahres folgt die Kür. Sechs der noch folgenden neun Grand Prix finden auf Rennstrecken statt, die entweder noch nie Gastgeber eines Grand Prix waren oder nach langer Pause zurückkehren.
Mugello und Portimão kennen einige Formel-1-Teams von Testfahrten 2012 und 2009. Imola war zuletzt 2006 im Programm, allerdings mit einer anderen Strecken.ührung. Istanbul fiel nach 2011 aus dem Kalender, der Nürburgring nach 2013. Die Kurzversion des Sakhir-Kurses von Bahrain ist komplettes Neuland.
Die neuen Schauplätze geben dieser Corona-Saison ein Gesicht. Und sie sind für die Teams eine spezielle Herausforderung. Für die Ingenieure mehr als für die Fahrer. Weil sie nicht immer so gut vorbereitet in die Rennen gehen werden, wie sie das gewohnt sind. Da sind viele Unbekannte im Spiel. Mercedes-Chefingenieur Andrew Shovlin verrät uns, was auf die Teams in der zweiten Halbzeit der Saison zukommt.
Streckendaten von der Spieleindustrie
Die Arbeitsprozesse, so Shovlin, unterscheiden sich kaum, ob man nun auf eine neue oder bekannte Rennstrecke kommt. Im Prinzip geht es um zwei Dinge. Die Teams sammeln über die jeweilige Rennstrecke so viele Daten wie sie bekommen können, um einmal den Fahrsimulator mit einem realistischen Strecken.ild zu füttern.
Andererseits geht es auch darum, ein Rechenmodell zu erstellen, das es den Ingenieuren ermöglicht, die Basisabstimmung des Autos auszutüfteln, das Energiemanagement der Antriebseinheit zu bestimmen, Verschleiß und Abnutzung der Reifen zu prognostizieren und Hunderttausende von möglichen Rennstrategien durchzuspielen.
Bei den Simulationen sitzt ein imaginärer Fahrer im Auto. Dieser zweite Zweig der Vorbereitung ist viel wichtiger als der erste. Im Fahrsimulator geht es hauptsächlich darum, den Piloten ein Gefühl für die Strecke zu geben und ihre Vorlieben in Bezug auf das Setup zu ermitteln.
Lewis Hamilton und Valtteri Bottas haben virtuell bereits ihre Runden in Mugello und Portimão gedreht. Ihre Zeit für die Abstimmungsarbeit ist allerdings begrenzt. "Das, was die Fahrer an einem Tag im Simulator rausfahren können, ist nicht viel anders als das, was sie an einem Testtag schaffen. Du musst auch im Simulator mit jeder Einstellung Sequenzen von fünf bis acht Runden fahren, damit das Ergebnis relevant ist", erklärt Shovlin.
Der Roboter im Rechenmodell dagegen schläft nie. Er fährt Tag und Nacht und checkt dabei Tausende von möglichen Bodenfreiheiten, Flügeleinstellungen und Fahrwerksvarianten ab. Die Daten zu den Rennstrecken in x, y, z-Koordinaten bekommt Mercedes von den Rennstrecken selbst, die Animationen von der Spieleindustrie.
Früher hat man noch öfter selbst Rennstrecken und ihre Hintergründe mit Laser-Sensoren (Lidar) eingescannt. Heute liefert die Firma RFactor die dreidimensionale Darstellung der Strecke mit all ihren Kerbs, Sturzräumen, Reifen.tapeln, Bäumen, Tribünen, sogar dem richtigen Asphalt. Und das mit einer unglaublichen Detailgenauigkeit.
"Wenn du es selbst machst, ist es ist eine immense Arbeit, weil du einen Wust an Daten verarbeiten und in ein möglichst naturgetreues Modell programmieren musst", winkt Shovlin ab. Die Daten einzukaufen spart Zeit, nicht unbedingt Geld. "Es ist eine ziemliche Investition, Daten für alle Strecken einer Saison zu bekommen. Wir schicken höchstens noch mal eine Person vorab hin, um genauere Informationen über die Asphaltbeschaffenheit zu bekommen."
