Haben wir den wirklich noch gebraucht?
Endlich eine günstige, rein elektrische Alternative. Für alle, denen ein sechsstelliger Betrag für die AMG-Version des EQE zu teuer ist. Mehr Power für weniger als 100.000 Euro gibt es künftig bei Volvo in Gestalt des ES90.
Das neue Modell lässt uns mit einer Frage zurück: Hat es wirklich noch ein weiteres Oberklasse-Modell mit E-Antrieb gebraucht? Hat eine Limousine, die in der Basis schon mehr als 70.000 Euro kostet, in unserer heutigen Welt eine Daseinsberechtigung? Begeben wir uns auf Spurensuche.
Feedback soll man ja nach dem Sandwich-Modell geben. Zunächst etwas Positives, dann konstruktive Kritik und zum Abschluss ein versöhnliches Ende mit Zukunftsausblick. Also, lieber ES90. Sicherheit im Straßenverkehr – für Fahrzeuginsassen, sowie alle anderen Verkehrsteilnehmer – ist ein Wert, der in jedem Lastenheft ganz weit oben stehen sollte. Volvo hat das Thema Sicherheit längst zur Markenidentität gemacht und hebt diese mit der neuen E-Limousine auf ein nächstes Level. "Der sicherste Volvo, den es je gab", ist in den Presseunterlagen zu lesen und auch CEO Jim Rowan bestätigt im persönlichen Gespräch: "Sicherheit ist unser Markenkern."
Umfangreiche Sensorik
Eine beeindruckende Armada an Sensorik soll dieses Versprechen einlösen. Acht Kameras, fünf Radarsensoren, zwölf Ultraschallsensoren und ein Lidarsensor über der Windschutzscheibe überwachen das Geschehen außerhalb des Autos. Mehrere Kameras und Sensoren im Innenraum sind auf den Fahrer gerichtet. Stellt das System Ablenkung oder Müdigkeit fest, erfolgt ein entsprechender Hinweis. Dass eine solche Technik im echten Auto-Alltag manchmal nerven kann, gehört dabei aber auch zur Wahrheit.
Ergonomie und Interieur
Was hingegen als echtes Plus genannt werden darf, ist der vertikal ausgerichtete Zentralmonitor. Denn dieses Format führt dazu, dass die Bedienung der Touchfelder am rechten Außenrand nicht zur Dehn-Übung verkommt (Hallo, Tesla!). Außerdem bleibt sich Volvo im Interieur seiner skandinavisch-kühlen Hochwertigkeit treu.
Dies als gute Nachricht für alle, die um die Eigenständigkeit einer Marke im Mega-Konzern-Konstrukt von Geely gebangt haben. "Volvo ist eine eigenständige Marke, die auch als Einzelmarke an der Börse gelistet ist. Die Geely-Zugehörigkeit bietet uns die Möglichkeit, Synergien dann zu nutzen, wenn wir sie für sinnvoll halten", erklärt CTO Anders Bell.
Prozessoren und Plattform
Das leistungsstarke Herz aller erfassten Sensor-Daten bildet eine zentrale, aus zwei Orin-Prozessoren gebildete Nvidia-Recheneinheit. Das Duo ist in der Lage, 500 Billionen Prozesse pro Sekunde zu verarbeiten. Volvo nennt diesen Unterbau "Superset Tech Stack". Ein Gerüst, von dem alle kommenden Elektromodelle profitieren sollen. Die Fahrzeugarchitektur taufen die Schweden SPA2, und die Kenner unter Ihnen wissen direkt: Das kennen wir schon vom EX90.
Korrekt. Bedeutet im Umkehrschluss, dass auch der ES90 mit E-Auto-Spezifika daherkommt, die das Fahrerlebnis positiv beeinflussen. Da wären beispielsweise die 800-Volt-Technik (ok, die wird im EX90 erst noch nachgeliefert), mehr als 100 kWh große Akkus und leistungsstarke Antriebskonfigurationen zu nennen. Für einen Ladevorgang von 10 auf 80 Prozent gibt Volvo gerade mal 20 Minuten an, sofern die Limo an einem 350-kW-Lader nuckelt.
