US-Legende Mario Andretti im Interview
Mario Andretti ist der Vielseitigkeitsmeister des Motorsports. Der Amerikaner wurde 1978 Formel 1-Weltmeister, er hat die IndyCar-Serie gewonnen, das Indy 500, die Sportwagen-Klassiker in Daytona und Sebring, den Nascar-Klassiker Daytona 500. Wir haben uns mit dem Amerikaner unterhalten.
Sie wurden 1978 in Monza Weltmeister. An was erinnern Sie sich noch?
Andretti: Es war ein surrealer Moment. Ich wurde an dem Ort Weltmeister, wo ich im Alter von 14 Jahren begonnen hatte davon zu träumen, ein Mal Weltmeister zu werden. Ich habe dort 1954 mit meinem Bruder Aldo meinen ersten Grand Prix und meinen Helden Alberto Ascari gesehen. 1978 hat sich der Kreis auf tragische Weise für mich geschlossen. Ich konnte meinen Titel nicht feiern, weil einer meiner besten Rennfahrerfreunde bei diesem Rennen gestorben war.
Ich habe Ronnie nach dem Unfall noch gesehen. Sie haben ihn gerade aus dem Krankenwagen geholt. Er stand unter Schock. Die Beine sahen schlimm aus. Doch ich dachte mir, dass er wieder gesund wird, vielleicht noch eine Weile lang humpelt. Am nächsten Morgen war er tot. Gestorben an einer Embolie. Ich hörte es im Radio auf dem Weg zum Krankenhaus. Unter normalen Umständen hätte ich gegen das Resultat protestiert. Sie haben mir eine Strafminute wegen Frühstarts aufgebrummt. Sonst hätte ich gewonnen. Es gab nur einen, der zu früh gestartet ist, und das war Gilles Villeneuve. Der war schon auf dem Weg in die erste Kurve, als wir losfuhren. Ich bin nur mit ihm angerollt, habe aber sofort gestoppt. Nach Ronnies Tod hatte das alles natürlich keine Bedeutung mehr.„
An welcher Stelle haben Sie das Rennen 1954 in Monza angeschaut?
Andretti: Wir standen auf der Anfahrt zur Parabolica, ungefähr dort, wo 1961 der Trips-Unfall passiert ist. Eine Tribüne konnten wir uns nicht leisten. Wir standen hinter dem Zaun an einer Böschung. Aldo, ich und ein paar Freunde aus Lucca.
Warum sind Ihnen die Formel 1-Siege wichtiger als die Erfolge in den USA?
Andretti: Viele erwarten, dass ich meine Siege in Indy oder Daytona höher bewerte. Mir bedeuten meine Formel 1-Siege mehr. Dort liegen meine Wurzeln. Mit der Formel 1 ist meine Liebe zum Sport entstanden. Wahrscheinlich, weil ich aus Europa komme. Weil Ascari und Farina die Helden meiner Jugend waren, weil mir die Namen Ferrari, Maserati und Alfa Romeo immer noch in den Ohren klingen wie damals, als wir noch im Flüchtlings-Camp wohnten. Ich habe dann in den USA einen ganz anderen Werdegang gemacht, in StockCars, auf den Sandbahnen. Aber im Hinterkopf hatte ich immer die Formel 1. Ich habe erst vor einem Jahr begriffen, dass ich 1977 meine beidem Heim-Grand Prix in einer Saison gewonnen habe. Zuerst Long Beach, dann Monza. In solchen Momenten wird mir klar, wie gesegnet ich war mit meiner Karriere.
Was waren die Schlüsselmomente?
Andretti: 1965 ging ich als Rookie nach Indianapolis und habe dort Jim Clark getroffen. Er war im Jahr davor Rookie of the Year. Und er hat 1965 das Rennen gewonnen. Ich wurde Dritter. Beim Siegerbankett am Montag nach dem Rennen hat er mir den Rookie-Wanderpokal überreicht. Da sagte ich zu Colin Chapman: Eines Tages will ich Formel 1 fahren. Und wissen Sie, was er geantwortet hat? Wann immer du dich bereit fühlst, rufe mich an. Ich werde ein Auto für dich haben. So hatte ich den Fuß in der Tür. Das war der wichtigste Tag in meiner Karriere.
Ich wusste aber, dass ich dafür mehr Rundstreckenrennen fahren musste. Deshalb habe ich beim USAC viel Lobbyarbeit betrieben, die Serie über die Ovalrennen hinaus auszuweiten. Ich habe ihnen gesagt: Ihr müsst die Zeichen der Zeit erkennen und moderner werden. 1965 gab es nur eine Veranstaltung auf einer normalen Rennstrecke, im Indy Raceway Park. Ich habe dort gewonnen und wollte natürlich mehr davon. Auch aus Eigennutz. Ich wusste, dass ich meinen Kollegen auf der Rundstrecke etwas voraus hatte.
