Extra-Schicht im Simulator
Mercedes und Lewis Hamilton kämpfen sich zurück. Mit Upgrades, Nachsitzen im Simulator, Schützenhilfe von Valtteri Bottas und dem Heimvorteil. Bis zum Q1 sah Max Verstappen noch wie der Favorit aus. Doch dann drehte sich das Blatt.
Nach dem Freien Training hätte selbst der größte Mercedes-Fan nicht mehr auf Lewis Hamilton./span> oder Valtteri Bottas gewettet. Max Verstappen zertrümmerte mit einer überragenden Bestzeit die Konkurrenz. Und Mercedes schlug sich wie schon in Österreich mit Lando Norris herum.
Auch das Q1 deutete noch nicht die Wende an. Hamilton brauchte zwei Versuche und verfehlte doch Verstappens Marke um 0,035 Sekunden. Zu dem Zeitpunkt stand der Holländer längst in der Box. Immerhin, der Abstand war unter vergleichbaren Bedingungen auf vier Zehntel geschrumpft. Doch erst das Q2 versetzte Red Bull einen ersten psychologischen Tiefschlag.
Hamilton nahm seinem WM-Gegner zuerst 0,481, dann 0,292 Sekunden ab und drehte das Bild vom Mittag komplett um. Nachdem Hamilton Verstappens Zeit im freien Training noch ungläubig hinterfragt hatte: "Wo macht der denn die Zeit gut?", machte sich nun Frust im Red Bull.Cockpit breit. "Das Auto ist gut, aber ich habe massives Untersteuern."
Upgrade ist kein Matchwinner
Im großen Finale setzte Hamilton gleich am Anfang mit einer Runde von 1.26,134 Minuten den Maßstab. Verstappen verfehlte ihn um zwei Zehntel, probierte es ein zweites Mal und konnte den Rückstand noch auf 0,075 Sekunden verkürzen. Hamilton lag bei seinem zweiten Versuch bis zur vorletzten Kurve auf Kurs zu einer noch schnelleren Runde, da brach ihm in der Vale-Linkskurve das Heck aus.
"Mir fiel das Herz in die Hose, und ich war so erleichtert, dass es doch noch gereicht hat", bedankte sich Hamilton bei den Zuschauern, die ihn zu dieser Freitags-Pole Position gepeitscht hatten. Teamchef Toto Wolff rechnete vor: "Ohne die Rallyeinlage wäre die Zeit noch drei Zehntel schneller gewesen.
Am Ende der Qualifikation fragte sich die Formel-1-Gemeinde, wo Mercedes die Zeit gefunden und wo sie Red Bull verloren hatte. Der Konter des Weltmeisters bahnte sich schon lange vor dem Schicksalsrennen auf dem heiligen Boden von Silverstone an.
Es beginnt bei dem Aero-Upgrade mit neuem Unterboden und modifizierten Leitblechen, das schon Anfang Juni im Windkanal geboren wurde. Wolff warnte jedoch, den Entwicklungsschritt überzubewerten: "Das Upgrade wird nicht die Welt verändern und nicht allein die Lücke schließen, die Red Bull zu uns aufgerissen hat. Wir müssen weiter daran arbeiten, dass wir das Beste aus dem Paket rausholen, das wir haben. Also das Fenster für Auto und Reifen genau treffen."
Hamilton zwei Mal im Simulator
Das Debüt des Sprintrennens spielte Mercedes einen kleinen Joker in die Hand. Der geänderte Ablauf verlangt eine andere Vorbereitung. In der Fabrik und auf der Rennstrecke. Weil alle Aufgaben, die ein Formel-1-Team normalerweise in 180 Minuten erledigt, in eine Stunde Training gepackt werden mussten, kam dem Basis-Setup und dem Programm im ersten Training eine viel größere Bedeutung zu.
Schon am Dienstag drehten Hamilton und Bottas im Simulator ihre Runden und probierten zwei unterschiedliche Abstimmungsrichtungen aus. Bereits da hat Mercedes entschieden, die Autos auf wenig Abtrieb zu trimmen. Nachdem Red Bull den Silberpfeilen bei den Österreich-Rennen auf den Geraden noch die Hosen ausgezogen hatte, drehte sich das Bild diesmal um. Die Mercedes gewann in der Qualifikation 5 km/h auf der Hangar-Geraden.
