Urlaubsreise im Peugeot 404
Urlrich Bethscheider-Kieser reiste mit einem Peugeot 404 in die Bretagne - und schrieb 1990 in Motor Klassik über seine Erlebnisse. Heraus kam eine der besten Geschichten in 30 Jahren.
Totgeglaubte leben länger. Auch wenn der Körper langsam zerfällt und das nahe Ende ankündigt, bleibt der Geist lebendig. Besonders seltene Fälle strafen die Skeptiker so- gar Lügen, indem sie unerwartet zu einem zweiten Frühling erwachen.
Diese menschliche Eigenschaft machen sich bisweilen auch Autos zu eigen – selbst dann, wenn sie am Ende ihrer Dienstzeit, eingereiht zwischen Gleichen auf einem Schrottplatz abgeschoben, ruhen. Nur das schwache Glimmen eines Hoffnungsschimmers bleibt, wenige Meter vor der Schrottpresse doch noch dem sicheren Ende als quaderförmiges Blechpaket zu entgehen. Einen Aufschub vor dem Ende gibt es kaum, und noch seltener sind die Fälle, in denen ein Klassiker die Chance zu einer Bewährungsprobe bekommt.
Gerettet vor dem Schrottplatz./strong>
Einer, dem dieses Glück wiederfuhr, ist ein unscheinbarer Peugeot 404. Die französische Mittelklasselimousine, von Peugeot 1960 auf den Markt gebracht, rollte 1962 zum ersten Mal über den Asphalt von Straßen. Innerhalb eines Jahres wechselte der weiße 404 gleich zweimal den Besitzer, doch der dritte Eigentümer sollte ihn ein gutes Vierteljahrhundert behalten. Während dieser langen Zeit legte er gerade 100.000 Kilometer zurück. Und als ungesundes Lagerklappern aus dem Vierzylindermotor klang, trennte sich der bislang treue Besitzer von seinem ebenso treuen Wagen – eine Scheidung in aller Deutlichkeit: Über den Peugeot wurde das Todesurteil gesprochen, Endstation Schrottplatz.
Schon auf dem Weg zur Schrottpresse fiel er einem Klassiker-Freund auf, der einen zweiten Frühling ahnte: Zwar nicht mehr im allerbesten Zustand, schien der Peugeot 404 doch viel zu schade, um von riesigen Stahlwänden auf Schuhkartongröße zusammengedrängt zu werden.
Ein anderer Motor und ein paar kleine Schweißarbeiten an den Innenschwellen – mehr war nicht zu tun, um den Peugeot 404 in seinen zweiten Frühling zu schicken. Gut, das Vierteljahrhundert ist nicht spurlos an dem Franzosen vorübergegangen. Regen und Streusalz verwandelten im Laufe der Zeit die hinteren Radläufe in Blätterteig, und lieblos aufgesetzte Bleche verschandelten die halbrunden Formen zu hässlichen Ecken. Auch die vorderen Kotflügel zeugten vom äußerlichen Verfall, doch technisch ließ der 404 durchaus darauf hoffen, für weitere 100.000 Kilometer gut zu sein.
Zweiter Frühling mitten im Sommer
Weil der Peugeot 404 seinen zweiten Frühling mitten im Sommer erlebte, ließ die Bewährungsprobe nicht lange auf sich warten: Sommerzeit ist Urlaubszeit, und was liegt näher, als mit einem französischen Klassiker zu einer Reise nach Frankreich aufzubrechen? Während die Mehrheit der Touristen Richtung Süden ans Mittelmeer strömt, sollte der Peugeot auf direktem Weg gen Westen in den westlichen Zipfel Frankreichs, die Bretagne, rollen und beweisen, dass es für den Weg zum Schrottplatz noch viel zu früh gewesen war.
Oder würde statt des erhofften Frühlings für den Wagen doch der endlose Winter anbrechen, mit endloser Schrauberei und Werkstattsuche mitten in der Bretagne? Und ist es nicht sogar naiv, ruhigen Gewissens einen Werkzeugkasten in ein Auto zu stellen, dessen Ende schon programmiert war?
Vierzylinder mit Ruhe eines Sechszylinders
Dem Skeptiker hilft ein kleiner Trick der Selbstüberlistung, um Zweifel zu beseitigen: Positive Eindrücke über dieses Auto gibt es reichlich, sogar schriftlich festgehalten. So hatten die Redakteure des in Österreich erscheinenden „Kurier“ schon 1968 nach einem Dauertest dem Peugeot-Motor bescheinigt, er sei „ein Prachtexemplar, einzigartig gelungen“. Und „Das Auto, Motor und Sport“ stellte acht Jahre zuvor im ersten Test fest: „Ein Vierzylinder mit der Ruhe eines Sechszylinders.“
Wie Recht die Tester hatten. Gut 25 Jahre später hat der Peugeot nichts von die- sen Qualitäten eingebüßt. Der Bewährungskandidat nimmt, ausgestattet mit neuen Zulassungspapieren, in einer Sommernacht die Reise in den westlichsten Zipfel Frankreichs auf und rollt zügig zur deutsch-französischen Grenze bei Saarbrücken.
Mit der Reise hat jetzt auch das automobile Frühlingserwachen begonnen. Ein Erwachen erlebt überdies mancher Betrachter, dem der heckflossenbestückte Peugeot begegnet. So scheinen etwa bei dem französischen Zöllner Erinnerungen wach zu werden, als der Wagen neben dem Schlagbaum vorfährt. Obwohl niemand die Wagenpapiere kontrollieren will, darf der Peugeot nur mit einer Verzögerung in sein Herkunftsland einreisen: Kommentarlos schleicht der blaugekleidete Zöllner um den äußerlich angeschlagenen Peugeot herum, bleibt schließlich am Heck stehen, begutachtet die kantigen Formen und tätschelt dann anerkennend die linke Heckflosse. Erst jetzt darf der Peugeot weiterfahren.
