Wie weit liegt Mercedes vorne?

Mercedes lässt immer noch nicht die Katze aus dem Sack. Doch so langsam zeigen die Silberpfeile, was möglich wäre. Die Bestzeit ging zwar an Lotus, doch der eigentliche Gewinner war Mercedes. Wir analysieren, wie das Kräfteverhältnis momentan aussieht.
Das Bild wird klarer. Mercedes ist das Team, das es zu schlagen gilt. Auch wenn Lewis Hamilton und Nico Rosberg in 8 Testtagen noch keine einzige Bestzeit geschafft haben. Sieben Tage lang konzentrierte sich der Titelverteidiger auf Longruns und die Absicherung der Zuverlässigkeit. Mit 441 Runden oder 2.053 Kilometern lag Mercedes wie in Jerez auf Platz 1. In den Zeitenlisten dagegen waren sie meistens nur im vorderen Mittelfeld zu finden.
Erst am achten Tag bekamen wir eine Vorahnung, was in dem Mercedes steckt. Nico Rosberg fuhr auf Medium-Reifen eine Zeit von 1.24,321 Minuten. Das war zwar nur die zweitschnellste Runde des Tages, doch wenn man den Reifenfaktor mit einrechnet, dann ist das die heimliche Bestzeit.
Romain Grosjean war bei seiner Runde von 1.24,067 Minuten mit Pirellis Superkleber "supersoft" unterwegs. Das gleiche gilt für seinen Lotus-Teamkollegen Pastor Maldonado am Tag davor. Sebastian Vettel nickte anerkennend: "Nicos Zeit war stark."
Mercedes fährt heimliche Bestzeit
Daniel Ricciardo trug sich am sechsten Testtag mit 1.24,574 Minuten in die Zeitliste ein. Kimi Räikkönen war am gleichen Tag eine Hunderstelsekunde langsamer. Und auch Williams-Pilot Felipe Massa lag mit 1.24,672 Minuten in diesem Bereich. Aber alle drei Zeiten wurden mit der Reifenmischung "soft" erzielt. Die war nach übereinstimmender Aussage 1,4 Sekunden pro Runde schneller als der Medium-Reifen.
Bedeutet diese Rechnung also, dass Mercedes seinen Vorsprung auf die Konkurrenz auf eineinhalb Sekunden ausgebaut hat? Vettel gab an, dass die Bedingungen am letzten Testtag von Barcelona am Nachmittag besser waren als an den Tagen davor. Weil da die Strecke am meisten Grip hatte und der starke Wind vom Vormittag abgeflaut war.
Niki Lauda glaubt nicht an eine einfache Titelverteidigung: "Ich bin überzeugt, dass uns die anderen nähergekommen sind. Wir werden kaum noch einmal so viele Rennen gewinnen wie im Vorjahr." Intern rechnet man bei Mercedes mit einem Vorsprung von drei bis fünf Zehntel.
Ferrari, Red Bull und Williams auf einem Niveau
Die eng gestaffelten Rundenzeiten von Ferrari, Red Bull und Williams deuten an, dass es im Kampf um die Kronprinzenrolle hinter Mercedes ganz eng zugeht. Ferrari bestätigte den guten Eindruck von Jerez, auch wenn man in Barcelona nicht so viele Runden zurückgelegt hat wie erhofft. Mit 345 Runden oder 1.606 Kilometern lagen die Roten diesmal nur auf Platz 6. Ferrari hat sich die Rennsimulationen und Boxenstopp-Übungen für die letzte Testwoche in Barcelona aufgehoben.
Die Fahrer sagen weiterhin, dass sich der neue Ferrari gut anfühle und logisch auf Setup-Änderungen reagiere. Teamchef Maurizio Arrivabene bremste zu großen Optimismus: "Wir bleiben auf dem Teppich. Der gute Eindruck beim Testen bedeutet nicht, dass wir mit Mercedes um den WM-Titel kämpfen werden."
Red Bull hat sich gesteigert. Das Potenzial des Autos steht außer Frage. Und da wird noch einiges kommen. Diese Woche steht der Crashtest mit der kurzen Nase an. Auch sonst soll die Technikertruppe um Adrian Newey noch einiges im Köcher haben. Newey packt seine besten Ideen immer erst kurz vor Saisonbeginn aus.
Aber auch Mercedes bringt nächste Woche neue Teile. Front- und Heckflügel stehen auf dem Programm, dazu eine modifizierte Vorderradaufhängung. Das größte Problem bei Red Bull ist weiter der Motor. "Er hat zwar mehr Leistung, aber die ist nicht gleichmäßig verteilt. Es fehlt noch an Fahrbarkeit", konstatiert Teamchef Christian Horner. Berater Helmut Marko beschwichtigt: "Das kriegen wir mit Software-Änderungen hin."
Lotus ist ein Geheimtipp
Williams demonstriert ein ähnliches Selbstvertrauen wie Mercedes. Das zeigt sich an einem fast identischen Testprogramm. "Die ersten fünf Tage haben wir den langweiligen Part abgespult. Der siebte Tag ging für Boxenstopps drauf. Am sechsten Tag haben wir zum ersten Mal damit begonnen, das Potenzial des Autos auszuloten", erklärte Technikchef Pat Symonds.
