„Würde Track Limits ignorieren“
Franz Tost ist ein Mann klarer Worte. Im Interview sprechen wir mit dem Alpha-Tauri-Teamchef über ungenutzte Möglichkeiten, die Parallelentwicklung zwischen 2021er und 2022er Auto, den Motorenvergleich Honda gegen Mercedes, die leidige Diskussion um Track Limits und das Fahrergehalt der Zukunft.
Man hat das Gefühl, Ihr Team hat bislang zu wenig aus den Qualitäten des Autos gemacht. Würden Sie der Einschätzung zustimmen, dass es an der Umsetzung mangelt?
Tost: Ja, das stimmt. Wir haben in diesem Jahr ein sehr gutes Autos, konnten es aber aus verschiedenen Gründen nicht so ausnutzen, wie wir es uns vorgestellt haben. Da kommen verschiedene Fehler zusammen, teilweise im operativen Bereich, als wir zum Beispiel Pierre (Gasly) in Imola die Regenreifen statt der Intermediates mitgegeben haben. In Portimao haben wir Fehler mit dem Setup gemacht – sowohl was die Aerodynamik betrifft als auch den mechanischen Bereich. Es gab dazu Unfälle. Summa summarum haben wir weniger herausgeholt, als ich mir erwartet habe.
Kann es daran liegen, dass das Team manchmal zu viel will, zu hoch hinaus will, statt die sichere Karte zu spielen. Wie in Imola zum Beispiel.
Tost: Die Situation in Imola kam so zustande, dass Pierre gesagt hatte, er wolle die Vollregenreifen haben. Wir als Team hätten reagieren müssen. Der Fahrer hat die letzten Eindrücke im Kopf. Aber zwischen den Runden in die Startaufstellung und dem eigentlichen Start vergehen nochmals 20 Minuten. In dieser Zeit hat die Strecke aufgetrocknet. Der Fahrer hat die Strecke nicht unter Kontrolle. Er kennt die Verhältnisse auf der Start-Ziel-Geraden. Da muss das Team einschreiten und sagen: Es hat keinen Regen mehr gegeben, die Strecke ist für die Full Wets nicht nass genug, wie müssen die Intermediates nehmen. Pierre hätte in dem Fall zu 100 Prozent sein Einverständnis gegeben. Das war ein Team-Fehler.
Hat das Team die Entwicklungsziele über den Winter erreicht?
Tost: Ich denke schon. In der Formel 1 gibt es aber immer "ein Weiter". Das heißt, wenn man sich ein Ziel gesetzt hat, denkt man nachher: "Wir hätten noch das und das machen können." Die Zufriedenheit ist nie gewährleistet. Wir haben einen akzeptablen Job gemacht. Ich würde nicht sagen, wir haben einen sehr guten gemacht. Aber es geht.
Wie würden Sie die Stärken und Schwächen des Autos charakterisieren? Gasly hadert mit dem Fahrverhalten in langsamen Kurven.
Tost: Nach wie vor schwächeln wir in den langsamen Kurven. Das Auto untersteuert. Im Scheitelbereich der Kurve hat es nicht die Stabilität, die notwendig ist, um es zu rotieren und dann wieder früh aufs Gas zu gehen. Da verlieren wir zu viel Zeit. Der Fahrer lenkt ein, das Auto untersteuert, es kommt zu einem sogenannten "Wash-out". Es schiebt über die Vorderachse weg. Erstens verliert man dadurch Zeit. Zweitens ist man nicht mehr auf der Ideallinie, um möglichst früh das Auto in die neue Richtung zu lenken. Das sind ganz entscheidende Hundertstelsekunden.
Sind McLaren und Ferrari nach Punkten schon zu weit weg?
Tost: Nein, die Saison ist noch jung. Aber Punkte, die man in den ersten Rennen verschenkt hat, holt man schwer auf. Aber auch bei denen wird nicht alles reibungslos laufen.
Hat Alpha Tauri schon komplett auf ein 60-Prozent-Modell im Windkanal umgestellt?
Tost: Ja.
Gab es Korrelationsprobleme? Viele Teams haben in den letzten Jahren darüber geklagt, vor allem seit die Autos breiter sind.
Tost: Da sind wir nach wie vor dabei. Das ist ein aufwändiger und komplizierter Prozess, der sehr lange Zeit in Anspruch nimmt. Es dauert sicher noch, bis wir den 60-Prozent-Windkanal in Bedford einhundertprozentig verstehen. Da sind wir noch weit von entfernt.
Wie wichtig war es, die Umstellung mit dem alten, bekannten Auto gemacht zu haben, und nicht erst mit dem völlig neuen 2022er Modell?
Tost: Es war sehr wichtig, dass wir das diesjährige Auto bereits mit dem 60-Prozent-Windkanal-Modell gebaut haben, damit wir anhand der Messdaten feststellen können, wie die Korrelation aussieht. A.) zum CFD und B.) zur Rennstrecke. Dann können wir Rückschlüsse zu 2022 ziehen.
Steht der AT02 noch im Windkanal.
