Mitfahrt im Nissan Bladeglider 2016

Der Bladeglider bringt Nissans erfolgloses aber spektakuläres Deltawing-Konzept für Le-Mans-Renner auf die Straße. Oder zumindest in einen Prototypen. Wir konnten mitfahren.
Das Kartódromo Internacional di Guapimirim genießt bei Rios tempobegeisterter Jugend einen Ruf wie Donnerhall: „Die Karts haben bis zu 13 PS! Das gibt es sonst nirgends“, schwärmt Amanda. Vor zwei Jahren war sie das erste Mal hier, privat, mit Freunden, zum Gas geben auf dem grobporigen Freiluftasphaltkurs. Heute ist sie als Hostess hier. Für Nissan.
Was die Japaner hier präsentieren – rund 100 km nordöstlich von Rio de Janeiro, gut zwei Bus-Fahrstunden von der Copacabana entfernt –, lässt die Rennkarts von Betreiber-Familie Pereira Ferreira ganz schön analog aussehen. Der 4,30 Meter lange Nissan Bladeglider ist hinten fast doppelt so breit wie vorn. Das schmale offene Dach besteht nur aus zwei breiten Streben. Kleine Kameras in den vorderen Kotflügeln ersetzen die Rückspiegel. Die riesigen Türen sind hinten angeschlagen und öffnen weit ausladend nach oben. Wie die ausgebreiteten Schwingen eines Engels, der auf einem Kirchturm die Tauben erschrecken will.
707 Nm Drehmoment – da geht was
Im pfeilförmigen, ab Schulterhöhe fast komplett verglasten Innenraum sitzt der Fahrer mittig vor seinen beiden Mitfahrern. Das gibt ihm das gute Gefühl, das Cockpit eines Formel-Rennwagens geentert zu haben (wozu das klitzekleine Tasten-Lenkrad erheblich beiträgt). Und beschert den Heckinsassen in ihren Einzelsitzen Beinfreiheit wie in einem Schlafsack. Würde dem Bladeglider-Piloten langweilig werden vor seinen beiden Rückspiegelmonitoren und dem Borddisplay, könnte er seinen Mitfahrern die Füße kraulen – die lagern mit 97 prozentiger Wahrscheinlichkeit paarweise rechts und links neben seinem Fahrersitz (zum entspannten Beine anziehen sind die Rücksitze zu flach). Aber dazu wird es sicher nicht kommen.
707 Nm Drehmoment treiben den 1.300 Kilogramm schweren Nissan Bladeglider voran, wie es sich für einen Elektro-Sportwagen-Prototypen gehört: pfeilschnell, flüsterleise und ein bisschen atemberaubend. Volles Drehmoment ab null Umdrehungen. Hätten wir keine Helme auf, schlackerten die Wangen vermutlich unentwegt am Kopfstützenrand der seitenverstärkten Sitze.
„Unter 5,0 Sekunden“ gibt Nissan als Richtwert an für den Spurt auf 100 km/h. Gefühlt durchaus plausibel, lehrt die erste Testfahrt. Oder genau genommen: die erste Test-Mitfahrt. Denn selbst ans Steuer darf der internationale Motorjournalisten-Tross hier und heute nicht. „Dazu wird es an anderer Stelle und zu späterer Zeit noch ausreichend Gelegenheit geben“, verspricht Neil Reeve, Manager Global Product Communications. besänftigend, als er in die langen Gesichter der Anwesenden blickt.
Aber sei’s drum: Dieser Bladeglider ist eines von zwei fahrbereiten Exemplaren hier in Rio. Das soll ja schön heil bleiben. Das andere Exponat steht im Olympischen Dorf. Nissan ist Großsponsor der Giga-Veranstaltung. Mehr als 4.200 Autos sind im Dauereinsatz. Star der Nissan.Flotte ist der Nissan Kicks. Ein neuer, wirklich sehenswerter SUV im B-Segment. Nach Europa schaffen wird es der Kicks allerdings nicht. Dort bleibt der Nissan Juke unterhalb des Qashqai tonangebend.
