McLaren beweist Mut mit neuem Auto
McLaren hat mit seinem MCL35 mehr als eine Pflichtübung im letzten Jahr des alten Reglements abgeliefert. Das mutige Design unterstreicht die Forderung von Teamchef Andreas Seidl. McLaren hat letztes Jahr Blut geleckt.
Wer jemals im McLaren Technology Center war, der hat gelernt: Es ist unheimlich schwer in das Gebäude zu kommen und genauso kompliziert, es wieder zu verlassen. Das MTC war das erste Weltraumlabor der Formel 1. Es steckt weit mehr hinter der modernen Fassade des Architekten Sir Norman Foster als man von außen vermuten mag. Der ganze Komplex ist untertunnelt und verzweigt sich in zahllose kleine und große Räume. In diesen Katakomben erblickte auch der neue McLaren MCL35 das Scheinwerferlicht. Natürliches Licht schafft es nicht in McLarens Unterwelt.
Der MCL35 ist ein erstaunlich mutiges Auto. Erstaunlich deshalb, weil die McLaren-Ingenieure unter der Leitung von James Key mit einigen alten Konstruktionsmerkmalen aufräumen, obwohl die Saison 2019 mit dem vierten Platz in der Konstrukteurs-Wertung besser gelaufen ist als erwartet. Die Nase hat keine Löcher mehr, die Seitenkästen sind vorne schon so schmal, dass sie hinten kaum noch Einzug brauchen, der Bereich unter dem Chassis wurde weiter entrümpelt.
Gleichzeitig bleibt McLaren auch einigen charakteristischen Designmerkmalen treu. Dem Chassis, das sich auf Höhe der Vorderachse verbreitert. Der Airbox, die am Kamm lange gerade verläuft, bevor sie nach unten abfällt. Den Aufhängungen, deren obere Querlenker vorne wie hinten extrem hoch angebracht sind und am Radträger nach unten gelenkt werden.
Optimismus und Realismus
Eine Verschnaufpause einlegen, um sich früh auf das so wichtige Jahr 2021 zu konzentrieren, kam für die Teamleitung von McLaren nicht in Frage. „2020 beginnt alles wieder bei null. Wir wollen unseren positiven Trend fortsetzen“, erklärte Teamchef Andreas Seidl. Ein Rückschritt oder Stagnation würde schon aus psychologischer Sicht den Plan beschädigen, mit dem McLaren zurück zu alten Erfolgen will. „Wir haben 2020 den Fall der Jahre davor gebremst. Jetzt soll es wieder aufwärtsgehen“, fordert McLaren-Chef Zak Brown.
50 Jahre nach dem Tod von Firmengründer Bruce McLaren hat sich das Team neu aufgestellt, konsolidiert und wieder Blut geleckt. Diese positive Stimmung wollen die Chefs in die neue Ära der Formel 1 mitnehmen. Ein schlechtes Jahr wäre störend.
Wie viel sich bei McLaren geändert hat, zeigt sich auch auf der Außenhaut des Autos, die der neuen alten Hausfarbe Papaya-orange etwas mehr Blautöne gönnt. Insgesamt 38 Sponsoren und Partner zahlen in die McLaren-Kasse ein. Da gab es vor zwei Jahren noch deutlich mehr freie Flächen auf der Verkleidung.
Dazu kommt noch der vierte Platz, der rund neun Millionen Dollar mehr einbringt als der sechste im Jahr 2018. Am Geld wird es ohnehin nicht scheitern. Die beiden Großaktionäre der Firma haben sämtliche Investitionen in die Zukunft bereits abgenickt. In den nächsten zwei Jahren entstehen ein neuer Windkanal und ein neuer Fahrsimulator. Eine bessere Boxenausrüstung gibt es schon in dieser Saison. So soll die Zahl der Boxenstopp-Pannen minimiert werden.
Andreas Seidl spricht beim Blick in die Zukunft von „Optimismus und Realismus“. Er weiß, dass es unrealistisch ist, schon in diesem Jahr die Lücke zu den Top-Teams zu schließen. Aber sie muss kleiner werden. Er weiß auch, dass es keine Garantie für Platz vier gibt. „ Das Mittelfeld wird weiter hart umkämpft sein.“ Doch der neue McLaren soll wenigstens aus eigener Kraft um den Titel der Formel 1. mitfahren können.
Dabei setzt Seidl auch auf seine zwei Fahrer. McLaren hat sich bewusst für die Verjüngungskur im Cockpit entschieden. Carlos Sainz und Lando Norris stehen bei Brown und Seidl hoch im Kurs. „Beide haben das Potenzial zum Top-Fahrer. Jetzt ist wichtig, dass wir ihnen ein Auto geben, mit dem sie weiter vorne fahren und mit uns wachsen können.“
Norris und sein Baby
Sainz tauchte jeden Mittwoch in der Fabrik auf, um den Aufbau des Autos zu beobachten und mit den Ingenieuren zu sprechen. Der Spanier hofft, dass sein Podium beim GP Brasilien dem Team noch einen Extra-Schub Motivation gegeben hat. Gleichzeitig warnt er: „ Wir können uns jetzt nicht zurücklehnen und einfach auf 2021 warten. Wir müssen auf dem aufbauen, was wir letztes Jahr geschaffen haben.“
Sainz wird dabei noch mehr Gegenwind aus dem eigenen Haus spüren. Lando Norris ist in diesem Jahr kein Rookie mehr. Der 20-jährige Engländer hat sich viel von seinem erfahrenen Teamkollegen abgeschaut: „Dank Carlos ging der Lernprozess schneller.“
Sainz attestierte dem neuen Auto schon optisch bessere Rundenzeiten: „Es ist schlanker, kompakter, schnittiger.“ Norris erkennt, dass viele Details in das Design eingeflossen sind, die im Austausch beider Fahrer mit den Ingenieuren im letzten Jahr zur Sprache kamen: „Deshalb fühlt sich dieses Auto für mich ein bisschen wie mein eigenes Baby an.“ Sagt einer mit 21 GP-Starts in der Vita.