Tatort "Schock" aus Wien: Schnitzeljagd 2.0

Tatort "Schock" aus Wien: Bibi Fellner (Adele Neuhauser) und Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) müssen einen Mord verhindern, nicht aufklären. © ARD Degeto/ORF/Hubert Mican
Schon wieder ein Immigrant im Tatort! Und dann ist er auch noch in das Verbrechen verwickelt, das Moritz und Bibi im neuen Fall aus Wien beschäftigt. War ja klar. Der junge Mann heißt Kerem, wird von Eisner penetrant "Kermit" genannt und ist zu allem Überfluss der Freund von Tochter Claudia (Tanja Raunig). Die Flüchtlings-Problematik also aufs Private runtergebrochen und erneut ein Film, an dem sich die konservative Ecke reiben wird?
Nein, der Wien-Tatort "Schock" geht in eine komplett andere Richtung. Vielleicht ist es diese Abwechslung, die den Fall so spannend und fesselnd macht, oder aber die ausgefeilte Bildsprache und für den Tatort ungewöhnliche Erzähl-Struktur. Die erste echte Leiche gibt es erst vier Minuten vor dem Ende, bis dahin versuchen Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) gemeinsam mit einem großangelegten Sonder-Stab, das drohende Verbrechen zu verhindern.
Todesursache: Leistungsdruck
Student David Frank (Aaron Karl) hat seine Eltern als Geiseln genommen und droht via Online-Video, sie umzubringen. Die Spur führt Moritz und Bibi zunächst zu Wiener Uni, an der David studiert hat und deren Server er nutzt – mit Unterstützung von Claudias Freund Kerem.
Nach und nach enthüllt die Sonderkommission die Vorgeschichte des Amoklaufes: Davids Freundin Amina hat sich nach einer verhauenen Prüfung das Leben genommen, David macht den unmenschlichen Leistungsdruck für ihren Tod verantwortlich. Seine gefühlskalten Eltern, ein angesehener Professor (Hans Piesbergen) und eine erfolgreiche Anwältin (Silvia Wohlmuth), sieht er als Vertreter dieser Leistungsgesellschaft und will an ihnen ein Exempel statuieren.
Via Livestream legt David den Ermittlern vom Tatort Wien seine gestörte Gedankenwelt dar und dokumentiert die verzweifelten Versuche, ihn zu finden. Die Geiselnahme wird zum Medienereignis, jeder Schritt live im Netz, inklusive Blamagen der Polizei. Schnitzeljagd 2.0.
Winnenden und Erfurt in Wien?
In seinen Monologen bezieht sich David auf Professorin Sarah Adler (Mercedes Echerer), Expertin zum Thema Amokläufe frustrierter Jugendlicher. Werden sich Winnenden, Erfurt, Columbine und Co. in Wien wiederholen? Moritz und Bibi hoffen, über die eigenwillige Wissenschaftlerin an David heranzukommen, doch als sie endlich das Versteck finden, droht die Lage zu eskalieren.
"Wir sind die erste Generation, die es nicht besser haben wird als unsere Eltern" wirft Claudia Eisner an einer Stelle ihrem Vater ins Gesicht. "Schock" ist eine Anklage an die Leistungsgesellschaft, die vor allem junge Opfer fordert. Um erfolgreich zu sein, muss man bis zur Selbstaufgabe und darüber hinaus ackern. Ein entspanntes Studentenleben, wie die Generation von Moritz und Bibi kennt, ist undenkbar.
Sehr intellektuell kommt er daher, dieser Tatort, das ist streckenweise reichlich langatmig. Die psychologische und soziologische Theorie hinter Amokläufen an Schulen wird in ellenlangen Uni-Seminaren ausgebreitet (die in der Realität niemals derart strukturiert ablaufen), Rückblenden zeichnen Davids Weg in die Verbitterung nach. Bisweilen also etwas anstrengend, und nicht zum "Mörder-Raten" geeignet, muss man sich aktiv auf " Schock" einlassen, um in die Handlung einzutauchen.
Dann wird man aber mit tollen Bildern belohnt: Die architektonisch herausragende Wirtschaftsuniversität Wien, der durch und durch technisierte Glaskasten, in dem die Sonderkommission konferiert, als Kontrast die heruntergekommene Fabrikhalle in der sich David verschanzt hat und seine bieder-konservatives Elternhaus – kaum ein Tatort in letzter Zeit war optisch so exquisit.
Dazu wie üblich ein paar Wiener Schmankerln und das Gefühl, Bibi und Moritz schon ewig zu kennen, das macht "Schock" wirklich sehenswert. Und sei es nur aus Abwechslung: Diesen Tatort können wird sehr empfehlen!