Woher wussten Sie das?
Andretti: 1963 bin ich noch Midget-Rennen gefahren. Auch die Serie hat sich ein Rennen geleistet, das nicht im Oval stattfand. Es war auf der Strecke von Lime Rock. Wir traten alle mit unseren Frontmotoren an. Nur Mark Donohue hatte sein Auto für dieses eine Rennen von John Cooper auf einen Mittelmotor umrüsten lassen. Er hatte zwei Gänge, alle anderen einen. Donohue hatte natürlich einen Vorteil. Er lag bis zur letzten Runde in Führung, ich immer in seinem Windschatten. Auf der Geraden wäre ich schneller gewesen, aber ich musste am Ende immer vom Gas, weil wir sonst mit unserem Eingang-Getriebe den Motor überdreht hätten. Donohue hat mit meinem Angriff gar nicht gerechnet. Ich habe mir eingangs der Zielgerade gesagt: Pfeif auf den Motor, steig aufs Gas, bis er auseinanderfliegt. Kurz hinter der Ziellinie ist er geplatzt. Aber ich hatte gewonnen. Wie gesagt: Ich hätte mit meiner Karriere in den USA zufrieden sein können. Aber meine Leidenschaft hat mich in die Formel 1 getrieben.
Welches Rennen würden Sie gerne noch einmal fahren?
Andretti: Wahrscheinlich alle jene, die am langweiligsten zum Zuschauen waren. Dort wo ich vom Start bis ins Ziel geführt habe.
Was bedauern Sie?
Andretti: Ich bin selbst mein härtester Kritiker. Oft war ich zu ehrgeizig, besonders zu Beginn der Rennen. Da habe ich viele gute Resultate weggeworfen. Diese Erfahrung wollte ich auch meinen Söhnen und meinem Enkel mitgeben. Das Rennen hat mehr als nur eine Runde. Hätte ich damals nur diese Geduld gehabt. Aber ich wollte immer nur Erster sein. Zweiter, das hat mir nichts bedeutet. Ich könnte neidisch werden, wenn ich höre, dass Michael Schumacher 67 Rennen ohne Ausfall geschafft hat. Wäre mir das passiert, wäre ich ein paar Mal Weltmeister geworden. Hätte ich nur damals das alles gewusst, was ich heute weiß. Ich wäre ein viel besserer Rennfahrer gewesen.
Auf welchen Strecken hätten Sie gerne gewonnen?
Andretti: In Monte Carlo und auf dem Nürburgring. Ich bedaure auch, dass ich nie auf dem alten Kurs von Spa gefahren bin. Das war ein echter Klassiker.
Haben Ihnen die Sandbahnen für die Formel 1 überhaupt geholfen?
Andretti: Und wie. Es war wie in der Formel 1 im Regen. Jede Runde auf Sand ist anders. Weil sich die Sandauflage immer ändert. Du lernst, nach dem besten Grip, der besten Traktion zu suchen. Das schult deinen Gasfuß, die Power so einzusetzen, dass du den besten Vortrieb hast. Viele Jahre später in Fuji habe ich gemerkt, welche Vorteile mir diese Schule gebracht hat. Mir ist in einem Regentraining der Motor um die Ohren geflogen. Da habe ich mich in einer engen Linkskurve an die Strecke gestellt und den anderen zugeschaut. Mein Teamkollege Gunnar Nilsson kam jedesmal unheimlich spektakulär angeflogen, hat das Auto in die Kurve gezaubert und ist unter Vollgas mit viel Schlupf immer quer aus der Kurve raus. Es hat gut ausgesehen, war aber langsam. Später sage ich zu Gunnar: Du musst da anders fahren, mit dem Gasfuß den Grip spüren. Er war sofort eineinhalb Sekunden schneller.
Warum sind sie 1970 für March statt für Lotus und 1971 nicht die ganze Saison für Ferrari gefahren?
Andretti: Colin hatte für 1970 andere Pläne. Er wollte Emerson Fittipaldi in die Formel 1 bringen. Da war kein Platz mehr für mich. Andy Granatelli hat March gesponsert und ich war an ihn gebunden. Er wollte, dass ich für ihn für March fahre. 1971 hat mir Enzo Ferrari das Angebot gemacht, im Jahr darauf die ganze Saison für ihn zu fahren. Ich war nach dem GP Deutschland in Maranello und bin mit ihm durch die Fabrik. Er hat zu mir gesagt: Das kann alles deines sein. Fahre für mich nächstes Jahr. Ich musste ablehnen, weil ich in den USA zu gute Verträge hatte.