Im Zuge der Sparmaßnahmen haben die FIA und die Teams beschlossen, dass kein Team auf den Strecken, die ursprünglich nicht im 2020er Kalender standen, mehr fahren darf. Das wurde allerdings auch erst vereinbart, nachdem Ferrari seinen Filmtag in Mugello abgewickelt hatte.
Mercedes wird zwar im Rahmen seiner Talentförderung mit Nikita Mazepin vor dem GP Bahrain auf der Strecke von Sakhir fahren, es wurde dem WM-Spitzenreiter aber ausdrücklich verboten, Runden auf der neuen Strecken.ührung für das zweite Bahrain-Rennen zu drehen.
Dass Ferrari in Mugello bereits 100 Kilometer abgespult hat, kratzt bei Mercedes keinen. Nicht nur, weil Ferrari im Moment kein Gegner ist. Laut Shovlin wird der Wert eines Filmtages überschätzt: "Du hast zwar das aktuelle Auto, aber die falschen Reifen und nur eine begrenzte Rundenzahl. Die Fahrer profitieren sicher davon. Die Ingenieure weniger. Doch die Kosten für seinen Filmtag stehen in keinem Verhältnis zum Nutzen. Das geht schnell mal in die 200.000 Euro. Das Geld geben wir lieber für Simulationen aus."
Reifenkiller Mugello
Das wichtigste aus Sicht der Ingenieure ist, das Wochenende mit einer guten Basisabstimmung zu beginnen. "Wenn das Auto auf Anhieb passt, kannst du in den freien Trainingssitzungen arbeiten und lernen, die Reifen verstehen und die Strategie ausarbeiten und die Fahrer können das Auto für den Kurs optimieren und ihre Linien suchen", erklärt Shovlin.
"Bist du aber gezwungen, viel am Auto zu ändern und es dauernd umzubauen, läufst du deinem Programm ständig hinterher. Deshalb ist die Vorbereitung für neue Strecken umso wichtiger, weil dort das Risiko größer ist, danebenzuliegen."
Für Shovlin sind die Rennen auf den neuen Schauplätzen deshalb auch ein Schaufenster für die unbelohnten Helden in der Fabrik, die maßgeblich an der Vorbereitung beteiligt sind. Das trifft ganz besonders auf die Zweitages-Veranstaltung Imola zu, wo es vor der Qualifikation nur ein eineinhalbstündiges Training gibt.
"Wenn du da einen Fehler einbaust, wirst du ihn in den zweieinhalb Stunden Pause bis zur Qualifikation nur schwer abstellen", warnt Shovlin. "Wie oft haben wir uns nach einem der Freitagstrainings die Köpfe gekratzt und gefragt, was schief gelaufen ist? Doch da hast du eine ganze Nacht Zeit, darüber nachzudenken, und die Jungs daheim in der Fabrik können die Daten studieren und Simulationen mit und ohne Testfahrer laufen zu lassen. Das gibt dir Optionen, dich zu retten."
"In Imola hast du diese Möglichkeiten nicht. Du kannst höchstens die Daten checken und anhand von Vermutungen reagieren. Du wirst ziemlich sicher die Probleme mit ins Qualifying und das Rennen nehmen." In Mugello beginnt Mercedes bei Null. Die Daten der Testfahrten von 2012 sind zu alt, als dass man sie noch nutzen könnte.
Mugello wird der ultimative Härtetest für die Reifen. Keine einzige Kurve auf der Achterbahn in der Toskana ist im Scheitelpunkt langsamer als 140 km/h. Es gibt eine Passage mit vier Kurven in Folge, die absolut voll gehen mit Fliehkräften zwischen 4,5 bis 4,8 g. "Da musst du eine Abstimmung finden, die die Kräfte ausgewogen auf die vier Reifen verteilt."
Daten vor Hybrid-Ära irrelevant
Von Portimão dagegen gibt es verwertbare Datensätze, weil Mercedes in der Vergangenheit dort einige Testfahrten mit jungen Fahrern abgehalten hat. Allerdings wurde die Strecke seitdem neu asphaltiert. Auch die Randsteine sind nicht mehr, wie sie waren. Deshalb muss die Datenbank auch hier mit neuen Parametern gefüttert werden.
