Darum war Vettels zweiter Stopp sinnlos
Auf der Rennstrecke ging nicht viel. Der GP Emilia-Romagna zählte nur zehn Überholmanöver. Umso wichtiger war das Boxenstopp-Timing. Beim ersten ging es um den Zeitpunkt, beim zweiten darum, ob nötig oder nicht. Sebastian Vettel kostete ein Ferrari-Fehler einen WM-Punkt.
Imola hat sich mit seinem Umbau 1995 keinen Gefallen getan. Die Rennstrecke wurde sicherer, aber auch schlechter, um dort Rennen zu fahren. Daran änderte auch das Auslassen der Schikane vor Start und Ziel nichts. Die Zielgerade hat zwar mit 1.125 Metern die richtige Länge, die DRS-Zone war mit 750 Metern üppig bemessen, und doch kam es nur zu zehn Überholmanövern in 63 Runden. Das ist absoluter Tiefststand in dieser Saison.
Schuld ist im Wesentlichen die geringe Streckenbreite. Sie macht es dem Verteidiger auf der Zielgerade nicht nur leicht, sein Auto möglichst sperrig zu platzieren. Sie sorgt auch dafür, dass es auf dem Rest der Strecke kaum möglich ist, einem anderen Auto zu folgen. "Wegen der schmalen Straße kannst du nicht versetzt fahren und saubere Luft suchen", erklärt Daniel Ricciardo.
Wer im Verkehr steckte, musste doppelt Steine fressen. Er kam nicht vorwärts und ruinierte sich die Reifen. Valtteri Bottas verlor wegen des Ferrari-Frontflügels in seinem linken Leitblech fünf bis sieben Zehntel pro Runde. Trotzdem konnte der Finne einigermaßen entspannt die Führung behaupten. Weil an Max Verstappens Red Bull die Reifen immer mehr Grip verloren. Der Holländer rutschte in den Turbulenzen zu viel herum. Lewis Hamilton sah schnell die Aussichtslosigkeit der Lage ein und nahm Abstand. Abwarten war besser als Angriff. So ging es vielen im Feld.
Perez gewann fünf Plätze
Und trotzdem kam es beim ersten Reifenwechsel zu Panikreaktionen. Charles Leclerc eröffnete den Reigen der ersten Boxenstopps aus Frust, dass er Daniel Ricciardo 13 Runden lang in den Auspuff schauen musste. Und weil er damit in ein Loch im Feld fiel, in dem er frei fahren konnte. Das zog Lando Norris, Daniel Ricciardo, Alexander Albon und Daniil Kvyat gleich mit. Nur Carlos Sainz behielt die Nerven. Der Spanier blieb vier Runden länger auf der Strecke. Was ihm weder nutzte noch schadete. Er reihte sich danach wieder zwischen Kvyat und seinem Teamkollegen Norris ein. McLaren pokerte mit Medium-Reifen. Alle anderen setzten bei der langen Restdistanz auf die harte Mischung.
Sergio Perez, Sebastian Vettel und Kimi Räikkönen hat es gefreut. Sie hielten auf ihren Medium-Reifen ewig durch und überholten mit jeder Runde, die sie länger auf der Strecke blieben, ihre Gegner, die längst auf frischen Reifen fuhren. Tatsächlich war der alte Medium-Reifen im Schnitt um 0,15 Sekunden schneller als eine frische Garnitur der harten Mixtur. Perez hielt bis Runde 27 durch und kletterte von Platz 10 auf Rang 5.
Vettel kam in Runde 39 an die Box und hätte gegenüber seiner Ausgangsposition vier Plätze gutgemacht, wenn Ferrari nicht beim Boxenstopp geschlampt hätte. Normalerweise kostete ein Reifenwechsel 27,4 Sekunden auf die Rennzeit. Damit wäre Vettel zwischen die beiden McLaren gefallen. Räikkönen hielt bis zur 48. Runde durch. Auch er gewann vier Positionen. Es hätten noch mehr sein können, wenn er drei Runden länger durchgehalten hätte. In der 51. Runde kam das Safety Car.
Auch Hamilton profitierte davon, lange zu fahren. Mercedes war überrascht, dass Verstappen so früh an die Box kam. Doch der einzige Gegner hatte sich hinter Bottas die Reifen kaputtgefahren. Damit wurde er auch zum Schicksal des Finnen. Mercedes musste auf den Boxenstopp von Red Bull reagieren. Bottas hatte wegen des Fremdteils im Auto nicht den Speed, den Undercut abzuwehren. Damit hätte er auch Hamiltons Rennen kaputtgemacht. "Hier zählt nur der Teamerfolg. Wir hätten umgekehrt auch so gehandelt", wehrten die Strategen Vorwürfe ab, Mercedes hätte Hamilton bevorzugt.