Am Freitagmorgen trauten die Mercedes-Mitarbeiter ihren Augen nicht. Hamilton stand schon wieder in Brackley auf der Matte, wollte vor dem ersten Training unbedingt noch ein paar Simulator-Runden drehen. Ausgerechnet er, der sonst gar nichts von der virtuellen Fahrerei hält. "Ich wusste, dass wir alles aus unserem Paket herausquetschten mussten. Da wollte ich den Ingenieuren noch ein paar zusätzliche Daten und Informationen verschaffen."
Mercedes mit Alternativ-Programm
Teil zwei des Schlachtplans folgte im Training. Mercedes machte exakt das Gegenteil von Red Bull. Hamilton und Bottas simulierten mit Medium-Reifen das Sprintrennen und legten mit jeweils 21 Runden am Stück die längsten Longruns von allen im Feld auf die Bahn.
Red Bull konzentrierte sich mehr auf die bevorstehende Qualifikation und ließ Max Verstappen und Sergio Perez erst am Ende der Sitzung eher kurze Dauerläufe fahren. Verstappen über zehn, Perez über sieben Runden.
Vielleicht hatte sich bei Red Bull nach dem klaren Trainingssieg ein bisschen zu viel Zuversicht eingeschlichen. Der RB16B war so perfekt auf die äußeren Bedingungen und das Grip-Niveau eingestellt, dass Verstappen sein Auto über den grünen Klee lobte und schnelle Rundenzeiten mit Leichtigkeit aus dem Ärmel schüttelte. Was sollte da zweieinhalb Stunden später noch schiefgehen?
Die Mercedes-Piloten dagegen klagten über lästiges Untersteuern, was Hamilton im zweiten und dritten Sektor jeweils drei Zehntel kostete. Doch in der Abendsonne drehte sich das Bild. Die Strecke gewann mit jeder Runde Grip und die Asphalttemperaturen sanken von 43 auf 37 Grad.
"Mit den Änderungen, die wir zwischen den beiden Sitzungen vorgenommen hatten, war das Auto viel besser in Balance. Es fühlte sich schon im Q1 wie verwandelt an, obwohl ich mir da noch nicht vorstellen konnte, wie ich den Rückstand auf Max aufholen sollte", strahlte Hamilton.
Bottas als Windschatten-Spender
Wozu hat man gute Wasserträger? Valtteri Bottas spielte die perfekte Zugmaschine. Diesmal lag es an Hamilton zu wählen, ob er vor oder hinter dem Teamkollegen auf die Strecke gehen wollte. Er ließ Bottas den Vortritt. Der Windschatten des anderen Mercedes beflügelte ihn auf den Geraden. Verstappen hängte sich im ersten Versuch an die Mercedes an, war aber im zweiten ziemlich allein unterwegs.
Ergebnis: Verstappen fehlte auf der Hangar-Gerade 4,4 km/h auf Teamkollege Sergio Perez und 9,8 km/h auf Hamilton. "Gegen diese Red Bull konnten wir nur mit gutem Teamplay gewinnen. Unter den Umständen, dass ich kein Auto vor mir hatte, bin ich mit meiner Rundenzeit zufrieden", erklärte Bottas seine Schützenhilfe. Der WM-Fünfte hat jetzt als Dritter in der Startaufstellung für den Sprint die Aufgabe, Verstappen einen Punkt abzunehmen.
Der WM-Spitzenreiter wunderte sich, warum sein vorher so perfektes Auto in den Kurven plötzlich geradeaus schob. "Mit dem Untersteuern konnte ich die Kurven nicht richtig attackieren", entschuldigte sich der Holländer. Da er sich nicht vorstellen konnte, dass es am Auto oder am Setup lag, hatte er einen anderen Parameter im Verdacht : "Ich glaube nicht, dass die Frontflügeleinstellung schuld war. Eher die Vorderreifen."
Der letzte Mitspieler beim ersten Trainingssieg von Mercedes über Red Bull seit dem GP Spanien war das Publikum. Silverstone ist Hamilton.Land. Bei jeder schnelle Runde des siebenfachen Silverstone-Siegers ging ein Jubelsturm durch die schon gut gefüllten Ränge, so als hätte England im EM-Finale doch noch einen Elfmeter verwandelt. "Ich stehe heute auch wegen euch da oben", lobte Hamilton seine Fans. "Ihr habt mir die Energie zu diesen Runden gegeben."