Leclerc top, Vettel von der Rolle

Ferrari verließ Silverstone mit einem dritten und vierten Platz. Und der Erkenntnis, dass momentan nur Charles Leclerc den SF1000 ausquetschen kann. Sebastian Vettel hingegen sucht vergeblich für die Gründe seiner Misere.
Es klingt hart, entsprach in Silverstone aber der Realität: Ferrari war beim Doppelschlag im Home of British Motor Racing ein Ein-Mann-Team. Charles Leclerc sammelte erst einen Podestrang und eine Woche später einen vierten Platz. Beide Ergebnisse fühlten sich für Fahrer und Team an wie ein Sieg.
Auf der anderen Seite der Garage hingen die Mundwinkel nach unten. Erst plagte sich Sebastian Vettel am ersten Silverstone-Wochenende mit Technikproblemen herum, und verlor das Gefühl und Vertrauen. Dann fühlte er sich zwar wohler im Auto, war allerdings immer noch fast eine halbe Sekunde langsamer als der Teamkollege. Vettel stellte nüchtern fest: "Das Auto hat sich am zweiten Wochenende in Silverstone zwar ein bisschen besser angefühlt. Aber im Prinzip habe ich seit letzten Samstag keine Fortschritte gemacht." Die Positionen zehn und zwölf bestätigen es.
Nur ein Punkt für Vettel
Vettel holte in Silverstone einen Punkt in zwei Rennen. Leclerc 27. Und brachte Ferrari im Alleingang auf den dritten Platz der Konstrukteurs-Weltmeisterschaft vor McLaren. Beim GP England überraschte Ferrari mit seiner Fahrzeugabstimmung. Wenig Abtrieb machte dem roten Auto mit der Startnummer 16 Beine. Eine Woche später hatten Racing Point, Renault und McLaren nachgezogen. Ferrari rutschte ab auf den achten Startplatz. Diesmal rang Maranello die Gegner über die Strategie nieder. Leclerc stoppte nur ein einziges Mal. Das brachte ihn um vier Positionen nach vorn, obwohl er auf der Strecke nur ein einziges Auto überholte. Das war der McLaren von Lando Norris.
Die Taktik reifte während des Grand Prix. "Der erste Stint auf den Mediumreifen lief schon ganz gut. Das Tempo passte", erklärte Leclerc. Nur der Start wollte nicht gelingen. Der Monegasse rutschte hinter Alexander Albon und Lando Norris. Im Verkehr schonte der WM-Vierte trotzdem die Reifen und streichelte sie bis zur 18. Runde. Ferrari zog die Mediums von den Radträgern und schnallte die harte Mischung drauf.
Ab diesem Moment lief es noch besser. Leclerc war schneller, als es die Prognosen des Teams vorausgesagt hatten und konservierte trotzdem die Pirellis. "Das Team hatte ein paar Sorgen wegen der Einstoppstrategie. Vor allem mit Rückblick auf die Reifenschäden von letzter Woche. Aber manchmal fühlst du als Fahrer etwas im Auto, was die Ingenieure in den Daten nicht sehen können." Nicht der Computer, sondern der Fahrer lenkt eben das Auto.
Hochzufriedener Leclerc
Das Überholmanöver an Norris und die Boxenstopps der anderen brachten Leclerc zwischenzeitlich auf einen Podestplatz. Mit Sichtkontakt zu Valtteri Bottas auf Platz zwei. "Das hat mich richtig motiviert und einen Extraschub gegeben, tatsächlich durchzufahren." Doch Leclerc musste sich mehr nach hinten orientieren. Lewis Hamilton flog mit frischen Reifen heran, und vorbei. Trotzdem weinte der Jungstar dem verpassten Podest keine Träne nach. Platz vier war das Maximum der Möglichkeiten.
"Vor dem Rennen hätte ich meine Unterschrift unter Platz acht gesetzt. Jetzt sind wir Vierter. Wir müssen verstehen, warum wir im Rennen schneller waren als erwartet. Ich bin gespannt auf die Analyse." Offenbar ist der SF1000 ein Auto, das mit den heiklen Pirellis gut umgeht. Spötter werden sagen: Wer wenig Abtrieb und Motorleistung hat, schont zwangsläufig die Hinterreifen, die im zweiten Silverstone-Rennen wegen der hohen Luftdrücke zum Überhitzen neigten.
Vettel verstand die Welt nicht mehr. Wieder erlebte der vierfache Titelträger ein Wochenende zum Vergessen. Und dann unterlief ihm auch noch ein Fahrfehler direkt nach dem Start. Die ersten Metern liefen eigentlich gut. Der Heppenheimer war bereits auf Höhe des Red Bull von Albon. Doch dann schnitt Vettel in Kurve eins über den Randstein, sodass der rechte Hinterreifen sogar Dreck aufwirbelte, kam zurück auf den Asphalt und verlor die Kontrolle über sein Auto.