Massa jedenfalls strahlte nach der drittschnellsten Zeit vom Freitag. "Das Auto ist richtig gut. Nächste Woche kommen die ganzen neuen Teile. Bis jetzt war es ja fast noch ein halbes Vorjahresauto. Ich glaube, wir werden eine gute Saison haben." Auch Kollege Valtteri Bottas äußerte sich positiv über sein Dienstfahrzeug.
Hinter den drei Anwärtern für Platz 2 folgt ein Pulk von Teams, bei denen die Tagesform entscheiden kann. Den bislang stärksten Eindruck macht Lotus. Pastor Maldonado und Romain Grosjean räumten drei Bestzeiten ab und sie drehten an vier Tagen 361 Runden. Mehr als Ferrari. Die Fahrer lobten ihr Auto und das hohe Maß an Zuverlässigkeit, was nach dem Motorwechsel von Renault zu Mercedes nicht selbstverständlich war.
Die Supersoft-Reifen haben das Ergebnis nur bedingt geschönt. Maldonado legte am Samstag mit der Mischung "soft" eine Runde von 1.24,9 Minuten auf die Bahn. Damit lag er nur vier Zehntel hinter Ferrari, Williams und Red Bull. Bei guter Entwicklungsarbeit könnte das Team aus Enstone in diese Gruppe vorstoßen.
Renault homologiert zahmste Motorvariante
Toro Rosso hat ein gutes Auto gebaut, leidet aber wie Red Bull unter den Defiziten des Renault-Motors. Also schlechter Fahrbarkeit. Wir hören, dass Renault aus Sicherheitsgründen von vier Motorvarianten die zahmste homologieren wird. Das aggressivste Projekt soll dann im Sommer eingebaut werden.
"Dann haben wir einen Großteils des Vorsprungs von Mercedes aufgeholt", hofft Red Bull.Berater Helmut Marko. Die Toro Rosso-Junioren bekamen in Barcelona viel Gelegenheit zum Üben. Max Verstappen kam auf 1.038 Kilometer, Carlos Sainz junior auf 875. Verstappen zeigte bei einem Longrun am vorletzten Tag auch eine erstaunliche Konstanz in seinen Rundenzeiten.
Sauber ist besser aufgestellt als im letzten Jahr, kann aber mit Lotus und Toro Rosso nicht ganz mithalten. Das Auto ist schnell auf der Geraden, hat aber noch zu wenig Abtrieb für die Kurven. Immerhin ist das Paket zuverlässiger. Ein Unfall und ein Getriebeschaden kosteten Fahrzeit. Mit 318 Runden lag Sauber im hinteren Feld.
Ein Gegner wartet noch auf die Eidgenossen. In der nächsten Woche erscheint Force India mit seinem neuen Auto. Der Mercedes.Motor im Heck ist schon mal eine sichere Bank. "Da kannst du dir eine solche Verzögerung wie in unserem Fall noch am ehesten leisten", meint Nico Hülkenberg.
Honda ist eine Elektro-Baustelle
McLaren-Honda bleibt ein Sorgenkind. Nach 350 Kilometern in Jerez hatte McLaren gehofft, in Barcelona mit dem normalen Testprogramm beginnen zu können. Es kamen aber nur 577 Kilometer hinzu. Und ein schwerer Unfall von Fernando Alonso, der für einen vorzeitigen Abbruch sorgte. Die Teamleitung räumte ein, dass man noch nicht einmal 50 Prozent der geplanten Vorbereitung geschafft habe.
Die Elektronikprobleme sind zwar weitgehend gelöst, doch kaum nahm das Auto Tempo auf, zeigten sich die ersten großen Baustellen. Eine Dichtung in der MGU-K trieb die Honda-Ingenieure in den Wahnsinn. Trotz zweimaligem Nachbessern war der Elektroantrieb nicht kugelsicher.
Dafür war Fernando Alonsos Freitagszeit von 1.25,961 Minuten mit gedrosselter Elektro-Power ein echter Lichtblick. Sie hat McLaren gezeigt, dass man ein gutes Auto gebaut hat. Und dass Hondas Sechszylinder über genügend Leistung verfügt. Streckenbeobachter erzählten: "Aus den Kurven raus schiebt der Honda richtig an. Aber dann kommt plötzlich nichts mehr. Als würde plötzlich Saft abgedreht."
Im Hybrid-Zeitalter kommt es auf das perfekte Zusammenspiel des Verbrennungsmotors mit den Elektromaschinen an. Ferrari und Renault haben 2014 ein ganzes Jahr daran geknabbert. Sie hatten allerdings auch nicht wie Honda den Luxus, den Antrieb während der Saison nachrüsten zu dürfen. McLaren wird trotzdem viel Geduld brauchen. Die beiden Weltmeister im Cockpit auch.
In unserer Fotoshow zeigen wir Ihnen noch einmal die Highlights der Barcelona-Testwoche. Darunter auch viele exklusive Bilder, die in unseren Tagesgalerien nicht enthalten waren.