Erster Tankstopp in Paris
Als hätte es seine eigene Vergangenheit nicht gegeben, zieht der Peugeot 404 auf den französischen Autobahnen gen Westen. Keine störenden Geräusche, kein unwilliges Ruckeln des alten Motors – die weiße Limousine scheint wie neugeboren. In den frühen Morgenstunden ist die Grenze weit zurück, die französische Hauptstadt Paris lässt den Peugeot zum ersten Mal für einen Tankstopp anhalten. Um diese Tageszeit schlafen die meisten Franzosen noch, die Straßen haben nur einen spärlichen Verkehrsfluss zu verdauen.
Im Halbdunkel des Morgengrauens rücken Vergangenheit und Gegenwart zusammen: Vor zwei Jahrzehnten war das Reisen mit einem Peugeot 404 alltäglich. So, wie das weiße Modell heute einsam über die Pariser Stadtautobahn gleitet, haben es seinerzeit Artgenossen zu hunderten getan.
Wie nahe die Vergangenheit doch ist, zeigt sich im Laufe des Tages: Obwohl auf der Autobahn immer mehr Franzosen den vollbepackten Peugeot überholen, niemand regt sich über das antiquierte Verkehrshindernis auf.
Meeresluft lässt nur wenige Peugeot 404 überleben
Nach fast 1.100 Kilometern wird der Horizont dunkelblau. Das kann nicht nur der Himmel, das muss das Meer sein. Der Peugeot 404 hat nach 13 Stunden Fahrt sein Ziel, den Küstenort Camaret-sur-Mar, auf einer Halbinsel südlich von Brest gelegen, erreicht: ohne Werkstattbesuche und Pannen. Wie hatte doch gleich „ Das Auto, Motor und Sport“ im ersten Test des 404 festgestellt: „ Wir können uns in dieser Klasse gegenwärtig keinen handlicheren und angenehmer zu fahrenden Wagen vorstellen, als diesen gutaussehenden Peugeot 404.“
Wie sich die Eindrücke von gestern und heute doch gleichen.
Die einzige Tankstelle in Camaret gleicht einem Trümmerfeld. Ein großes gelbes Schild weist sie als Opel-Werkstatt aus, doch im Halbdunkel der Halle finden sich Autos fast jeden französischen Fabrikats. Zwischen zahllosen zerlegten Motoren taucht der Tankwart aus seinem Ölsumpf hervor. Hier auf dem Land tankt man noch mit Bedienung. Auf die Frage, was er als Opel-Mechaniker denn von dem alten Peugeot halte, wird der Zapfpistolenhalter nachdenklich. „Ja, hier am Meer gibt es leider nicht mehr so viele von diesen guten Autos“, sagt der Franzose, „die Luft ist zu salzhaltig und macht alles kaputt.“ Und mit einem breiten Grinsen gibt er plötzlich unverhofft auf Deutsch zu verstehen, was er von diesem Zustand hält: „Scheiße!“
Die Automatik der Zapfpistole beendet mit einem deutlichen Klicken das Gespräch. Die Erkenntnis des Tankwarts stimmt: Nur noch wenige Peugeot 404 fahren an der bretonischen Küste umher, die Geschwistermodelle 203 und 403 scheinen gänzlich ausgestorben. Die wenigen Klassiker tragen meist auch noch ortsfremde Kennzeichen, kommen aus einer Gegend, wo keine salzhaltige Meeresluft antikes Autoblech attackiert. Und jedes alte Peugeot-Modell enttarnt seinen Besitzer als Liebhaber: Radkappen und Chromleisten sind blankpoliert, das Interieur oft wie neu.
Sitze, so breit wie Fernsehsessel
Da bleiben neidvolle Blicke natürlich nicht aus – besonders bei einem schwarzen Exemplar, aus dem rotes Leder glänzt. Sein Fahrer, Erstbesitzer, beugt jeder Spekulation vor: „Der Wagen ist nicht zu verkaufen! Der läuft und läuft...“ Das trifft auch für den wiedergeborenen 404 aus Deutschland zu: Er läuft und läuft, als hätte es nie einen Schrottplatz gegeben.
Besonders auf den schmalen französischen Landstraßen zeigt der Peugeot 404 immer wieder, wie gut es die Konstrukteure verstanden, Angenehmes mit Schönem zu verbinden: Vor den Augen des Fahrers folgen die runden Wülste der Kotflügel dem Verlauf der Straße, kühlend säuselt der Wind über das geöffnete Schiebedach und wird am Heck säuberlich von den spitzen Flügeln in Scheiben geschnitten.
Die Sonne reflektiert dezent in dem mächtigen weißen Lenkrad, und leise ächzen die Federn der breiten Sitze bei jeder Bodenwelle. Gut, moderne Autofahrer sitzen heute in sportlichen Sitzen mit dicken seitlichen Wülsten, um nicht einmal versehentlich vom Stuhl zu fallen. Aber in dem alten Peugeot 404 sind die Sitze dafür so breit wie Fernsehsessel und so weich wie Großmutters Sofa – kein Zweifel: Für die Franzosen ist Autofahren ein Stück Lebensqualität.
Mit jedem Kilometer in der Bretagne wächst die Gewißheit, dass der Peugeot tatsächlich noch nicht zum alten Eisen gehört. So zuverlässig wie bis jetzt, wird der Peugeot 404 auch den Rückweg bewältigen – weit davon entfernt, auf Schuhkartongröße zusammengepreßt zu werden, sein Dasein auszuhauchen.