Tost: Ja, wir sind damit noch im Windkanal. Wir werden schauen, ob wir noch irgendwelche Verbesserungen anbringen können. Je länger die Saison dauert, desto mehr konzentriert man sich auf das neue Jahr.
Warum schwenken Sie nicht komplett auf das 2022er Auto um? Das könnte Ihnen einen großen Vorteil verschaffen. Und die Parallelentwicklung unter dem Budget-Cap ist ja schon anspruchsvoll.
Tost: Das ist sie. Aber man will die laufende Saison nicht einfach aus der Hand geben. Ich denke, dass unsere unmittelbaren Gegner auch noch weiterentwickeln. In der Formel 1 kann man ohne Weiterentwicklung sehr leicht ins Hintertreffen geraten.
Gibt es schon einen fixen Punkt, wann man das 2021er Auto in die Ecke stellt?
Tost: Nein, das ist noch offen. Je länger die Saison dauert, desto mehr Ingenieure werden umgesattelt.
Wie entwickelt sich Tsunoda?
Tost: Yuki macht einen sehr guten Job. Ich bin sehr zufrieden mit ihm, auch wenn er in Imola diesen Ausritt in der Qualifikation hatte. Das ist ein normaler Lernprozess, den man einem jungen Fahrer zugestehen muss. Was ist ihm da passiert? Er hatte zwei persönliche Bestzeiten in den ersten Abschnitten. In Sektor drei hat er es übertrieben. Er weiß das jetzt. Ich denke, das wird ihm nicht mehr passieren, vor allem, weil es im ersten Run in Q1 passiert ist. Das Auto war gut genug für die Top 10. Da hätte er nicht so viel riskieren müssen. Aber noch einmal: Das ist ein Lernprozess, den man ihm zugestehen muss. Grundsätzlich liefert er gute Arbeit ab. Ich bin wirklich sehr zufrieden, weil er einen sensationellen Speed hat, und er sich auch sehr gut weiterentwickelt.
Wie sehen Sie den Honda-Motor?
Tost: Fantastisch. Honda hat einen sehr guten Job gemacht über den Winter. Und auch letztes Jahr. Sie haben sowohl von der Performance als auch von der Haltbarkeit extrem aufgeholt. Es ist wirklich jammerschade, dass sie jetzt aufhören, weil sie ein wirklich tolles Niveau erreicht haben. Wenn man da konzentriert weitergemacht hätte, glaube ich, dass der Motor früher oder später zu Mercedes aufgeschlossen hätte oder sogar besser wäre.
Momentan liegt Honda hinter Mercedes, oder?
Tost: Das kommt auf die Strecke an. Und es kommt auf das Power-Unit-Management an. Das heißt, wie die einzelnen Aggregate eingesetzt werden, also die MGU-K, MGU-H, der Motor und vor allem die Batterie. Ich denke, dass Mercedes da nach wie vor die Messlatte ist.
2022 gibt es komplett neue Autos. Was kann Alpha Tauri da noch von Red Bull übernehmen?
Tost: Wir werden alles, was vom Reglement her möglich ist, von Red Bull Technologies übernehmen. Das ist das Getriebe, die komplette Hinterachse und viele Teile der Vorderachse – vielleicht sogar die ganze. Das hängt ein bisschen damit zusammen, wie sich die Mechanik weiterentwickelt. Das ist eine Entscheidung, die von Seiten der Techniker getroffen wird.
Also eigentlich wie gehabt.
Tost: Ja, die Teile bleiben gleich. Das einzige, was sich ändert, ist, dass es für uns wesentlich teurer wird, weil wir neue Teile beziehen. Bis jetzt haben wir immer die des Vorgängermodells übernommen.
Was steckt man sich für ein Ziel für 2022?
Tost: Es ist meines Erachtens nicht möglich. Es ist schon schwer, nach den ersten Rennen was zu sagen. Jetzt schon gar nicht.
Es gibt so ein paar Stimmen im Fahrerlager, die sagen, es ist gar nicht so gut, dass sich 2022 alles ändert, weil die Teams in dieser Saison so nah zusammengerückt sind, und unter dem bestehenden Regelwerk vielleicht im nächsten Jahr nicht mehr so nah zusammenliegen würden. Wie sehen Sie das?
Tost: Das ist logisch. Je länger und stabiler ein Reglement ist, desto enger kommt das Feld zusammen. Kombiniert mit dem Cost-Cap, denke ich, dass Wettbewerbsvorteile der drei Topteams etwas verloren gehen, weil sie nicht mehr so viel entwickeln können. Aber das will man ja auch mit den neuen Autos von 2022 bis 2025 erreichen. Dass da kaum noch größere Weiterentwicklungen erfolgen. Das werden wir sehen. Noch ist es zu früh zu diskutieren. Aber wenn man 2022 feststellt, dass die Autos zusammen sind, wird man sicherlich die Weiterentwicklung möglichst auf Sparflamme akzeptieren.
Generell kann man schon davon ausgehen, dass die Abstände wieder größer werden, weil es eine so andere Spielwiese ist. Oder sind die neuen Regeln so restriktiv?