Hamilton brauchte ein Polster von mindestens 27,4 Sekunden, um vor Bottas zu bleiben. In Runde 30 betrug sein Vorsprung 28,1 Sekunden. Trotzdem zögerte der Kommandostand. Seit Mercedes wegen Corona-Fällen in der Mannschaft seine Boxenstopp-Crew umstellen musste, rechnet man sicherheitshalber mit einer Sekunde pro Reifenwechsel mehr. Das Warten lohnte sich für Hamilton doppelt. Der gestrandete Renault von Esteban Ocon löste eine VSC-Phase aus. Das schenkte Hamilton beim Boxenstopp zehn Sekunden. Vettel verpasste sie knapp. Deshalb blies Ferrari seinen Boxenstopp kurzfristig wieder ab.
Der Mercedes-Fehler im Training
Welche Rolle spielten die Reifen? Eine größere als man denkt. Der Soft war für das Rennen unbrauchbar. Nicht so schlecht wie in Portugal, aber auch nicht viel besser. Schon nach zehn Runden stiegen die Rundenzeiten stark an. Im Rückblick hätten es im Q2 vielleicht mehr Fahrer riskieren sollen, sich auf Medium-Reifen zu qualifizieren. Der relativ große Zeitunterschied in der ersten Runde von 0,6 Sekunden hielt sie davon ab. Ferrari probierte es richtigerweise, ließ aber wieder davon ab. Diesmal waren die Startplätze 11 bis 15 ein echter Vorteil. Perez hätte es auf das Podium geschafft, wenn er in der Safety Car-Phase nicht an die Box gekommen wäre.
Das Zweitages-Event von Imola, von dem man sich so viel Chaos versprochen hatte, lieferte zwar das übliche Ergebnis ab, und doch zeigt ein Blick hinter die Kulissen, dass der Zeitdruck selbst Perfektionisten aus der Bahn werfen kann. Mercedes verzockte mit seinem Reifenprogramm. Wäre der Vorsprung der Silberpfeile nicht so groß, könnten die anderen Teams solche Fehler auch nutzen. Chefingenieur Andrew Shovlin hatte bereits nach der Qualifikation angedeutet, dass man beim Programm im einzigen freien Training besser Ferrari und Red Bull gefolgt wäre.
Was war passiert? Mercedes traute dem Soft-Reifen zu viel und dem Medium zu wenig zu. Um herauszufinden, ob man sich auf dem Medium-Reifen im Q2 qualifizieren kann, probierten Lewis Hamilton und Valtteri Bottas je einen Satz der mittleren Pirelli-Mischung aus. Ferrari und Red Bull ließen die Finger davon und verfeuerten im ersten Training neben einer Garnitur hart zwei Sätze Soft.
Mercedes reservierte sich die Soft-Reifen für eine Rennsimulation am Ende des Trainings. "Wir hätten merken müssen, dass es sinnlos war. Vor uns ist Kimi den Soft-Reifen gefahren. Die waren nach zehn Runden platt. Wir haben das gleiche festgestellt. Die Reifen haben zu stark gekörnt. Damit kamen sie für das Rennen nicht in Frage", erklärten die Ingenieure.
Damit hatte Mercedes für den Sonntag nur noch einen Satz Medium für den Start übrig. "Das ist keine komfortable Situation, wenn der Soft so schlecht ist, dass du ihn eigentlich nur ganz am Ende nach einer späten Safety Car-Phase gebrauchen kannst. Wenn das Safety Car früher im Rennen kommt, stehst du ohne Medium in der Hinterhand unter Umständen mit leeren Händen da." Das Rennen wollte es so, dass der Safety Car-Einsatz aus Sicht von Mercedes zum idealen Zeitpunkt kam. Das nennt man das Glück des Tüchtigen.
Verstappens Reifen vibrieren
Normalerweise wäre der Grand Prix der Emilia-Romagna für alle ein Einstopp-Rennen gewesen. Der Reifenverschleiß ist in Imola kein Thema. Zum Zeitpunkt des zweiten Stopps waren die Reifen bei vielen erst zu 30 Prozent abgefahren. Die Gefahr lauerte anderswo. In dem rauen Asphalt und den Randsteinen am Kurvenausgang. Die provozierten an den Hinterreifen Frequenzen, die sie strukturell beschädigen konnten. Red Bull sprach zwar bei Max Verstappens Reifenplatzer in einer Schnelldiagnose von einem Trümmerteil, doch die Fernsehbilder sagen etwas anderes. Da sieht man ganz klar, dass sich der rechte Hinterreifen kurz vor der Villeneuve-Schikane an der Innenschulter auflöst. Kurz vorher beginnt der Reifen sichtbar zu eiern, was von einer Unwucht herrühren musste.
Lewis Hamilton hätte es kurz später womöglich auch erwischt. Der spätere Sieger berichtete seiner Box von Vibrationen an der Hinterachse. Mercedes konnte an den Daten erkennen, dass sie von den Reifen stammten. "Wenn die Vibrationen eine bestimmte Stärke erreicht hätten, hätten wir Lewis an die Box geholt, auch wenn er dadurch das Rennen verloren hätte. Nach dem Unfall von Max war für uns klar, dass wir beide Autos aus Sicherheitsgründen stoppen, auch wenn bei Valtteri alles in Ordnung war. Wir hatten die Luft nach hinten. Das Safety Car hat uns die Aufgabe noch einfacher gemacht."