Imola, Nürburgring und Istanbul Park sind vermeintlich bekannte Strecken, aber die letzten Rennen dort liegen so weit zurück, dass die Erkenntnisse von damals nicht mehr relevant sind. Shovlin erklärt warum: "Das hat alles vor der Hybrid-Ära stattgefunden. Das einzige, was du aus den alten Daten herauslesen kannst, ist die Ideallinie. Nichts aber über das Energiemanagement und die Reifen.bnutzung."
"Das lässt sich von früher nicht herleiten, weil Autos, Motoren und Reifen anders waren. Bei den Reifen musst du den Asphalt kennen und die Kräfte auf die Reifen, um daraus Verschleiß und Abnutzung herauszulesen und auf dieser Basis Rennstrategien zu berechnen."
"Da schauen wir auch auf ähnliche Strecken. Mugello ist vergleichbar mit Suzuka, Imola wie Montreal. Portimão ist sehr ungewöhnlich, steht irgendwie allein da. Hohe Energie in die Reifen, sehr viel Auf und Ab, viele blinde Kurven. Eine echte Herausforderung für die Fahrer. Von der Belastung für die Reifen erinnert uns das an Paul Ricard."
Sechs Strecken, sechs Herausforderung.n
Von der neuen Strecken.ührung, die am zweiten Bahrain-Wochenende gefahren werden soll, hat Mercedes noch keine Unterlagen. "Wir wissen nur, dass die Rundenzeiten unter einer Minute liegen werden. Es wird eine Herausforderung sein, den Verkehr zu managen. Einige Kurven kennen wir ja. Kurve 1,2,3 und 4 und 10,11 bleiben gleich."
"Wichtig ist herauszufinden, wie viele echte Kurven es in dem Verbindungsstück zwischen Kurve 4 und der Gegengerade gibt. Es könnte sein, dass es nur eine ist. Und dann kommst du ziemlich schnell auf die letzte Gerade. Das wird die Natur der letzten beiden Kurven verändern und die Bremsen mehr beanspruchen."
"Andererseits sind die Geraden dazwischen genügend lang, die Bremsen abzukühlen. Wichtig wird auch sein, welche Reifen wir da bekommen. Wenn sie eine Stufe weicher sind und du dann einen C5 hast, wird das die Charakteristik des Rennens verändern."
Im Moment ist noch nicht einmal klar, mit welchem Abtriebsniveau die Autos auf die Strecke geschickt werden. "In der Theorie wird der Abtrieb im Vergleich zu Bahrain 1 reduziert, weil es mehr Geraden als Kurven gibt. Ob auf Monza-Niveau, haben wir noch nicht ausgerechnet."
"Wenn es bei drei DRS-Zonen bleibt, ist es wahrscheinlich besser, ein bisschen in Abtrieb zu investieren. Dann hast du in der Qualifikation den Vorteil des großen Flügels, ohne den Nachteil des Luftwiderstandes auf den Geraden. Es hängt aber auch davon ab, wie die Reifen sich verhalten, wie schnell du an den Kurven ankommst. Wir können also nicht so einfach anhand der Strecken.kizze sagen: Da nehmen wir jetzt mal Abtrieb raus."
Für Shovlin liegt der Reiz der neuen Strecken darin, dass jede eine andere Art von Herausforderung bedeutet. "Alle sind auf ihre Art schwierig, weil wir immer vor der Frage stehen: Wie strukturieren wir unsere Vorbereitungen, unsere Meetings, um zum besten Ergebnis zu kommen, und wie reagieren wir, wenn etwas schiefgeht?"
"In Imola ist nicht die Strecke die Herausforderung, sondern der enge Zeitplan. In Mugello ist es der Stress für die Reifen. In Portimão der neue Asphalt. Am Nürburgring wird es das Wetter sein. Wenn es so kalt wird, wie erwartet, dann müssen wir Wege finden, die Reifen auf Temperatur zu bringen. Für uns als Team kommt es darauf an, die wichtigen Faktoren zu erkennen und Pläne aufzustellen, möglichst schnell möglichst viel zu lernen. Das kann am Ende den Unterschied ausmachen."