Mille Miglia: Augen zu im Straßenverkehr!
Es ist die wohl berühmteste Oldtimer-Rallye der Welt: Bei der Mille Miglia quer durch Italien geht es zwar nicht mehr wie einst um Geschwindigkeit, aber dennoch fahren die Teilnehmer auf Teufel komm raus. Sie haben Glück, dass die Carabinieri gleich beide Augen zudrücken. Einer der Glückspilze war unser Redakteur Wolfgang Wieland.
Wir schreiben das Jahr 1940. In der Münchener BMW-Zentrale werden unter Hochdruck und größter Geheimhaltung fünf Autos vom Typ 328 für die legendäre Mille Miglia vorbereitet, der prestigeträchtigen Höchstgeschwindigkeitsrallye von Brescia in der Lombardei in die italienische Hauptstadt Rom und zurück. Das einzige Ziel: Vor den starken Alfa Romeo 8C, vor Mercedes SSK, vor Bugatti 4,5 l Blower und vor den aus Brescia stammenden OM Superba die schwarz-weiß karierte Flagge zu sehen.
Sehen Sie hier einen Beitrag über die Mille Miglia von 2011 auf MyVideo
Nach 1.600 Kilometern in knapp acht Stunden und 55 Minuten war es soweit: Der nicht minder legendäre Fritz Huschke von Hanstein gewann mit seinem Co-Piloten Walter Bäumer die Mille Miglia. Die geradezu wahnsinnige Durchschnittsgeschwindigkeit lag bei 166,7 km/h. Anno 1940! Dazu fuhren die Münchner auch noch den Mannschaftssieg sowie die Platze 3, 5 und 6 ein. Und die BMW 328 wurden unsterblich.
Wir machen einen Sprung ins Jahr 2015. Mitte Mai ist Mille-Miglia-Zeit. Allerdings geht's seit 1977 nicht mehr um die Höchstgeschwindigkeit, sondern um die bei Oldtimer-Rallyes übliche Gleichmäßigkeit. Aus ein paar Stunden wurden so vier Tage in 84 Wertungs- und Gleichmäßigkeitsprüfungen werden Hundertstelsekunden Abweichung addiert. Und dennoch scheint während der Mille Miglia die italienische Straßenverkehrsordnung komplett außer Kraft gesetzt worden zu sein. Da zeigt der Tachometer auch innerorts gern mal 120 km/h an, rote Ampeln werden grundsätzlich ignoriert, der Querverkehr zu Vollbremsungen genötigt, Kreisverkehre bei Staus gerne links statt rechtsrum befahren. Und auf der Landstraße befindet man sich mit Höchstgeschwindigkeit im Gegenverkehr, teilweise mit Blaulicht-Polizeieskorte, häufiger aber nicht. Die Hupe wird zum besten Freund, und fast alle Alltagsfahrer reagieren prompt mit einem Blitzmanöver nach rechts in Richtung Bordstein, wenn die rasenden Oldtimer hupend und mit aufblendendem Fernlicht vorbeizischen. Wer sich stur zeigt und den Rallyeteilnehmern nicht unverzüglich Platz macht, wird vom begeisterten Publikum gnadenlos ausgebuht und ausgepfiffen. Riskante Überholmanöver werden mit lautem Gejohle, geschwungenen Fähnchen und Applaus belohnt. Der Wahnsinn von anno dazumal lebt.
Vorsicht ist die Mutter beim eine Million teuren Oldie
In diesem Jahr waren sechs 328er aus dem BMW-Museum am Start. Vier klassische Roadster in rot, blau, silber und schwarz, sowie zwei silberne, extra-leichte Superleggera-Einzelstücke namens "Mille Miglia" und "Berlin-Rom". Die "normalen" zweisitzigen BMW 328, die in den Jahren 1935/36 entwickelt wurden, haben einen klassischen Reihensechszylinder mit 1.971 Kubikzentimetern Hubraum und exakt 80 PS. Die Basis des Zweiliter-Triebwerks stammt aus dem viersitzigen Tourenwagen 326, der damals nur 50 PS leistete. Kompliziert war nur die mechanische Lösung, um zwischen den beiden Ventilkammern Platz für die Ansaugwege zu schaffen. Zur Betätigung der Auslassventile wurde ein spezieller Kipphebel in der Ventilkammer der Einlassventile angesteuert, zu jedem Auslassventil gehören dann ein Stößel, zwei Stoßstangen und zwei Kipphebel. In der Einlass-Ventilkammer befinden sich insgesamt zwölf Kipphebel.