Firestone wollte, dass ich für sie in der USAC-Serie fahre. Da gab es zu viele Terminkollisionen mit der Formel 1. Herr Ferrari hat mir dann noch seine Serienproduktion gezeigt. Da sehe ich, wie gerade ein Ferrari Daytona fertig wird. Den will ich, habe ich ihm gesagt. Unmöglich meinte er, ich kann keine Straßenautos verschenken. Aber du kannst das Formel 1-Auto von mir haben, mit dem du in Kyalami gewonnen hast. Das wollte ich aber nicht. Heute könnte ich mich dafür erschießen. Es wäre damals eine Leichtigkeit gewesen, mir in die Verträge reinschreiben zu lassen, dass ich mein Rennauto bekomme. Ronnie Peterson hatte in seiner Wohnung in Chelsea einen Lotus 78 an der Decke hängen. Ich hätte mein Weltmeisterauto, den Lotus 79 locker haben können, aber habe Colin Chapman nicht einmal danach gefragt. Ich darf gar nicht daran denken, was die heute wert wären.
Warum sind Sie aus der Formel 1 ausgestiegen?
Andretti: Es gab kein Auto mehr für mich. Ich habe 1981 die falsche Entscheidung getroffen, mehr auf mein Herz als auf meinen Verstand gehört. Marlboro wollte mich haben. Ich hätte für McLaren und für Alfa Romeo fahren können. Hätte ich mich nur für McLaren entschieden. Aber als ich sah, mit welcher Leichtigkeit Giacomelli im Alfa Romeo 1980 in Watkins-Glen geführt hat, war ich überzeugt, dass 1981 ein Jahr für Alfa Romeo wird. Das war ein Fehler. 1981 wurden die beweglichen Schürzen verboten. Um trotzdem den Groundeffect zu nutzen, haben die Teams damit begonnen, ihre Autos bei voller Fahrt hydraulisch abzusenken. Nur Alfa Romeo hat bei dieser Nummer nicht mitgemacht. So sind wir hoffnungslos hinterhergefahren.
Carlo Chiti wollte das nicht. Er hatte Angst, einer könnte protestieren, und Alfa Romeo stünde dann schlecht da. Ich sagte ihm: Das Auto kann Rennen gewinnen. Wir müssen nur das gleiche machen wie alle anderen. Bei einem Test in Paul Ricard haben wir es einmal ausprobiert. Wir sind sofort die zweitschnellste Zeit gefahren. Chiti ließ sich nicht überzeugen. Er drohte zwei Mal mit seiner Kündigung, wenn wir tricksen wie die anderen. Nach dem Jahr waren alle guten Cockpits vergeben.
Sie sind 1982 noch zwei Mal für Ferrari angetreten und standen in Monza prompt auf der Pole Position.
Andretti: Das Rennen in Monza hätte ich gewinnen können. Mir ist der linke Turbolader ausgefallen. Die Turbos in der Formel 1 waren nicht leicht zu fahren. Da war so viel Power, aber alle kam auf einmal. Es war schwer, für die Autos ein Gefühl zu bekommen. Auch in Las Vegas lief es bis zum Ausfall ganz ordentlich. Ich bin 1981 und 1982 mit dem gleichen Problem ausgeschieden. Der untere Querlenker der Hinterradaufhängung brach. Warum, keine Ahnung. Vielleicht, weil die Aufhängung aus den vielen langsamen Ecken raus beim Beschleunigen extrem unter Belastung stand. Der Turbomotor hat digital funktioniert. Immer, wenn die Power eingesetzt hat, war das wie eine Explosion. Das ganze Heck hat vibriert.
Warum haben Sie Ihren Rücktritt vom Motorsport nicht über Nacht beschlossen, stattdessen eine Abschiedstour über eine ganze Saison gemacht?
Andretti: Meine Frau hat mich mal gefragt: Warum hast du deinen Rücktritt so geplant und nicht mit mir darüber gesprochen? Ich hatte 1994 das Gefühl, dass das Team nicht mehr hinter mir stand. Das war für mich das Zeichen zu gehen. Es war der richtige Zeitpunkt. Nichts hält ewig. Vielleicht hätte ich noch ein, zwei Jahre fahren können, aber ich wollte auch nicht in die Situation kommen, wo ich nur noch hinterherfahre. Das ist vielen Rennfahrern passiert, weil sie nicht aufhören konnten. Das bleibt dann in der Erinnerung der Leute hängen. Deshalb bin ich danach nur noch vereinzelt gefahren, wie in Le Mans. Ich war immer von meiner Leidenschaft getrieben, manchmal bis zu dem Punkt der Unvernunft. Diese Passion habe ich nie verloren. Ich war mit vollem Herzen Rennfahrer und wollte nie etwas anderes sein.