Schlupf an der Hinterachse ließ den SF1000 entgleisen. "Ich dachte im ersten Moment, mich hätte einer von hinten getroffen. Ich wurde auf dem Kerb überrascht und habe dann das Auto verloren." Vettel versuchte, seinen roten Rennwagen abzufangen, fing sich einen Gegenpendler ein und wäre beinahe in Carlos Sainz geschlittert. Der Pilot verhinderte den Zusammenstoß, drehte sich auf die Innenseite ein und traf dort beinahe Daniil Kvyat im Alpha Tauri.
Der nächste Dreher
Es war nicht das erste Mal in den letzten Jahren, dass Vettel sich ohne Fremdverschulden aus dem Nichts drehte. Austin 2018 im Zweikampf mit Daniel Ricciardo, Bahrain 2019 neben Lewis Hamilton, Italien 2019 in der Variante Ascari auf der Verfolgung nach Bottas. Um ein paar Beispiele zu nennen. Offenbar wird Vettel in diesen Situationen immer wieder von plötzlichem Strömungsabriss auf dem falschen Fuß erwischt.
Die breiten Autos reagieren sensibel darauf, wenn die Strömung von vorn oder der Seite beeinträchtigt wird. Daniel Ricciardo beschrieb es nach seinem Dreher: "Du verlierst schlagartig einen großen Batzen Abtrieb, wenn ein anderes Auto direkt neben dir ist. Sehr schnell und ohne Vorwarnung. Das erwischt dich auf dem falschen Fuß, wenn du etwas zu hart aufs Gas steigst am Kurvenausgang." Kritiker werden einwerfen: Das muss Vettel eigentlich wissen, nachdem es ihm schon mehrmals passiert ist. Manchmal hat man das Gefühl, er steigt so aufs Gas wie zu Zeiten, als der angeblasene Diffusor das Heck wie Harz auf dem Asphalt kleben ließ.
Es half auch nichts, dass Vettel mit mehr Anpressdruck als Leclerc fuhr, um ihm wenigstens etwas mehr Vertrauen für das Auto zu geben. Zu viel Flügel konnte ihm Ferrari nicht geben, sonst wäre der Rennwagen mit der Startnummer 5 bei 81 Volllastanteil verhungert.
Was ist mit Vettel?
Vettel hat in seiner Karriere zweimal in Silverstone gewonnen und fuhr hier zweimal auf die Pole-Position. Er weiß also, wie man ein Auto auf dem 5,891 Kilometer langen Kurs schnell bewegt. Doch seit 2019 steht er auf Kriegsfuß mit der Highspeed-Rennstrecke. Schon im letzten Jahr entzauberte ihn Leclerc im Home of British Motor Racing. Damals verlor Vettel die Zeit vor allem im den schnellen Kurven, weil er das Heck nicht spürte. Es fehlte Vertrauen, den damaligen SF90 in die Kurven zu werfen, um Speed bis zum Scheitelpunkt mitzunehmen. Vettel ist einer, der ein stabiles Heck braucht.
Diesmal gab Vettel an, dass er insbesondere in langsamen und mittelschnellen Kurven hinterherhinke. Das deckte sich allerdings nicht ganz mit den Eindrücken von Experten und den Sektorzeiten. Offenbar drückte der Schuh auch in den schnellen Kurven wie Maggotts, Becketts, Stowe oder Copse.
Da stellt sich die Frage: Wieso kommt der junge Teamkollege so gut mit den schnellen Kurven zurecht und Vettel weniger. Entweder im Auto des Heppenheimers steckt irgendwo der Wurm – im Chassis zum Beispiel – oder Leclerc hat bei hohen Geschwindigkeiten einen speziellen Trick, das nervöse Auto durchzubringen. Vielleicht liegt in schnellen Kurven eine der großen Stärken Leclercs – Kopf ausschalten, durchziehen.
Es ist jetzt nicht so, dass Vettel bislang kein Land gegen den Teamkollege gesehen hätte. Für das Debakel zum Saisonauftakt gibt es eine Erklärung: "Da war etwas mit den Bremsen faul", äußerte Vettel in Silverstone. Beim GP Steiermark schoss ihn der Teamkollege nach drei Kurven ab. In Ungarn war Vettel in der Qualifikation einen Tick schneller. Im Rennen stand Leclerc völlig auf verlorenem Posten. Am Hungaroring wird mit maximalem Anpressdruck gefahren. So wie in Barcelona am kommenden Wochenende. Wenn es dort wieder gegen Vettel läuft, wird der 53-fache GP-Sieger noch mehr grübeln.
Die teaminterne Harmonie zwischen Pilot und Chef scheint inzwischen gänzlich verflogen. Vettel klagte, Ferrari habe ihn mit einem frühen ersten Stopp mal wieder unnötig in den Verkehr geschickt. Binotto widersprach: "Sebastians 12. Platz war das Ergebnis seines Drehers in der ersten Kurve. Ich denke nicht, dass wir strategisch etwas hätten besser machen können in einem Rennen, in dem es weder viele Ausfälle noch Safety Cars gab." Immerhin meinte der Teamchef noch: "Wir müssen alles tun, um sicherzustellen, dass auch Sebastian sein Talent nutzen kann, um das Potential des Autos auszuschöpfen."