Viel spannender sind die Fahreigenschaften des fast 80 Jahre alten Sportwagens. Der leuchtend blaue 328 Roadster aus dem Jahr 1937 hat mittlerweile übrigens einen Wert von rund einer Million Euro. Um den 3,90 Meter langen, 1,55 Meter breiten und 1,40 Meter hohen Oldie-Traum mit dem elfenbeinweißen Startknopf anwerfen zu können, muss man sich erst einmal hinter das riesige Bakelit-Lenkrad zwängen. Dazu werden die relativ kleinen, fensterlosen und hinten angeschlagenen Türen mit einem verchromten Hebel auf der Innenseite geöffnet. Aber bitte gaaanz vooorsichtig, damit die zarten ledernen Halteriemen nicht zu sehr gedehnt werden, oder gar abreißen. Dann setzt man sich rückwärts hineingleitend auf die einfachen Ledersitze. Der frisch überholte Motor springt bereits nach den ersten Umdrehungen an und aus dem einflutigen Endrohr ertönt eine wunderbare Symphonie.
Die vier Vorwärtsgänge lassen sich unter Zuhilfenahme der Einscheiben-Trockenkupplung relativ hakelfrei schalten, wobei es ungemein hilft, dass der dritte und der vierte Gang synchronisiert wurden. Da aber nicht alle 328er-Getriebe die letzten Jahrzehnte so gut überstanden haben, lässt die Classic-Abteilung von BMW zusammen mit dem Automobilzulieferer und Getriebespezialisten ZF aus Friedrichshafen das einst verwendete Hurth-Getriebe originalgetreu reproduzieren. Dabei wird so sauber und sorgsam gearbeitet, dass sogar der internationale Automobildachverband FIA und der Weltverband der Oldtimer-Clubs FIVA ihren Segen zum neuen Schaltwerk geben. Für die zwischen 1936 und 1940 insgesamt 464 gebauten BMW 328 stehen nun 55 neue Original-Getriebe bereit, um den beliebten Klassikern wieder auf die Straße zu verhelfen. Der Kostenpunkt liegt bei übrigens 19.750 Euro zuzüglich Einbau.
Ein Vorschlaghammer für die Radverschlüsse
Der wilde Ritt durch die herrlichen italienischen Regionen hat zum Glück meist sonnigen Beistand, das komplizierte dünne schwarze Stoffdach mit dem verchromten Metallgestänge muss nicht montiert werden. Beim Auftanken mit oktanreichem Super-plus fällt der extreme Durchmesser des Tankstutzens auf. Das oberarmdicke Rohr wird mit einem großflächigen Tankdeckel mit 15 Zentimetern Durchmesser hinten rechts zwischen Reserverad und Kennzeichen verschlossen. Ebenfalls schön oldie-mäßig: Um unter der Motorhaube den Ölstand zu prüfen, müssen zuerst die beiden dicken mittelbraunen Lederriemen mit Gürtelverschluss geöffnet werden. Und immer mit dabei ist ein Ein-Kilogramm-Hammer, zum Öffnen und Schließen der Flügel-Zentralverschlüsse an den blauen Stahlrädern.
Auf den kurvenreichen Straßen merkt man, dass das BMW-Fahrwerk schon damals seiner Zeit voraus war. Kein Ausbrechen stört die Fahrt über zahlreiche Serpentinen. Auch die Vierrad-Flüssigkeits-Fußbremse, sprich die hydraulischen Trommelbremsen mit 280 Millimeter Durchmesser, sind den damals üblichen Seilzugbremsen deutlich überlegen. Bei einem kurzen Abstecher auf die Autobahn erreichen wir relativ schnell die Höchstgeschwindigkeit von 155 km/h. Aber ohne Seitenscheiben handelt es sich bei höheren Geschwindigkeiten um ein eher stürmisches Vergnügen. Und ein BMW-Sieg war diesmal leider nicht drin, aber Platz 53 von 464 gestarteten Fahrzeugen kann sich sehen lassen.