Historische Aufarbeitung des Exorzismus-Falls der Anneliese Michel vorgestellt
Für die "erstmalige wissenschaftliche Aufarbeitung desExorzismus von Klingenberg" hatte Petra Ney-Hellmuth vom Lehrstuhlfür Neueste Geschichte an der Universität Würzburg zusammen mitihrem Doktorvater Professor Wolfgang Altgeld eigensSondergenehmigungen zur Eröffnung der Akten des Staatsarchivs unddes Diözesanarchivs Würzburg erteilt bekommen.
Ein Ergebnis der Arbeit ist die Erkenntnis, dass gleich "mehrereDetails des Falls wurden bisher in der Öffentlichkeit falschdargestellt" wurden. So wurde beispielsweise der Exorzismus mit derTodesursache gleichgesetzt - für Ney-Hellmuth der größte Fehler inder öffentlichen Darstellung.
"Der Exorzismus ist ein Gebet in einer seelsorglichenBetreuungssituation", so die Forscherin und führt weiterpräzisierend aus. "Gestorben sei die epilepsiekranke junge Frau,über die zwischen September 1975 und Juni 1976 der Große Exorzismusgesprochen worden war, jedoch an Unterernährung."
Der damalige Bischof Josef Stangl habe den Großen Exorzismusgenehmigt und den beiden Priestern, Anneliese Michels"Seelenführer" Ernst Alt und dem Exorzisten Pater Arnold Renz,vertraut, die später wegen unterlassener Hilfeleistung verurteiltwurden. Michel selbst und deren Familie hatten ärztliche Hilfeverweigert und auf eine spirituelle Lösung gesetzt. "Das Fehleneiner ärztlichen Begleitung ist nicht Stangl anzulasten; dieSchuldfrage ist spekulativ", so die Historikerin.
Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung: "DiePresseberichterstattung über die Klingenberger Ereignisse fielnicht so vorverurteilend aus wie in Kirchenkreisen befürchtet undvon der Verteidigung der angeklagten Alt und Renz bemängelt."
Nachweislich neu entfacht hatte der Exorzismus allerdings dieDiskussion über die Realexistenz des Bösen. Eine Folge derEreignisse war laut Ney-Hellmuth, dass der Exorzismus-Ritusüberarbeitet wurde, dass seitdem beim Exorzismus auch ein Arztmiteinbezogen werden muss und dass letztlich in Deutschland und vorallem in der Diözese Würzburg der Exorzismus ein sehr tabuisiertesThema ist. Von konservativ-traditionalistischen Kreisen werdedagegen noch heute der Fall Michel instrumentalisiert, um gegen dieNeuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils vorzugehen.
Wolfgang Altgeld sieht in der nun vorgestellten Dissertationeher eine zeitgeschichtliche und keine kirchen- undtheologiegeschichtliche Arbeit.
"Bei der Entwicklung der Idee zu dieser Doktorarbeit sei eszunächst allein darum gegangen, anhand von knapp 4000Zeitungsartikeln die öffentliche Resonanz der Vorkommnisse vonKlingenberg zu untersuchen und in die zeitgeschichtlich auffälligesoziokulturelle und politische Umbruchphase der späteren1970er-Jahre einzuordnen", so die Pressemitteilung der Universität."Die Auseinandersetzung um die terroristische Rote-Armee-FraktionRAF, die Debatte um die Zwangsernährung von hungerstreikendenRAF-Häftlingen, die Nato-Nachrüstung sowie die schnellenPapstwechsel nannte er als Beispiele für diese Umbruchszeit, in derdie öffentliche Meinung unsicher geworden sei. Ihm sei es bei derBegleitung der Arbeit darum gegangen, den Fall Klingenberg vordiesem Hintergrund besser zu verstehen.
Vertrauen bei Archiven aufgebaut"
Dass den Forschern die eigentlich noch lange gesperrteArchivalien eröffnet wurden, sei die Leistung von Ney-Hellmuthgewesen, Vertrauen bei den zuständigen Archiven aufzubauen, um dieAkten des Staatsarchivs und des Diözesanarchivs Würzburg für diewissenschaftliche Forschung vorzeitig zu eröffnen, unterstrichAltgeld.
Mit Hilfe dieser Akten hätten dann das tatsächliche Geschehenvon Klingenberg, die Vorkommnisse um die leidende Anneliese Michel,aufgezeigt und bisherige Veröffentlichungen teils richtig gestelltwerden können – "auch vieles zum Verhalten des damaligen BischofsJosef Stangl".
Ausdrücklich betont Altgeld, dass es keinerlei Beeinflussungdurch die betroffenen Akteure gegeben habe. Zugleich legte derWissenschaftler auch Wert auf die Tatsache, dass weder er noch dieAutorin katholisch seien. Entstanden ist nach den Worten Altgelds"eine sorgfältige Darstellung des Falls selbst und der öffentlichenResonanz."
Archivdirektor Professor Johannes Merz vom DiözesanarchivWürzburg wertet die Eröffnung der kirchlichen Akten für diewissenschaftliche Forschung als einen "Beleg für einen Wandel derKirchenleitungen, als Zeichen der Professionalisierung deskirchlichen Archivwesens. Es sei ein Glücksfall, dass ProfessorAltgeld den Fall Klingenberg aufgegriffen und alsDissertationsthema vergeben habe. "Eine geschichtswissenschaftlichseriöse Aufarbeitung erschien überfällig."