Leidensweg über 87 Rennrunden
Für George Russell war der zweite Grand Prix von Bahrain die Eintrittskarte in eine goldene Zukunft. Spätestens 2022 wird er in einem Mercedes sitzen. Valtteri Bottas erlebte das schwärzeste Wochenende seiner Karriere. Der Finne bestand darauf, dass er Russell auf den harten Reifen noch eingeholt hätte.
Selten sind zwei Rennfahrer von einem Team unter so unterschiedlichen Vorzeichen in ein Rennwochenende gegangen. Hamilton-Ersatz George Russell hatte nichts zu verlieren. Valtteri Bottas konnte nicht gewinnen. Wäre er vor dem Neuling im Team ins Ziel gekommen, wäre es normal gewesen. Schon ein kleiner Abstand wie in der Qualifikation kam einer Niederlage gleich.
Wenn dann der Teamkollege, der von einem Williams in einen Mercedes springt, ein Rennen wie Lewis Hamilton fährt und man selbst keinen Fuß auf den Boden bringt, dann muss sich der Mann, der seit 2017 im Team ist, fragen lassen, ob er diesen Platz verdient. "Für euch da draußen habe ich ausgesehen wie ein Depp", stellte Bottas sachlich fest, schränkt aber ein: "Wenn man die Details kennt, sieht es anders aus."
Für euch da draußen. Damit sind die gemeint, die das Rennen vor der Glotze sehen und am Ende in den Ergebnissen und im Rennbericht lesen, dass George Russell den Start gewonnen und 59 Runden lang souverän geführt hat. Die miterleben, dass der neue Mann im Team die Reifen besser in Schuss hält, besser überholt und weniger Fehler macht wie der Fahrer, der Auto und Team vorher seit 77 Rennen kennt.
Bottas stand mit dem Rücken zur Wand, als er sein Rennen erklären und seine eigene Leistung mit der des jungen Teamkollegen vergleichen musste. Der Finne kam zu dem Schluss: "Der erste Stint auf dem Medium-Reifen war Mist. Doch dafür gibt es Gründe. Auf den harten Reifen hätte ich George noch eingeholt."
Luft raus bei Bottas nach WM?
Richtig oder nicht: So muss einer denken, dessen Ruf in 72 Stunden mehr gelitten hat als in den vier Jahren davor. Gegen einen Hamilton darf man verlieren. Gegen einen Russell, der fünf Tage vor dem Rennen erst nominiert wird, nicht. Das ruft sämtliche Kritiker wieder auf den Plan, die Bottas von Anfang an für eine Fehlbesetzung hielten. Bottas muss auch zum Selbstschutz an seine These glauben. Alles andere käme einer Aufgabe gleich.
Noch nicht einmal sein Förderer Toto Wolff konnte ihn diesmal in Schutz nehmen. Auf die Frage, warum Bottas von Russell an die Wand gefahren wurde, kam nur die Antwort: "Dafür haben wir im Moment keine Erklärung. Er hat nicht geglänzt. Vielleicht war nach der WM-Niederlage bei ihm die Luft raus."
Dafür kommen immer wieder Fragen, ob man Bottas nicht schon 2021 gegen das Wunderkind austauschen soll. Wolff antwortet diplomatisch: "George hat einen Vertrag mit Williams, wir haben einen Vertrag mit Valtteri. Mercedes hält seine Verträge ein. Deshalb ist das kein realistisches Szenario für den Moment." Der Österreicher entschuldigt sich fast dafür, dass man im August den Vertrag mit Bottas verlängerte. "Man kann immer nur mit den Informationen arbeiten, die man zu diesem Zeitpunkt hatte." Man kann diesen Satz auch als Warnung verstehen.
