"High-Rise": Nobel geht die Welt zugrunde

"High-Rise" mit Tom Hiddleston ist wohl der bizarrste, wahnsinnigste, aber auch einer der kunstvollsten und einzigartigsten Filme, die 2016 im Kino laufen.
Hin und wieder gibt es diese Filme, bei denen selbst geübten Kinogängern ein wenig die Worte fehlen. Wie beschreibt man Ben Wheatleys Romanverfilmung "High-Rise" mit Tom Hiddleston, Jeremy Irons, Sienna Miller und Luke Evans in den Hauptrollen? Für die meisten Filmfans wohl mit dem zweifelhaften Prädikat "schwere Kost". Für alle anderen dagegen als Filmerlebnis, das man so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommt.
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Robert Laing will hoch hinaus
Es ist das Jahr 1975 in London. Der Arzt Robert Laing (Hiddleston) braucht nach seiner Scheidung einen Tapetenwechsel und zieht in das futuristische Hochhaus des Architekten Anthony Royal (Irons). Das moderne Gebäude vereint alle notwendigen Einrichtungen und jede noch so unwichtige Luxus-Annehmlichkeit unter seinem Dach. In der einen Etage ist etwa der Supermarkt, in einer anderen die Squashanlage und ganz oben, in Besitz des Architekten selbst, ein fürstlicher Garten.
Doch schnell kristallisieren sich die ersten Probleme im vermeintlichen Paradies heraus. Die unteren Stockwerke verkommen rasch zu den Ghettos des Hauses. Gleichzeitig blickt die mittlere Schicht, zu der auch Laing gehört, neidisch zu den oberen Stöcken, die in Dekadenz regelrecht vergehen. Wie lange kann dieser fragile Mikrokosmos noch bestehen? Und wie lange wird Dr. Laing dem Wahnsinn widerstehen können, der sich von unten und oben durch das Gebäude zu fressen scheint?
Der Anfang vom Ende
Beide Fragen beantwortet der Film innerhalb der ersten Sekunden. Da sitzt in einem blutverschmierten Hemd ein gänzlich mit sich zufriedener Laing in seiner verwahrlosten Bude. Er grillt sich gerade den Hund, dem er kurz zuvor noch liebevoll über den Kopf gestreichelt hat, sein glückseliges Lächeln entblößt verrottende Zähne. Kurz nach diesem Einstieg in medias res offenbart die Einblendung "Drei Monate zuvor", dass der Zuschauer in den kommenden zwei Stunden nun also dem psychischen und körperlichen Verfall des Doktor Laing wird beiwohnen dürfen - oder müssen.
Der Einstieg und knapp die erste halbe Stunde von "High-Rise" sind meisterlich. Beide verheißen eine so noch nicht gesehene Zukunftsdystopie im Setting der 1970er Jahre. Doch was so vielversprechend beginnt, wird zusehends zu einer Groteske, der man im wahrsten Sinne biblische Ausmaße zusprechen kann. "High-Rise" entpuppt sich als filmischer Fiebertraum, bietet ein modernes Sodom und Gomorrha dar. In seiner wirren Erzählweise erinnert er ein wenig an "Fear and Loathing in Las Vegas" von Terry Gilliam. Reichert man das nun mit der morbiden Dekadenz aus "Das große Fressen" an und richtet den ebenfalls in soziale Klassen unterteilten Zug aus "Snowpiercer" zu einem Hochhaus auf... et violà: "High-Rise".
Dann sollen sie doch Kuchen essen
Unten wimmert eine von ihren Kindern und ihrem fremdgehenden Mann überforderte Mutter: "Es ist das Sonnenlicht, um das ich die da oben beneide". Und "die da oben", allen voran der Architekt mit dem vielsagenden Nachnamen Royal? Der antwortet auf die verdutzte Frage, ob das tatsächlich ein Pferd sei, das da in seinem Garten auf dem Dach des Hochhauses umherläuft, mit einem indifferenten "ich glaube schon." Es ist der selbe Mann, der Laing wenig später aus dem banalsten Grund der Welt das Leben retten soll: "Ihr könnt ihn nicht hinunterwerfen, er schuldet mir noch eine Partie Squash!", brüllt er, kurz bevor seine Schläger Hiddlestons Figur aus dem weiß Gott wievielten Stock werfen wollen - weil er sich weigerte, an einem Bewohner mal eben eine Lobotomie (Schnitt ins Gehirn) durchzuführen.
Die überzeichneten Figuren erzeugen oft derart skurrile Szenen, dass man gar nicht umhinkommt, ungläubig zu lachen. Etwa wenn der Verfall auch die oberen Bereiche erreicht hat und das inzwischen eindeutig als Pferd identifizierte Tier als letztes Nahrungsmittel herhalten muss. Doch durch diese erzählerische Willkür lässt einen das Schicksal der Charaktere irgendwann vollkommen kalt.
In Schönheit gestorben
Absolut gar nichts vorzuwerfen hat sich "High-Rise" bei der Optik. Noch nie zuvor wurde der blanke Wahnsinn schöner inszeniert, als in Wheatleys Groteske. Das fängt bei dem Seventies-Look an und hört bei dem psychedelischen Mord und Totschlag auf. Dazwischen wird immer wieder tolle Bildsprache mit einem eindringlichen Soundtrack vermengt. Wenn der voranschreitende Verfall in einer Montage zu den Klängen des ABBA-Covers "SOS" von Portishead gezeigt wird, muss man das Gesehene zumindest aus technischer Sicht bewundern. Leider hält einen das aber nicht davon ab, nach spätestens der Hälfte des Films immer mal wieder auf die Uhr zu schielen. Zwei Stunden sind für derart abgedrehtes Kino einfach zu lang, 90 Minuten wären die bessere Entscheidung gewesen.
Fazit:
Ist "High-Rise" nun quälendes Kino oder anspruchsvolle Filmkunst? So seltsam es klingt, aber er ist beides. Fast entschädigen die wunderschönen Szenen und die allesamt tollen Schauspielleistungen die im Grunde nicht vorhandene Story - aber eben nur fast. "High-Rise" beschäftigt einen noch lange Zeit, nachdem der Abspann über die Leinwand gerollt ist. In erster Linie weil man sich fragt: "Was zum Geier habe ich da gerade gesehen!?" Das werden manche Zuschauer als einzigartiges Erlebnis ansehen, viele aber als verschwendete Zeit abtun.