Schauen Sie sich noch Formel 1-Rennen an?
Andretti: Natürlich. Und ich habe wieder mehr Spaß daran. Die Autos sehen einfach großartig aus. Man muss sich nur den Halo wegdenken. Der ist furchtbar. Ich bin wirklich für Sicherheit, aber die muss auch in 100 Prozent garantiert sein. Mit dem Halo kann es Unfallszenarien geben, die für den Fahrer nachteilig ausgehen. Aber die Rennen sind großartig. Mercedes hat mit Ferrari wieder einen echten Gegner, und dann ist da noch der Störenfried Verstappen mittendrin. Er ist ein unglaubliches Talent. Es macht Spaß, ihm zuzuschauen. 2018 haben Ferrari und mein Freund Vettel zu viele Fehler gemacht.
Sind Sie Vettel-Fan?
Andretti: Ich mag Sebastian. Er steht mit beiden Beinen am Boden. Ein guter Junge, immer bescheiden geblieben. Bei ihm spürst du die Leidenschaft für den Sport. Auch für Ferrari. Das ist nicht nur so dahingesagt. Er liebt Ferrari.
Muss Motorsport technisch etwas für die Serie abwerfen oder sollte man die Technik promoten, die den besten Rennsport garantiert?
Andretti: In einer perfekten Welt willst du beides haben. Die Automobilhersteller müssen wahrscheinlich daran glauben, dass der Motorsport technisch etwas für die Serienentwicklung abwirft. Nur so können sie ihre Investitionen in den Motorsport rechtfertigen. Sie sind nicht nur wegen des Sports in dem Sport. Es muss für sie wirtschaftlich Sinn machen. Echte Motorsportfans, und zu denen zähle ich mich, denken anders. Ich liebe es der Musik eines hochdrehenden Saugmotors zuzuhören. Das ist wie eine Oper für mich. Die modernen Motoren sind dagegen Country Musik. Der Lärm, das hat uns gefesselt.
Ich stand als Kind einmal außerhalb der Rennstrecke von Trenton und hörte nur die Motoren der Autos. Da war mir klar: Ich muss da rein. Noch ein Geschichte. Als Andy Granatelli 1967 mit der Gasturbine in Indianapolis aufgekreuzt ist, gab es fast einen Glaubenskrieg. So faszinierend diese Autos waren, sie machten keinen Lärm. Das einzige, was du gehört hast war ein fauchendes “ woosch„. Es gab Leute, die die Turbinen verbieten wollten. Sie hatten Angst, die Zuschauer würden rebellieren, wenn da 33 Turbinen in Indy rumfahren. Die Fans haben den Sound der guten alten Offenhauser-Motoren geliebt.
Und wie ist es heute? Motoren, die 18.000/min drehen, nennt man Dinosaurier. Das ist nicht fair. Du lernst auch als Hersteller etwas von diesen Motoren. Um sie so hoch drehen zu lassen, musst du die innere Reibung reduzieren. Das wiederum hilft beim Benzinsparen. Egal, welcher Motortyp. Da hat der Sport ganz klar eines seiner Alleinstellungsmerkmale verschenkt. Auch Turbomotoren können großartig klingen, wenn man die Drehzahl erhöht. Ich erinnere mich an IndyCar-Turbomotoren in der 80er und 90er Jahren. Das war ein wilder, rauer Sound. Das Geräusch, dass die aktuellen Formel 1-Motoren machen, hört sich eher nach Traktor an. Es ist gut, dass man die Motoren 2021 lauter machen will.
Wären Sie gerne Teamchef?
Andretti: Das hat mich nie interessiert. Ich war immer Rennfahrer mit Herzen. Mich hat das Fahren getrieben. Teambesitzer, nein danke. Wenn mir morgen einer ein Formel 1-Team anbieten würde, müsste ich ihm sagen: Kein Interesse. Lass mich irgendwas fahren. Mein Sohn Michael ist da ganz anders. Er ist vom Wunsch beseelt, dem Sport auf diese Weise erhalten zu bleiben. Für Michael ist Motorsport ein Geschäft. Er glaubt, dass es für ihn auf dem Gebiet keine Grenzen gibt.
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