Protest gegen Flexi-Flügel unwahrscheinlich
Die Formel 1 stellt sich auf ein heißes Rennwochenende in Baku ein. Ein großes Thema im Fahrerlager sind weiter die biegsamen Heckflügel. Zwei Fraktionen stehen sich gegenüber. Die Frage ist, ob es zum Protest kommt. Red Bull, das die Regeln am stärksten ausreizt, präsentierte am Donnerstag bereits einen neuen Heckflügel.
Der Heckflügel ist weiter ein Streitthema im Fahrerlager. In Barcelona war die Diskussion erstmals öffentlich entbrannt. Auslöser waren Kommentare von Weltmeister Lewis Hamilton, der von seltsam biegsamen Flügeln am Red Bull sprach, was die nach hinten gerichteten Kameras am RB16B auch vorführten.
Die FIA reagierte und kündigte mit der Technischen Direktive TD018 verschärfte Testverfahren und Belastungsproben ab dem 15. Juni an – sprich ab dem GP Frankreich. Für einen Monat, was neben Paul Ricard auch die beiden Österreich-Rennen einschließt, soll es noch eine Übergangsfrist geben, in der die neuen Grenzwerte um bis zu 20 Prozent überschritten werden dürfen.
Die Fraktion ohne einen solchen biegsamen Flügel ist über den Zeitpunkt jedoch unglücklich. Für sie kommt die Verschärfung ein Rennen zu spät. Hinter vorgehaltener Hand drohten Mercedes, Aston Martin und McLaren schon nach dem GP Monaco mit einem Protest, sollte die Konkurrenz auch in Baku mit einem aus ihrer Sicht illegalen Heckflügel fahren dürfen. Hintergrund ist, dass ein solcher Flügel, der sich unter Last ab einer bestimmten Geschwindigkeit kontrolliert nach hinten legt, auf dem Stadtkurs am Kaspischen Meer einen großen Vorteil bringt. Eine halbe Sekunde, heißt es.
In Baku würden die Teams am liebsten mit zwei Flügeln fahren. Der Monza-Version für die fast zwei Kilometer lange Zielgerade. Und die Monaco-Variante, um in den 20 Kurven ausreichend Anpressdruck zu erzeugen. Mehr Abtrieb erleichtert es auch, die Reifen in ihr Arbeitsfenster zu bringen und sie dort zuverlässiger zu halten.
Um beide Welten zu bedienen, müssen die Teams einen Kompromiss eingehen. Und genau hier liegt der Vorteil eines flexiblen Heckflügels. Man kann in der Theorie mit mehr Abtrieb fahren, was in den Kurven hilft, leidet aber gleichzeitig nicht auf den Geraden, weil durch die Verbiegung der Luftwiderstand verringert wird. Dadurch hat man trotz größerem Flügel keinen Nachteil bei der Höchstgeschwindigkeit.
Die Grenzen ausreizen
Zur Fraktion mit einem flexiblen Heckflügel gehören laut verschiedenen Quellen im Fahrerlager Red Bull, Ferrari, Alpine, Alfa Romeo und Haas. Der US-Rennstall bestreitet das. Man habe am VF-21 keine mechanische Vorrichtung wie manch anderes Team, um den Heckflügel gezielt auf den Geraden nach hinten abzusenken. Am Heckflügel habe man ohnehin gegenüber dem Vorjahr keine Entwicklung betrieben. Eine Verbiegung unter Last ergebe sich maximal aus natürlichen Gründen und durch einen gewissen Alterungsprozess der Teile. Absicht sei in keinem Fall im Spiel.
Der WM-Führende treibt das Spiel am extremsten. Es war auch schon in den Weltmeisterjahren eine der Stärken von Red Bull, die Flügel mit einer speziellen Zusammenstellung der Carbon-Materialien biegsam zu gestalten. Jetzt lotet der große Mercedes-Herausforderer mit seinem Heckflügel die Grenzen am stärksten aus. Und um genau diese Grenze streiten sich die Gegner. Es herrscht Uneinigkeit: Bewegen sich Red Bull und Co. tatsächlich noch am äußersten Rand des Reglement-Rahmens oder sind sie bereits über das Limit hinausgeschossen?
Diejenigen Teams, die einen flexiblen Heckflügel haben, geben sich betont gelassen. In der Formel 1 gehöre es zum Alltag, das Limit auszureizen. Solange man die im Reglement vorgeschriebenen statischen Belastungstests bestehe, hätten die Sportkommissare im Falle eines Protests auch keine Handhabe für eine Bestrafung. Ein Alpine-Ingenieur sagt uns: "Wir wären überrascht, wenn es in Baku zu einem Protest kommen würde. Solange wir die Tests der FIA bestehen, sind unsere Autos innerhalb der Reglements-Grenzen. Es heißt zwar im Regelwerk, dass die aerodynamischen Teile starr sein müssen. Doch das ist kein schlüssiger Gesetzestext. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich Fahrzeugteile unter Last verwinden. Wenn man sich nur steif am Wortlaut festhält, wäre jedes Auto illegal."