Zwei E-Motoren im Heck
Auch den Bladeglider mit seinen beiden E-Motoren im Heck – einer für jedes Rad – werden wir hier absehbar nicht im Alltag erleben. Das „Elektrofahrzeug für Menschen mit Benzin im Blut“, so der Pressetext, ist „nur“ ein fahrbereiter Prototyp, basierend auf der 2013 erstmals gezeigten Studie. „Der Bladeglider demonstriert das volle Potenzial, das in fortschrittlicher und leistungsstarker Elektrotechnik steckt“, sagt Nissan.Pressesprecher Oliver Franz. Und schiebt nach: „Eine Serienfertigung ist zum derzeitigen Zeitpunkt nicht geplant.“
Schade. Findet auch Darren Cockle. Der 41-jährige Testingenieur steuert den Bladeglider übers Kartódromo. 16 mal vier Runden reißt er heute ab. Meist von Ohr zu Ohr grinsend. Bladeglider fahren macht fraglos Spaß, auch im Fond. Durch die Sitzanordnung hat der Sozius rechts und links freien Blick nach vorn. Meiner fällt auf den Tacho: 104 km/h Spitze auf der rund 200 Meter langen Start-Ziel-Geraden. Aus der Gegenrichtung kommend sind es bis zu 120 Sachen, sagt Cockle. Reicht für einen Kartkurs. Die angegebene Höchstgeschwindigkeit von 190 km/h glauben wir einfach mal.
Cockle arbeitet bei Williams Advanced Engineering. Die Briten zeichnen in Kooperation mit Nissan für den Antrieb und Motor des „ Gleiters“ verantwortlich. 220 kW leistet die Lithium-Ionen-Batterie. Über die Kilowattstunden-Kapazität des Hochleistungsakkus schweigt Nissan beharrlich. Nur so viel: „Über einen Schnelllader ist sie in 90 Minuten wieder voll geladen“, verrät Gareth Dunsmore, Nissan oberster Elektroauto-Entwickler für Europa.
Antrieb mit Formel-E-Genen
Also orakeln wir mal ein bisschen: Der Nissan Leaf, mit über 245.000 Einheiten derzeit meistverkauftes E-Auto der Welt, ist ab Werk mit 24 Kilowattstunden (kWh) unterwegs, wahlweise gibt es auch 30 kWh mit 250 km Reichweite laut NEFZ. Die nächste Generation (ab 2018) wird 40 und 60 kWh haben. Damit sollen Reichweiten von über 300 km beziehungsweise 500 km möglich sein. Der Bladeglider dürfte im Prototypenstatus deutlich weniger imponierend bestückt sein: Die Technik orientiert sich an den Antrieben der aktuellen Formel-E-Renner. Die liegen ebenfalls bei einer Maximalleistung von 220 kW (272 PS). Mit einer 28-kWh-Batterie.
So oder so: Der Bladeglider zeigt, wohin sich Sportwagen mit E-Antrieb entwickeln können. „Weg von konventionellen Formen“, so Dunsmore. Vorn oder hinten muss kein platzraubender Verbrennungsmotor untergebracht werden. Fahrdynamisch sei das aerodynamisch perfektionierte Pfeilkonzept der Hit, schwärmt Williams-Mann Cockle. Die ausgeklügelte Luftführung „durch“ die speziell ausgeformte Karosserie drückt den Bladeglider auf die Straße. „Das Auto lässt sich extrem präzise einlenken und liegt perfekt in der Kurve.“ Durch die hecklastige Gewichtsverteilung von 80:20 fühle sich der Bladeglider ausgesprochen leicht an. Über Schaltpaddle kann zweistufig rekuperiert werden. „Das unterstützt den Bremsvorgang, der Wagen zieht sauber ins Kurveninnere.“ Kurs Ideallinie.
Wer will, kann sich dabei von ABS, ESP und Torque Vectoring unterstützen lassen. Alle elektronischen Helfer lassen sich über die Tasten und Regler am Lenkrad in verschiedenen Abstufungen miteinander kombinieren und wahlweise komplett abschalten. Vollgas-Profi Cockle hat das getan bei der Testfahrten, sagt er. Drifts oder ähnliche physikalische Grüße blieben aus. Wildes Rangieren in den Reifenstapel-Rabatten war also nicht nötig. Auch besser so bei einem Wendekreis von 18 Metern.
Autor: Kai Schacht