Die schlauste S-Klasse aller Zeiten

Die hat sogar gegenläufig öffnende Türen. Eine Besonderheit, auf die das fertige Auto verzichten muss.
Wie weit kommt man eigentlich (fast) ohne Knöpfe? Mindestens bis zur Spitze des Luxus-Segments, sagen sie bei Mercedes. Und schicken die nächste S-Klasse mit einem radikal entrümpelten Cockpit, einer neuen MBUX-Generation und Superrechner-Power zu den Kunden. Erster Innenraum-Check im Hightech-Benz.
Egal ob man die Konstruktion jetzt Cockpit-Demonstrator, Luxus-Kartoffel oder ganz banal Sitzkiste nennt – das Ding beeindruckt. Nicht, wegen der schicken Schmetterlingstüren. Sondern wegen der Einrichtung. Die stammt nämlich 1:1 aus der neuen Mercedes S-Klasse, die intern auf den wenig glamourösen Fahrzeug-Code W223 hört. Obwohl die Themen Digitalisierung, Elektromobilität, Vernetzung und Globalisierung auch bei den Schwaben jede Menge Prioritäten verschoben haben – eine neue S-Klasse genießt bei Mercedes immer einen Sonderstatus. Weil der große Benz grundsätzlich zeigt, was die Top-Ingenieure unterm Stern so drauf haben. Egal ob Fahrkomfort, Assistenzsysteme oder Sicherheits-Innovationen, die S-Klasse hat über zehn Generationen so manche Revolution auf die Straße gebracht. Nummer 11 soll da keine Ausnahme machen.
Knöpfe sind Geschichte./strong>
Und weil sie auf das digitale Hirn des W223 mindestens genauso stolz sind, wie auf die analogen Qualitäten, haben sie der Einrichtung des Top-Modells diese schicke Sitzkiste gebaut. Alles voll funktionsfähig: Sitze, LED-Mäusekino, Displays, Soundsystem und natürlich die zweite Generation des MBUX-Digitalcockpits, das jetzt "My MBUX" heißt. Eine S-Klasse ohne Auto drumherum, wenn man so will. Deshalb aber nicht weniger beeindruckend. Und das liegt ausnahmsweise nicht an den luxuriösen Liege-Einzelsitzen im Fond, die natürlich für die Langversion bestellbar sein werden. Viel Platz, feinstes Leder, elektrisch ausfahrbare Fußstützen, kuschelweiche Kopfpolster. Ja, schöner Wohnen im Auto. Und doch irgendwie auch nicht überraschend. Bei aller Dekadenz: das hat man alles so oder so ähnlich schon gesehen. Viel spannender ist, was man nicht sieht. Knöpfe, zum Beispiel. Die sind mit dem W223 mehr oder weniger Geschichte. Und zwar vorne und hinten.
MBUX kommt auf die Rücksitze
Mit dem Modellwechsel erweitert Mercedes die digitale MBUX-Welt auch auf die Rücksitze. Das liegt nahe. Nicht wenige S-Klasse-Eigner lassen fahren. Und sind künftig voll digitalisiert unterwegs. Wer das Rundum-sorglos-Paket ordert, blickt im Fond auf zwei große Touchscreen-Displays, die die komplette MBUX-Funktionalität bieten. Also: Alle Dienste rund um "Hey Mercedes!", wobei es den Aktivierungsbegriff für bestimmte Funktionen gar nicht mehr braucht. Vier Mikrofone sorgen dafür, dass der digitale Assistent auf jeden Passagier reagieren kann. Zusätzlich surrt bei Bedarf auch ein kleines Android-Tablet aus der Mittelkonsole zwischen den Fond-Sitzen, über das sich die Displays hinter den Vordersitzen fernbedienen lassen. Warum das mehr ist, als eine nette Spielerei? Weil die Rückenlehne des Vordersitzes im Zweifel gut einen Meter außer Reichweite ist, wenn man den Liegesitz zum rollenden Bett ausfährt.
Neue Anordnung der Bildschirme
Deutlich auffälliger als das kleine Mäusekino hinten ist aber der neue zentrale Monitor im Cockpit, der in der Top-Version mit knackscharfer OLED-Technologie, haptischem Feedback und einer Bildschirmdiagonalen von 12,8 Zoll antritt. Wem das nicht wichtig ist, guckt in der Basis auf ein nur 11,9 Zoll großes Display ohne organische Leuchtdioden (OLED). Egal ob groß oder klein, die neue S-Klasse stellt die bisherige MBUX-Welt auf den Kopf. Denn seit dem Start der "Mercedes-Benz User Experience" (MBUX) im Jahr 2016, tritt das System mit zwei zu einem Panorama-Display zusammengefügten Bildschirmen an. Im W223 wird diese Einheit wieder aufgelöst, der zentrale Touchscreen rückt ganz nah an Fahrer- und Beifahrer heran. Das vereinfacht die Bedienung und sieht allein schon wegen der Größe auch nicht viel weniger beeindruckend aus. Vor allem dann nicht, wenn sich die neu gestalteten Icons bei Annäherung zum Benutzer hin ausrichten, beziehungsweise die Perspektive ändern.
