Das SID-Kalenderblatt am 7. August: Edwards Wunderflug von Göteborg

Das SID-Kalenderblatt am 7. August: Edwards Wunderflug von Göteborg
Köln (SID) - Den Weltrekordler Jonathan Edwards hätte es beinahe nicht gegeben. Der tiefgläubige Pfarrerssohn aus London verweigerte nämlich lange den Dreisprung-Dienst an Sonn- und Feiertagen. Erst als dies seine Karriere ernsthaft gefährdete, entschied Edwards nach langem Abwägen "zwischen meinem Gewissen und Gott", künftig nicht mehr ganz so fundamentalistisch an die Sache heranzugehen.
Ab 1993 sprang Edwards somit auch am Tag des Herrn, und das machte einen der größten Tage der Leichtathletik-Geschichte erst möglich: Am 7. August 1995 schraubte Edwards, als hätte ihn irgendeine höhere Macht mit Sprungfedern in den Füßen gesegnet, im WM-Finale von Göteborg den Weltrekord auf unvorstellbare 18,29 m.
Zwar fand damals die Qualifikation am Samstag, das Finale am Montag statt. Edwards, dessen religiöse Erziehung als Sonntagsprogramm allein Gottesdienst und Bibelstudium vorsah, hätte dafür also nicht einmal mit seinen religiösen Pflichten brechen müssen. Doch hätte er diese nicht zwei Jahre zuvor bereits gelockert, wäre er wohl schon kein Dreispringer mehr gewesen.
Die Geduld des britischen Verbandes mit seinem lammfrommen Sorgenkind war nämlich restlos erschöpft. Edwards, gleichwohl überragend talentiert, wertete Sport nach Religion und beruflicher Ausbildung als Nummer drei, nannte sich rückblickend einen "No-Hope-Athlete": "Ich erinnere mich nicht daran, viel trainiert zu haben."
Die Verbands-Granden hingegen erinnerten sich daran, beide Augen zugedrückt zu haben, als Edwards die Olympiaausscheidung 1988 ausließ, weil diese sonntags stattfand, und sie den Youngster dennoch mit nach Seoul nahmen. Sie erinnerten sich daran, dass Edwards die WM-Teilnahme 1991 verweigerte, weil die Qualifikation in Tokio ebenfalls in die Sabbatruhe fiel - ebenso übrigens wie zwei Jahre später in Stuttgart.
Dort aber konnte Edwards nun starten und holte WM-Bronze. Und weil er nicht nur bibelfest, sondern mittlerweile auch Diplom-Physiker war, schien er einen Weg gefunden zu haben, die Schwerkraft zu überwinden. Den Dreiklang Hop-Step-Jump perfektionierte er, der schon ergraute Edwards wurde im Sommer 1995 zum Star.
Bei 17,97 m war Willie Banks' Weltrekord zementiert. Beim Europacup im Juni schwebte Edwards schwerelos auf 18,43 m - mit einem My zuviel Rückenwind. In Göteborg stimmte dann alles: 18,16 m sprang Edwards im ersten Versuch, der erste reguläre 18er der Geschichte, im zweiten dann die epischen 18,29. Statt Party wollte Edwards danach "duschen und schlafen. Und wenn ich nicht schlafen kann, spiele ich Schach."