Für Hamilton kam das SC-Signal denkbar ungünstig, für Bottas, der 24 Sekunden hinter dem Teamkapitän lag, dagegen perfekt. Während Hamiltons Tempo ab der SC2-Linie vom Safety Car bestimmt wurde, konnte Bottas nach seinem Boxenstopp zum Feld aufschließen. Es hätte fast gereicht. Nach Hamiltons Reifenwechsel trennten nur 0,6 Sekunden die beiden Mercedes. Wäre Bottas vorbeigegangen, hätte er das Rennen auch gewonnen. Beim zweiten Stopp hatten die Mechaniker das Ferrari-Teil aus dem Mercedes mit der Nummer 77 gefischt. Damit war auch das Zeithandikap weg.
Kvyat hatte nichts zu verlieren
Im Verfolgerfeld standen die Teams vor der Frage: Stoppen wir für einen Satz weicher Reifen oder behalten wir unsere Position auf der Strecke, und schlagen uns mit abgewetzten harten Reifen die letzten Runden durch? Kvyat, Perez, Sainz, Norris, Vettel und Stroll holten sich auf Befehl der Box frische Reifen ab. Ricciardo, Leclerc, Albon, Räikkönen, Giovinazzi und Latifi blieben auf der Strecke. Welche Taktik besser war, lässt sich so einfach nicht beantworten. Es hing vom Auto und von der Position auf der Strecke ab. Für Ricciardo lohnte sich das Durchhalten genauso wie für Kvyat der Reifenwechsel. Ricciardo wäre bei einem Reifenwechsel hinter Perez auf Platz 4 gelandet. Kvyat hätte ohne Boxenstopp seinen 8. Platz behalten.
Racing Point verteidigte den Reifenwechsel damit, dass ihr Auto auf Reifenschonen abgestimmt war und man Angst hatte, Perez würde die harten Reifen nicht schnell genug auf Temperatur bringen. Was die Racing Point-Strategen nicht ahnen konnten war, dass George Russell mit seinem Unfall die Safety Car-Phase um zwei Runden verlängern würde, was all denen half, die mit den alten Reifen weiterfuhren. Anderseits war Perez als Dritter in einer privilegierten Position. Ricciardo bestätigte das dann. Er musste nicht nach vorne schauen, weil die zwei Mercedes sowieso außer Reichweite waren. Also konnte er sich voll auf die Verteidigung seines Platzes konzentrieren. Alle hinter ihm hatten die doppelte Aufgabe: Angriff und Verteidigung.
Daniil Kvyat und Carlos Sainz hatten mit einem Boxenstopp nichts zu verlieren. Sie gaben zwar zunächst eine Position an Lando Norris ab, behielten aber wegen des Ausfalls von Verstappen ihren Platz. Ihre Taktik machte Sinn. Kvyat hatte beim Re-Start das Glück, dass Alexander Albon geschlafen hat. Das riss Perez gleich mit ins Verderben. Schon auf dem Zielstrich war der Alpha Tauri-Pilot halb an seinen Gegnern vorbei.
Vettel-Stopp ohne Not
Bei Norris muss man dagegen die Frage stellen, ob er nicht besser draußen geblieben wäre. Der Engländer hatte vier Positionen gewonnen, als er mit zwei Runden Verspätung doch noch gebrauchte Soft-Reifen aufzog. Für Albon lohnte es sich nicht, auf der Strecke zu bleiben. Red Bull hätte wissen müssen, dass ihr Sorgenkind Mühe hat, die Reifen schnell aufzuwärmen. Noch dazu solche, die schon 44 Runden alt waren.
Bei Charles Leclerc war es ein Grenzfall. Das Team überließ dem Fahrer die Entscheidung. Leclerc entschied sich für Weiterfahren, obwohl er das Aufwärmproblem seines Ferrari SF1000 kennt. Der Monegasse verlor zwar beim Re-Start eine Position, kam aber trotzdem mit einem blauen Auge davon. Er wäre auch mit einem Reifenwechsel Fünfter geblieben. Dann hinter Perez, aber vermutlich vor Kvyat.
Ganz anders Vettel. Dem hat Ferrari nach dem verpatzten Boxenstopp ein zweites Mal WM-Punkte gestohlen. Vettel lag zwischen den beiden Alfa Romeo. Nachdem Räikkönen auf einen Boxenstopp verzichtet hatte, machte es aus Sicht von Vettel keinen Sinn, auf Soft-Reifen zu tauschen, zumal seine harte Garnitur erst zwölf Runden alt war. Ferrari konnte sich ausrechnen, dass der Deutsche mit dem Stopp hinter Giovinazzi, Latifi und Grosjean fallen würde. Wie sollte er das in sechs Runden jemals aufholen?