Kameraüberwachung überall
Das ist möglich, weil gleich mehrere Kameras die Bewegungen der Passagiere im Innenraum erfassen und auf deren Verhalten und Gesten reagieren. Da möglicherweise mehrere Personen eines Haushaltes sich eine S-Klasse teilen, können bis zu sieben Nutzer-Profile im Fahrzeug hinterlegt werden. Die Daten sind dabei per PIN, Gesichtserkennung, Sprache oder Fingerprintsensor geschützt.
Weil mit dem neuen Cockpit 27 klassische Schalter und der Dreh-Drück-Steller in Rente geschickt werden, wirkt das S-Klasse-Cockpit wahnsinnig aufgeräumt. Glatte Oberflächen und Displays. Fertig. Wer das richtig gut findet, sollte die Finger vom neuen Head-Up-Display mit Augmented-Reality-Funktion lassen. Es projiziert Informationen zehn Meter weit vor das Auto und "beamt" bei aktivierter Navigation Richtungspfeile auf die Fahrbahn und markiert erkannte Gefahrenquellen vorsorglich. Das erinnert sehr an ein Videospiel auf einem XXL-Bildschirm, schlägt aber eine 27 Liter große Kerbe ins Armaturenbrett.
Nichts für empfindliche Mägen: Das 3D-Display
A propos beeindruckend: Auch wenn das Kombi-Instrument hinter dem neu gestalteten Lenkrad jetzt wieder ein Einzelgänger ist, heißt das noch lange nicht, dass es ein Schattendasein führt. Im Gegenteil. Je nach Ausstattungslinie ist das Display 3D-fähig und zwar ganz ohne 3D-Brille. Aktiviert werden muss der Tiefeneffekt durch eine kleine Bedienfläche im Zentraldisplay. Warum ist er nicht immer an? Weil der Blick in die Tiefe zwar cool aussieht, vor allem während der Fahrt aber einigen Menschen auf den Magen schlägt.
Unterstützen und entlasten
Kein Problem, dann halt ein kurzer Plausch mit dem digitalen Assistenten. Der ist auch in seiner neusten Version ein ziemlicher Besserwisser, versteht mehrere Anweisungen in Folge und hat natürlich deutlich mehr drauf hat, als auf Scherzfragen zu Antworten, das Wetter vorauszusagen und Witze zu erzählen. Mit Hilfe des kameraüberwachten Innenraums versucht "Hey Mercedes!" die Anliegen seiner Nutzer zu antizipieren. Rückwärtsgang einlegen und Kopf nach hinten drehen, schon surrt das Heckrollo aus dem Weg. Wer sich zum Aussteigen in Richtung Straße dreht und zum Türöffner greift, wird über eine rote Lichtleiste in der Türverkleidung vor heranrauschenden Fahrzeugen gewarnt. Erkennt das System Müdigkeit im Gesicht des Fahrers, beharrt der digitale Aufpasser penetrant auf einer Pause. Bis der nächste Parkplatz angesteuert werden kann, startet die S-Klasse dann ein Programm aus dem Energizing Comfort-Repertoire, mit belebender Sitzmassage und Ambientebeleuchtung, entsprechendem Duft sowie passender Musik. Generell soll der Mercedes seine Insassen viel Arbeit abnehmen, sich dennoch intuitiv bedienen lassen, unter anderem mit einer Mischung aus Aktion, Sprache und Gestik, jedoch keiner bewusst herbeigeführten.
Wo die Passagiere entlastet werden, steigen die Anforderungen an die digitale Infrastruktur. 30 Millionen Zeichen Programmiercode stecken alleine in der Headunit des Systems, eine 320 Gigabyte große Solid-State-Festplatte (SSD) speichert die Daten. Insgesamt kommt "My MBUX" auf 50% mehr Rechenleistung im Vergleich zur Vorgänger-Version, die leistungsfähigen Chips kommen von Mercedes-Partner NVIDIA. Und: Das System ist komplett updatefähig, neue Funktionen oder gebuchte Erweiterungen kommen per "Over-the-Air-Update" (OTA) aus der Cloud.