Die Krux an der Geschichte ist das eingangs bereits angedeutete Preisniveau. Sicher, Volvo versteht sich als Premium-Hersteller. Doch gerade bei Innovationen im wichtigen Bereich der Sicherheit wäre ein Zugang zum breiten Publikum der Grundidee zuträglicher. Denn machen wir uns nichts vor: Es werden nicht tausende ES90 sein, die das Verkehrsgeschehen in absehbarer Zeit positiv beeinflussen. Die gute Nachricht: Volvos CTO Anders Bell hat uns im Interview verraten, dass es erklärtes Ziel des Herstellers sei, all die umfangreichen Sensoren und ADAS-Systeme auch in günstigeren Autos anzubieten.
Mit seinen fünf Metern Länge bringt es der ES90 auf stattliche 3,10 Meter Radstand, von dem insbesondere die Fond-Passagiere profitieren. Mit einem Ladevolumen von 424 Liter und maximal 733 Liter bleibt das große Fahrzeug allerdings trotzdem hinter der Konkurrenz aus München und Stuttgart zurück. Zum Vergleich: Der fünf Zentimeter kürzere EQE verlädt 430 Liter. Und während ES90 und BMW i5 gleich lang sind, packt sich der Bayer 490 Liter ins Heck. Fokus der Raumausnutzung ist im Volvo offenbar die zweite Sitzreihe.
Ausstattungslinien und Preise
Bestellt werden kann der ES90 ab sofort. Die Produktion sill im 3. Quartal anlaufen, ausgeliefert wird dann ab dem 4. Quartal. Den Einstieg bildet die Single-Motor-Variante in der Basisausstattung "Core" für rund 72.000 Euro. Darüber rangieren die Ausstattungslinien "Plus" (ab 76.000 Euro) und "Ultra" (ab 84.000 Euro). Den Vortrieb besorgt jeweils ein Heckmotor mit 245 kW (333 PS), der seine Energie für maximal 650 Kilometer (WLTP) aus einem 92-kWh-Akku zieht. Den Verbrauch gibt Volvo mit 16,1 kWh pro 100 Kilometer an.
Immerhin sieht die Basis nicht nach Basis aus. 20-Zöller, ein High-Performance-Audiosystem und eine 4-Zonen-Klimaautomatik sind unter anderem serienmäßig an Bord. Auch die bereits beschriebenen Sensoren und alle von ihnen gespeisten Sicherheitssysteme gehören zur Grundausstattung. Ebenso eine Wärmepumpe und zwei Ladekabel.
Twin-Motor-Modelle
Das Twin-Motor-Modell mit 330 kW, 106-kWh-Batterie und bis zu 700 Kilometer Reichweite, sowie erweiterter Serienausstattung gibt es ab 89.000 Euro. Wer 5.000 Euro drauflegt, darf sich die Performance-Version mit 500 kW in die geschotterte Auffahrt stellen. Damit ist allerdings die Ausstattung auf einem sehr hohen Niveau. Lediglich für Lacke (jeweils 1.000 Euro), größere Räder (maximal 22 Zoll ab 1.305 Euro), Nappaleder (ab 1.500 Euro), Chrom-Designelemente (360 Euro) und ein paar Komfort-Schmankerl wird ein Zuschlag berechnet.
Und so läuft es bei Volvo ähnlich wie wir es von der S-Klasse kennen. Innovationen werden von oben ins Portfolio gegossen, Daten und Erfahrungen gesammelt und schließlich auf andere Fahrzeugklassen übertragen. Vor dem Hintergrund, dass der ES90 vor allem in China (wo er auch gebaut wird) auf Kundenfang gehen soll, ist auch die Wahl eines Premium-E-Autos als Innovationsträger nachvollziehbar. Schließlich klafft dort, zumindest aus europäischer Perspektive, ein Loch. Die Konkurrenz von BMW (i5) und vor allem Mercedes (EQE) hat offenbar bislang nicht den richtigen Markt-Zugang gefunden. Insofern hat der ES90 einen wichtigen Job.