Tost: Nein, ich glaube, dass 2022 die drei Top-Teams weiter den Ton angeben. Warum? Sie können bis Juni weiter aus dem Vollen schöpfen. Das ist ein Riesenvorteil von der Manpower, vom Knowhow. Ich denke nicht, dass sich da die Lücke groß schließen wird. Bei den anderen wird man sehen, wie gut gearbeitet wird, und wo man bei der Performance herauskommt.
Sie meinen bis Juni, weil es eine Übergangsphase für den Budgetdeckel gibt?
Tost: Ja.
Wie sehen Sie die Diskussionen um Track Limits? Gibt es da überhaupt eine vernünftige Lösung, einen Königsweg?
Tost: Ich würde sie ignorieren. Wenn jemand einen Vorteil erarbeitet, weil er abseits der Strecke überholt, das ist inakzeptabel. Ansonsten würde ich von diesen Strafen absehen. Es kommt nämlich häufiger vor, dass einer die Track Limits überschreitet, Zeit verliert, nichts gewinnt. Das irritiert die Zuschauer vor dem TV. Ich habe einige Freunde, die mich anrufen, und sagen: "Hört auf damit, da blickt keiner mehr durch, das stört."
Die Strecken sind aus Sicherheitsgründen so ausgelegt. Ein Kiesbett zurückzubringen, ist nicht ohne, weil die Gefahr groß ist, dass sich ein Fahrzeug dort überschlägt. Wenn man Strecken wie Bahrain hernimmt, oder Portimao, jeweils die vierte Kurve: Da hat kein Fahrer diese Vorteile erzielt, die es rechtfertigen, so einen Aufwand zu betreiben und es – sage ich mal – so ins Zwielicht zu rücken.
Verstappen hat in der Qualifikation von Portugal das Auto fast verloren und nur deshalb die Limits überschritten.
Tost: Er hat das Auto fast verloren wegen Seitenwind. Was dann noch dazu kommt: Er hat Zeit verloren. Wenn das Auto in diese Rutschphase kommt, und dazu noch von der Ideallinie weg – da verlierst du Zeit. Es gibt nur ganz wenige Kurven, wo der Fahrer etwas gewinnt. Aber das tun dann alle. Also, was soll’s.
Thema Fahrergehälter. Da soll es ja einen Deckel geben. Es heißt: zwei Fahrer, maximal 30 Millionen US-Dollar zusammen. Wofür plädieren Sie?
Tost: Generell bin ich für ein Limit für die Fahrergehälter. Wir haben eine Obergrenze für das Chassis. Wir werden eine beim Motor haben. Wieso sollte es für den Fahrer keine geben? Das Problem ist ganz einfach: Wie kontrolliert man so etwas? Man könnte sagen, die Fahrer müssen den Einkommens-Jahresausgleich zeigen. Das ist in allen Staaten, wo es vom Finanzamt kontrolliert ist, möglich, in Monaco aber nicht. Oder in anderen Staaten, wo es diese Besteuerung nicht so gibt. Deshalb ist die Kontrolle für mich das größte Fragezeichen.
Klingt kompliziert.
Tost: Ansonsten muss man fragen, von wie vielen Fahrern sprechen wir da überhaupt? Das sind zwei oder drei, die viel mehr Geld verdienen. Der Rest ist unter einem Cap von 30 Millionen. Für uns ist das sowieso kein Thema. Bei der Scuderia Alpha Tauri würde man nie so viel Geld verdienen.
Aber, was man nicht vergessen darf: So ein Fahrer macht schon einen Unterschied. Da muss ich mir als Teamchef die Frage stellen: Hole ich mir jetzt so einen Fahrer, dem ich 15 Millionen zahle oder stecke ich das Geld in die Entwicklung. Wenn du einen Fahrer hast, der eine halbe Sekunde schneller ist, hast du vom Potenzial her einen ganz anderen Stellenwert erreicht, als dass über die Technik weiterzuentwickeln. Weil da hast du 15 Millionen gleich einmal ausgegeben. Das ist eigentlich das Hauptargument.
Ich würde das Fahrergehalt mit ins Budget-Cap nehmen. Weil ich nur dann eine Gewährleistung habe, das ein Gleichgewicht entsteht. Wenn es außerhalb ist, muss das Team ja nur das Geld auftreiben. In Anführungszeichen. Sonst bleibt ja alles gleich.
Das klingt eher so, dass Sie denken, es kommt nie, wenn es so schwer zu kontrollieren ist.
Tost: Das wird man sehen. Ich gehe nur von meinem Wissenstand aus. Es gibt ja Finanzfachleute, die diese Themen kennen. In Amerika ist es ja möglich. Wieso bei uns also nicht? Nur, richtig kontrollieren kann man es nur, wenn man den Einkommensnachweis am Jahresende sieht. Der muss vorgezeigt werden. In Ländern, die keine Besteuerung haben, gibt es so etwas nicht. Das muss dann auf einer freiwilligen Basis passieren. Es betrifft ja genau die Fahrer, die gerade dort wohnen. Die werden das nicht machen. Aber man kann es eventuell ja mit dem Reglement festschreiben. Es gibt Gespräche mit der FIA und den Finanzfachleuten. Da muss man einfach warten, was herauskommt.