Rückstand um 3,6 Sekunden verkürzt
Die Presserunde nach dem Grand Prix war für Bottas fast so schlimm wie das Rennen selbst. Er musste erklären, warum er wieder mal den Start versemmelt hat, warum Russell mit seinen Reifen besser haushielt und warum er seinen ersten Boxenstopp um drei Runden hinauszögerte, obwohl dadurch sein Rückstand auf den Teamkollegen von 3,1 auf 8,5 Sekunden anwuchs. Der Start sei zunächst gar nicht so schlecht gewesen, sagt Bottas. "Erst als ich in den zweiten Gang hochschalte, bekomme ich zu viel Schlupf. Das hat mich Vortrieb gekostet." Auch zu dem Beinahe-Dreher beim Beschleunigen in Kurve 2 gibt es eine Geschichte. "Ich habe in den Turbulenzen anderer Autos Abtrieb verloren."
Im ersten Stint spürte der neunfache GP-Sieger, dass er mit der Frontflügeleinstellung einen Fehler gemacht hatte. "Der Flap war eine Stufe zu flach eingestellt. Ich hatte viel Untersteuern in den Kurven 4, 7 und 8 und konnte mich deshalb nicht im Windschatten von George halten. Sobald ich näher als drei Sekunden dran war, habe ich vorne massiv Abtrieb verloren." Das Hinterherfahren, so Bottas, sei auf der Originalstrecke von Bahrain einfacher gewesen. Das deckt sich mit der Aussage vieler Kollegen.
Nach dem ersten Boxenstopp fühlte sich Bottas wohler. Auf den harten Reifen gelang es ihm, die Lücke von 8,5 auf 4,9 Sekunden zu schließen. Bottas ist überzeugt: "Ich hätte ihn noch eingeholt. Auf den harten Reifen war das Auto viel besser ausbalanciert." Kann sein, muss aber nicht. So abgezockt wie dieser George Russell gefahren ist, hat er vielleicht bewusst drauf gesetzt, dass sich der Teamkollege bei seiner Aufholjagd die Reifen kaputtfährt, damit er selbst im Finale noch Reserven hat. Und warum sollte das Hinterherfahren auf den harten Reifen einfacher sein? Wenn Bottas den Rückstand auf unter drei Sekunden gedrückt hätte, hätte er wieder unter den Turbulenzen gelitten.
Sainz klagt über Bottas
Die Frage, ob es am Ende noch ein Duell der beiden Mercedes-Piloten gegeben hätte, wurde nicht beantwortet. Die Boxenstopp-Panne beim Weltmeister-Team machte aus einem Kampf um den Sieg ein Duell um Platz 4. Das Russell Rad an Rad mit einem spektakulären Überholmanöver vor Kurve 7 gewann. Da sah Bottas auch nicht gut aus. Doch sein Gegner fuhr zu diesem Zeitpunkt mit frischeren und weicheren Reifen. Bottas wurde im Reifen.haos die gleiche Garnitur harter Reifen aufgeschnallt, die er eigentlich loswerden wollte. "Diese Reifen sind ein Albtraum", klagte er am Funk, als er Platz um Platz verlor. "Es war schwierig, die Vorderreifen zum Arbeiten zu bringen."
Nach Ansicht der Ingenieure hatten seine Probleme nach dem Re-Start nichts damit zu tun, dass die harten Sohlen nicht auf Temperatur kommen wollten. "Beim Anbremsen von Kurve 4 hat Valtteri ein Rad blockiert. Bis der Reifen sich wieder erholt hat, waren vier Autos vorbei." Der Höhepunkt der Demütigung war, als sich Carlos Sainz über Bottas beschwerte, weil der nicht in der Lage war, Lance Stroll zu überholen. ."ch war schneller als Lance, hatte aber mindestens eine Runde zu lang Bottas vor meiner Nase."
Am Ende kam der bedauernswerte Finne doch einen Platz vor seinem jungen Teamkollegen ins Ziel. Doch dafür kann er sich nichts kaufen. Der Eindruck bleibt, dass ihn ein Aushilfsfahrer nach Strich und Faden entzaubert hat. Bottas kann es gar nicht erwarten, dass er in Abu Dhabi das Bild wieder gerade rücken kann. Insgeheim wird er hoffen, dass Russell auch dort im anderen Mercedes sitzt. "Abu Dhabi ist wieder eine echte Rennstrecke und kein so Mickey Mouse-Kurs. Da kann man als Fahrer wieder den Unterschied ausmachen." Das muss man als Kampfansage an Russell verstehen.