Flexi-Flügel erst ab Samstag?
Ihrer Sache sicher scheinen sich die Teams nicht. Jedenfalls war am Donnerstag von Baku im Fahrerlager zu beobachten, dass sie das Gespräch mit den Gegnern suchten. Und die haben naturgemäß eine andere Sicht auf das Streitthema. Sie sehen einen Konflikt mit den Paragrafen 3.8 und 3.9 des Technischen Regelwerks, die den Bewegungsgrad von aerodynamischen Teilen stark einschränken. Dieser Meinung hat sich ja auch die FIA mit der neuen Technischen Direktive angeschlossen.
Doch diese Klarstellung greift wie gesagt erst nach Baku. McLaren beklagt deshalb, dass Teile ihrer Konkurrenz bis dahin weiter gegen das Technik-Reglement verstoßen würden. Der Traditionsrennstall behält sich vor, dagegen in Baku vorzugehen. Unter Punkt 3.8 b.) heißt es zum Beispiel, dass "jeder spezifische Teil des Autos, der die aerodynamische Performance beeinflusst, starr am vollständig gefederten Teil des Fahrzeugs befestigt werden muss". Das, so die Argumentation, sei nicht gegeben, wenn sich wie bei einer gewissen Geschwindigkeit wie etwa im Fall von Red Bull die Endplatten nach innen biegen und damit das Flügelhauptblatt nach hinten drücken.
Aston Martin glaubt nicht an Protest
Die Teams werden zunächst den Trainingsfreitag abwarten, um zu sehen, wer es wieder wie bunt treibt. Die sauberste Lösung wäre es, dann den Protest einzulegen. So hatte es Red Bull im Vorjahr beim Streitfall um den Mercedes-Lenkradtrick DAS in Spielberg gemacht. Die Sportkommissare konnten ihre Entscheidung so vor der Qualifikation treffen.
Ein Einspruch nach dem Rennen wäre der ungünstigste Fall, weil dann das Ergebnis in der Schwebe steht. Vielleicht für längere Zeit, weil der Sachverhalt kompliziert ist. Dafür haben nicht alle Fans Verständnis. Ein Teamchef warnt, dass man möglicherweise gezwungen sein wird, spät zu entscheiden. "Es war in den letzten Rennen so, dass manche ihre Biege-Flügel am Freitag gar nicht gefahren sind, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Die kamen dann erst ab Samstag ans Auto."
Doch Stand Donnerstag erscheint ein Protest unwahrscheinlich, wenn nicht McLaren die Initiative ergreift. Experten halten es für unwahrscheinlich, dass sich Mercedes selbst die Hände schmutzig machen wird. Partner Aston Martin scheint nicht viel von einem Protest zu halten. Eine Stimme aus dem englischen Team: "Die FIA hat die Initiative bereits ergriffen und mit der Technischen Direktive Gegenmaßnahmen eingeleitet. Ab Silverstone wird das Thema der Vergangenheit angehören." Dann gibt es auch keine Toleranz mehr.
Obendrein glauben einige im Fahrerlager, dass ein Protest keine großen Erfolgsaussichten hätte. Weil die Sportkommissare schwer einer Argumentation folgen werden können, die gegen das Vorgehen der FIA in dem Fall ist. Der Weltverband hatte den Zeitpunkt der Verschärfung nach Baku damit begründet, dass die Teams für Änderungen am Heckflügel Zeit brauchen. Damit hat man indirekt den Heckflügel-Verbiegern eine Freigabe erteilt.
Was macht Red Bull?
Red Bull erregte bereits einen Tag vor dem Anpfiff in Baku die Aufmerksamkeit. Die Entwicklungsabteilung in Milton Keynes hat einen neuen Heckflügel aufgelegt, der sich von der vorherigen Variante deutlich abgrenzt: Das Hauptblatt ist stärker durchgebogen und dockt weiter oben an den Endplatten an. Die sind einfach gehalten, ohne Schlitze und Fransen. Ob Red Bull den Heckflügel auch versteift hat, um auf der sicheren Seite zu sein, oder ob es sich um ein Produkt aus der gewöhnlichen Entwicklungsschleife handelt, ist unklar. Bislang übrigens hat noch kein Team mitgeteilt, aus Vorsicht auf den flexiblen Flügel zu verzichten.